Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 16.12.2015, Az.: 3 U 13/15
Wirksamkeit der Übertragung der Räum- und Streupflicht für einen die Zufahrt zum Gelände eines Krankenhauses kreuzenden Gehweg
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 16.12.2015
- Aktenzeichen
- 3 U 13/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 37429
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2015:1216.3U13.15.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 16.12.2014 - AZ: 7 O 119/14
Rechtsgrundlagen
- GG Art. 34
- BGB § 839 Abs. 1 S. 1
- StrG ND § 20 Abs. 1
- StrG ND § 52 Abs. 1 S. 1
- StrG ND § 52 Abs. 4 S. 1
Fundstellen
- NJW-RR 2016, 223-224
- NZM 2016, 184
- NZV 2016, 528-529
- NZV 2016, 4
- NdsVBl 2016, 7
Amtlicher Leitsatz
Die Übertragung der Räum- und Streupflicht für einen Gehweg durch gemeindliche Satzung gilt auch dort, wo der Gehweg durch die Zufahrt zu dem Gelände eines Krankenhaus überquert wird (Gehwegüberfahrt).
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 16.12.2014 abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Anschlussberufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 16.12.2014 wird zurückgewiesen.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 6.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin macht gegen die Beklagte aus dem Gesichtspunkt der Amtspflichtverletzung einen Schmerzensgeldanspruch nach einem Glatteisunfall geltend.
Die Klägerin kam als Fußgängerin am 14.1.2013 gegen 13:35 Uhr auf dem Weg zur Arbeit auf der K. Straße vor dem Gelände ihrer Arbeitgeberin, der Klinikum S. GmbH, zu Fall. Dabei ist zwischen den Parteien streitig, ob sich dieser Sturz in der nördlichen Zufahrt zum Klinikgelände oder an anderer Stelle auf dem Gehweg vor dem Klinikgelände ereignete.
Die Klägerin behauptet, sie sei beim Überqueren der Zufahrt am Ende der dort angelegten und ampelgesicherten Fußgängerfurt auf schneebedecktem Glatteis ausgerutscht und gestürzt. Sie ist der Ansicht, für diesen Straßenbereich sei die Beklagte räum- und streupflichtig, die wegen eines Verstoßes gegen diese Pflicht zur Zahlung eines Schmerzensgeldes für die von der Klägerin behaupteten unfallbedingten Verletzungsfolgen verpflichtet sei.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 6.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen und sie von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 546,69 € freizustellen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte vertritt die Ansicht, sie treffe für die von der Klägerin behauptete Unfallstelle keine Verkehrssicherungspflicht, da sie in ihrer Straßenreinigungssatzung die Räum- und Streupflicht für die Gehwege an der K. Straße auf die Anlieger der angrenzenden Grundstücke übertragen habe und dies auch für die besagte Zufahrt zum Klinikum gelte, die nach Behauptung der Beklagten zum Unfallzeitpunkt nicht mehr als solche genutzt worden sei. Sie hat außerdem gemeint, einer etwaigen Räum- und Streupflicht dadurch Genüge getan zu haben, dass am frühen Morgen des Unfalltags ein Streufahrzeug der städtischen Reinigungsbetriebe auch diesen Bereich abgestreut habe, was angesichts der untergeordneten Verkehrsbedeutung des Fußgängerüberwegs ausreiche. Schließlich hat sich die Beklagte auf ein überwiegendes, ihre Haftung ausschließendes Mitverschulden der Klägerin berufen.
Wegen des weitergehenden erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Klage in dem angefochtenen Grundurteil unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens der Klägerin für gerechtfertigt gehalten. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, das Sturzereignis stehe nach dem Ergebnis der Anhörung der Klägerin, ihrem anschließenden Verhalten und der ergänzenden Angaben der Zeugin S. zur Glätte am beschriebenen Unfallort mit lebenspraktischer Gewissheit fest. Die Beklagte habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Sie sei für die Situation mit der mit Ampeln gesicherten Fußgängerüberquerung der öffentlichen Straße, die zum Gelände des Klinikums führe, verantwortlich. Die Übertragung der Räum- und Streupflicht auf die Anlieger erfasse diesen Straßenbereich nicht. Trotz ihrer Räumungspflicht habe die Beklagte konkret gar nichts getan. Sie treffe bereits ein Organisationsfehler, da der Streuplan es versäume, den Einsatz einer Kolonne vorzusehen, die von Hand die Überquerung der Straße abstreue. Die Verkehrswichtigkeit und Gefährlichkeit der Unfallstelle habe die Beklagte bereits mit der Ampelanlage bejaht. Dass die Zufahrt zum Klinikum weiterhin als solche genutzt worden sei, ergebe sich aus der Aussage der vernommenen Zeugin. Die Klägerin treffe ein Mitverschulden, da ihr die Wegstrecke und die Wetterlage bekannt gewesen seien, so dass sie sich mit besonderer Vorsicht und Umsicht hätte bewegen müssen; hätte sie sich so verhalten, wäre sie nicht gestürzt, wie schon daraus folge, dass ansonsten mehrere Sturzopfer für denselben Zeitraum an derselben Stelle zu beklagen gewesen wären, wozu jedoch nichts berichtet sei.
Gegen das der Beklagten am 29.12.2014 zugestellte Urteil hat sie mit einem am 22.1.2015 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist um einen Monat mit einem am Montag, den 30.3.2015, eingegangenen Schriftsatz begründet.
Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung mit der Begründung, es sei bereits nicht bewiesen, dass die Klägerin auf der "Fußgängerfurt" gestürzt sei. Zeugen habe die Klägerin hierfür nicht benennen können. Aus der Anhörung allein könne sich der Beweis nicht ergeben, zumal das Landgericht unberücksichtigt gelassen habe, dass die Klägerin selbst angegeben habe, auf einer vollkommen geschlossenen Schneedecke gelaufen zu sein. Dies lasse eine glaubhafte Differenzierung zwischen Gehweg und Fußgängerfurt nicht zu.
Das Landgericht gehe darüber hinaus rechtsirrig von einer Verkehrssicherungspflicht der Beklagten aus. Die Beklagte habe die Reinigungspflicht für die Gehwege wirksam auf die Anlieger übertragen. Es handele sich bei dem in Rede stehenden Straßenbereich um die Grundstücksausfahrt zum Privatgelände der Klinikum S. GmbH, was die Eigenschaft dieses Abschnitts als Gehweg nicht berühre. Dies ändere sich auch nicht durch das Aufstellen einer Lichtzeichenanlage.
Im Übrigen gehe das Landgericht unzutreffend davon aus, dass die Beklagte einer etwa bestehenden Verkehrssicherungspflicht nicht ausreichend nachgekommen sei. Dass der Streuwagen mit einer Streubreite von 7 Meter das Streusalz auch auf die Fußgängerfurt ausgebracht habe, sei unstreitig geblieben. Weshalb das Landgericht vom Gegenteil ausgegangen sei und darüber hinaus auch nicht den Beweisangeboten der Beklagten nachgegangen sei, erschließe sich nicht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 16.12.2014 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und,
im Wege der Anschlussberufung,
das Grundurteil des Landgerichts Braunschweig abzuändern und festzustellen, dass die Klage dem Grunde nach ohne Berücksichtigung einer Mithaftung gerechtfertigt ist.
Die Klägerin verteidigt das landgerichtliche Urteil, soweit eine Verurteilung dem Grunde nach zu 50 % erfolgt ist.
Mit ihrer mit der Berufungserwiderung erhobenen Anschlussberufung wendet sie sich gegen das vom Landgericht angenommene Mitverschulden von 50 %: Das Landgericht habe fehlerhaft allein aus der Tatsache, dass die Klägerin gestürzt sei, geschlossen, dass sie unvorsichtig gewesen sei. Der Unfall beruhe nicht auf dem Verhalten der Klägerin, sondern auf der Verletzung der Verkehrssicherheitspflicht. Aufgrund der Schneedecke habe die Klägerin die Eisfläche nicht erkennen können.
Die Beklagte beantragt,
die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf die zwischen den Parteien im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Die Klägerin hat der Klinikum S. GmbH mit Schriftsatz vom 2.12.2014 (Bl. 36 d. A.) den Streit verkündet. Die Streitverkündete hat mit Schriftsatz vom 21.10.2014 (Bl. 41 d. A.) erklärt, sie trete dem Rechtsstreit bei; eine weitere Erklärung, insbesondere auf welcher Seite der Beitritt erfolge, bleibe vorbehalten. Auf die Anfrage des Senats (Verfügung vom 18.5.2015, Bl. 102 d. A.), ob die Streitverkündete auf Seiten einer Partei beigetreten sei, hat die Streitverkündete mit Schriftsatz vom 11.5.2015 (Bl. 104 d. A.) mitgeteilt, sie habe eine Erklärung, auf welcher Seite der Beitritt erfolge, noch nicht abgegeben.
II.
Die gemäß 511 Abs. 1 und 2, §§ 517, 519, 520 ZPO zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Landgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Beklagte an der von der Klägerin bezeichneten Unfallstelle für die Beseitigung von Schnee- und Eisglätte verantwortlich ist.
Voraussetzung für den von der Klägerin geltend gemachten Amtshaftungsanspruch nach Art. 34 GG, § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB ist ein Verstoß gegen die nach niedersächsischem Straßenrecht für innerörtliche Straßen die Gemeinden treffende Reinigungspflicht. Nach § 52 Abs. 1 Satz 3 Buchst. b) und c) des Niedersächsischen Straßengesetzes (NStrG) gehört zur Reinigung der Straßen auch die Schneeräumung auf den Fahrbahnen und Gehwegen und bei Glätte das Bestreuen der Gehwege, Fußgängerüberwege und der gefährlichen Fahrbahnstellen mit nicht unbedeutendem Verkehr. Die Gemeinden können diese Reinigungspflichten ganz oder zum Teil den Eigentümern der anliegenden Grundstücke auferlegen (§ 52 Abs. 4 Satz 1 NStrG). Hiervon hat die Beklagte hinsichtlich der Reinigung der Gehwege in § 5 Abs. 1 ihrer Straßenreinigungssatzung Gebrauch gemacht. Ausgenommen von dieser Übertragung sind lediglich die in einem Gehwegverzeichnis (Anlage 3 zur Satzung) aufgeführten Gehwege, zu denen die K. Straße nicht gehört.
Bei dem Straßenstück der K. Straße, auf dem die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen gestürzt ist, handelt es sich um einen Gehweg im Sinne des Straßenrechts. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 der Straßenreinigungssatzung der Stadt S. sind Gehwege im Sinne der Satzung a) alle selbstständigen Gehwege, b) die gemeinsamen Fuß-und Radwege und c) alle erkennbar abgesetzt für die Benutzung durch Fußgänger vorgesehenen Straßenteile. Wie die von den Parteien erstinstanzlich eingereichten Luftbildaufnahmen zeigen (Anlage 1 und 2 zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20.10.2014, Bl. 46,47 d. A.), verfügt die K. Straße über einen durchgehenden Gehweg, der durch einen Grün-und Parkstreifen von den Fahrbahnen getrennt ist. Es handelt sich somit um einen Gehweg im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 1 Buchst. c) der Straßenreinigungssatzung. Dieser Gehweg zieht sich auch an dem Grundstück der Streitverkündeten entlang. Seine Eigenschaft als Gehweg verliert dieses Stück der öffentlichen Straße (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1, § 3 Abs. 2 NStrG) auch nicht im Bereich der nördlichen Zufahrt zum Klinikum.
Nach § 20 Abs. 1 NStrG ist eine Zufahrt die für die Benutzung mit Fahrzeugen bestimmte Verbindung von Grundstücken oder von nichtöffentlichen Wegen mit einer Straße. Dabei endet eine Zufahrt nicht an der Grenze des Anliegergrundstücks zum öffentlichen Straßengrund, sondern wird da, wo sie auf einen Gehweg trifft, zur Gehwegüberfahrt. Sie endet demnach nicht am Gehweg, sondern führt notwendig über diesen Teil des Straßenkörpers hinweg bis auf die Fahrbahn (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Mai 3006 - 12 LA 150/05 -, Rn. 4 nach juris; VG Braunschweig, Urteil vom 10.3.2005 - 6A 162/04, - Rn. 18 ff. nach juris). Dementsprechend verliert ein Gehweg seine Eigenschaft nicht dort, wo er von einer Zufahrt überquert wird (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 11.12.2006 - 6 W 62/06 -, Rn. 4 nach juris).
Im vorliegenden Fall ist die Zufahrt zum Klinikgelände zwar in baulicher Hinsicht so gestaltet, dass sie ohne Bordsteinversatz mit durchgehender Asphaltierung von der Privatstraße des Klinikgeländes auf die Fahrbahn der K. Straße mündet und der Gehweg mit einer Lichtzeichenanlage für Fußgänger und markierter Fußgängerfurt ausgestattet ist. Damit wird aber die über den Gehweg führende Zufahrt nicht zu einer von der Beklagten zu reinigenden Fahrbahn der K. Straße. Es handelt sich vielmehr um eine bauliche Ausgestaltung der Verbindung des Klinikgeländes mit der K. Straße, die den tatsächlichen Gegebenheiten geschuldet ist, nämlich einer zumindest früher bestehenden verstärkten Nutzung der Zufahrt durch Mitarbeiter und Besucher des Klinikums (vgl. OVG Lüneburg, aaO., Rn. 4 nach juris).
Die Straßenreinigungspflicht einschließlich der Räum- und Streupflicht trifft somit an der von der Klägerin behaupteten Unfallstelle nicht die Beklagte, sondern die Streitverkündete als Eigentümerin des anliegenden Grundstücks. Dies entspricht im Übrigen auch der die Streitverkündete treffende Unterhaltungspflicht für die Zufahrten zu ihrem Grundstück (§ 18 Abs. 4 Satz 1, § 20 Abs. 4 NStrG; vgl. Wendrich, NStrG, 4. Aufl., § 18 Rn. 6; § 20 Rz. 5).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Dabei war eine Entscheidung über die Kosten der Streitverkündeten nicht veranlasst, da sie dem Rechtsstreit nicht beigetreten ist und somit nicht die Stellung einer Nebenintervenientin erlangt hat. Ein Beitritt im Sinne der Vorschriften zur Nebenintervention liegt schon begrifflich nur dann vor, wenn er auf Seiten einer der Parteien erfolgt (vgl. § 66 Abs. 1 ZPO). Er muss daher die Parteiseite, auf der der Beitritt erfolgt, eindeutig erkennen lassen (Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Aufl., § 70 Rn. 2). Die Streitverkündete hat demgegenüber bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ausdrücklich offen gelassen, welcher Partei sie beitreten wolle.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO.
Der Streitwert ist gemäß §§ 47,48 GKG in Verbindung mit § 3 ZPO auf die Höhe des von der Klägerin geltend gemachten Schmerzensgeldes festgesetzt worden.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und weder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 1 S. 1 ZPO).