Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 30.09.1999, Az.: 1 VAs 11/99

Verlegung; Jugendstrafvollzug; Strafgefangener; Jugendlicher; Sozialtherapeutische Anstalt; Abschiebung; Ermessen; Behandlungserfolg

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
30.09.1999
Aktenzeichen
1 VAs 11/99
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1999, 14690
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1999:0930.1VAS11.99.0A

Fundstelle

  • NStZ 2000, 167-168 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt

Bis zur gesetzlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs ist für eine Verlegung von Gefangenen in eine sozialtherapeutische Anstalt § 9 StVollzG entsprechend anwendbar. Die Vollzugsbehörde kann bei ihrer Ermessensentscheidung neben Sicherheitsbedenken auch berücksichtigen, dass der von Abschiebung bedrohte Gefangene mit den besonderen therapeutischen Mitteln und sozialen Hilfen ihrer sozialtherapeutischen Anstalt nicht behandelbar ist.

Tenor:

Der Antrag wird auf Kosten des Antragstellers verworfen.

Der Geschäftswert wird auf 1. 000 DM festgesetzt.

Tatbestand:

1

Der Antragsteller verbüßt zur Zeit wegen Mordes in der Jugendanstalt Hameln eine 9-jährige Jugendstrafe. Das Strafende wird im Juni 2005 erreicht sein.

2

Mit Schreiben vom 9. Juli 1999 beantragte sein Verfahrensbevollmächtigter die Aufnahme des Antragstellers in die sozialtherapeutische Abteilung der Jugendanstalt Hameln, das . . . . Der Antrag wurde durch den angefochtenen Bescheid mit der Begründung abgelehnt, dass die Aufnahmekommission des . . . am 9. März 1999 eine Aufnahme abgelehnt habe. Eine Behandlung in der Sozialtherapie setze voraus, dass in absehbarer Zeit Vollzugslockerungen gewährt werden könnten. Die Eignung sei bei dem Antragsteller auf absehbare Zeit nicht gegeben. Es sei damit zu rechnen, dass der Antragsteller nach Verbüßung der Jugendstrafe in die Türkei abgeschoben werde. Ziel der Sozialtherapie sei die Wiedereingliederung in das Leben in Deutschland. Methoden zur Wiedereingliederung in andere Länder seien derzeit weder entwickelt noch erprobt.

3

Dagegen wendet sich der Antragsteller mit dem form- und fristgerecht (§ 26 Abs. 1 EGGVG) gestellten Antrag. Er macht geltend, dass ihn die Versagung der sozialtherapeutischen Betreuung in seinen Rechten auf eine § 91 Abs. 1 JGG entsprechende Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs verletze. Die Antragsgegnerin habe ihre Ermessensentscheidung rechtsfehlerhaft getroffen, indem sie sich nicht mit dem eingereichten Sachverständigengutachten von Professor . . . auseinandergesetzt habe, das eine sozialtherapeutische Betreuung des Antragstellers dringend empfehle. Da ein anderer Verurteilter, dem auch die Abschiebung gedroht habe, in das . . . aufgenommen worden sei, stelle die drohende Abschiebung keinen Versagungsgrund dar. Insofern liege eine sachfremde Ungleichbehandlung vor, wenn dem Antragsteller die Aufnahme mit dieser Begründung verweigert werde. Das Fehlen von Methoden zur Wiedereingliederung in andere Länder sei ebenfalls kein entscheidender Gesichtspunkt. Die sozialtherapeutische Abteilung habe nicht die Aufgabe, Strafgefangene auf die kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten von bestimmten Ländern vorzubereiten, sondern die Persönlichkeit soweit zu festigen, dass man mit besonderen Umständen im Leben umgehen könne. Schließlich dürften Vollzugslockerungen nicht pauschal wegen einer drohenden Abschiebung ausgeschlossen werden.

4

Die Antragsgegnerin hat zur Begründung ihrer Entscheidung ergänzend vorgetragen, dass die Behandlung in der Sozialtherapie nach maximal 2 bis 3-jähriger Behandlungszeit abgeschlossen sein sollte. Es sei nicht zu erwarten, dass dem wegen Mordes verurteilten Antragsteller in diesem Zeitraum umfassende Vollzugslockerungen, die aber ein wesentlicher Bestandteil der Therapie seien, gewährt werden könnten, weil mit einer Abschiebung zur Halbstrafe bzw. zum 2/3-Termin zu rechnen sei. In der Behandlung würden neben Einzelgesprächen vielfältige gruppentherapeutische Maßnahmen verpflichtend eingesetzt. Dabei dürfte sich eine Aufarbeitung der Tat auch im Rahmen von Gruppengesprächen bei dem Antragsteller, der von seinen Verteidigern eher als Opfer denn als Täter beschrieben werde, kontraproduktiv auswirken. Erfahrungsgemäß seien von Abschiebung bedrohte Insassen in der Regel in einer auf Integration ausgerichteten Sozialtherapie kaum behandelbar, weil "die Frage der Abschiebung emotional immer im Mittelpunkt" stehe und den Rahmen der sozialtherapeutischen Einflussnahme bei weitem sprenge. Die Aufnahme des ebenfalls von einer Abschiebung bedrohten anderen Insassen sei wegen einer akuten Suizidgefährdung bis zur Inanspruchnahme der entstehenden Abteilung für psychisch Auffällige erfolgt. Im übrigen sei die Entwicklung des Antragsteller aufgrund der ihm in der Jugendanstalt Hameln bisher angebotenen und eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen, die im Einzelnen dargelegt werden, erfreulich.

Entscheidungsgründe

5

Der Antrag ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

6

Für die Gestaltung des Jugendstrafvollzugs gibt es noch keine gesetzlichen Regelungen entsprechend dem Strafvollzugsgesetz für den Erwachsenenstrafvollzug. Bis zum Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes regeln die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJug) die Einzelheiten des Jugendstrafvollzugs. In den VVJug, die eine rechtlich nicht zu beanstandende Grundlage für die Gestaltung des Jugendstrafvollzugs darstellen (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Juli 1997 - 1 VAs 5/97 -), ist die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt als spezielle Vollzugsmaßnahme jedoch nicht geregelt. Durch die Bestimmungen der VVJug werden weitgehend Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes in entsprechende Anwendung gebracht. Darüber hinaus können auch weitere Regelungen dieses Gesetzes entsprechend angewandt werden, soweit dem nicht die besonderen Erfordernisse des Jugendstrafvollzugs entgegenstehen (vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 7. Aufl. , § 1 Rn. 8; AK-Feest, StVollzG, 3. Aufl. , § 1 Rn. 8; Eisenberg, JGG, 5. Aufl. , § 91 Rn. 12). Dies darf jedoch nur geschehen, wenn es mit dem erzieherischen Auftrag des § 91 Abs. 1 JGG vereinbar ist, den Verurteilten zu einem künftigen rechtschaffenen und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen. Insoweit kann die Regelung des § 9 Abs. 2 StVollzG, die die Verlegung von Gefangenen, die nicht zu den in Abs. 1 genannten Sexualstraftätern gehören, in eine sozialtherapeutische Anstalt in das Ermessen der Vollzugsanstalt stellt, entsprechend angewandt werden. Gemäß § 9 Abs. 2 S. 2 StVollzG ist zu der Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt die Zustimmung ihres Leiters erforderlich. Mit dieser Bestimmung soll sichergestellt werden, dass die Fachkunde des Leiters der Sozialtherapie, der darüber hinaus die notwendigen organisatorischen Möglichkeiten kennt, die Aufnahmeentscheidungen mit bestimmt (vgl. Calliess/Müller-Dietz, a. a. O. , Rn. 12 zu § 9; Schwind/Böhm-Rotthaus, StVollzG, 3. Aufl. , Rn. 14 zu § 9). Dieser Gesichtspunkt gilt auch für den Jugendstrafvollzug.

7

Danach ist die Entscheidung der Jugendanstalt nicht zu beanstanden.

8

In dem angefochtenen Bescheid hat die Antragsgegnerin zwar nicht ausdrücklich zur Frage der Behandlungsbedürftigkeit des Antragstellers mit den besonderen therapeutischen Mitteln und sozialen Hilfen des . . . Stellung genommen. Diese hat sie aber in der zulässigerweise ergänzten Begründung (vgl. KK-Kissel, EGGVG, 4. Aufl. , Rn. 8 zu § 28; LR-Böttcher, StPO, 24. Aufl. , Rn. 21 zu § 28 EGGVG) nunmehr verneint, indem sie die "erfreuliche Entwicklung" des Antragstellers bereits aufgrund der ihm im allgemeinen Vollzug angebotenen Behandlungsmaßnahmen feststellt. Entgegen der von dem Verfahrensbevollmächtigten vertretenen Ansicht ergibt sich das Erfordernis einer sozialtherapeutischen Betreuung des Antragstellers auch nicht aus dem vorgelegten Gutachten. Das von den Verteidigern für ein Wiederaufnahmeverfahren in Auftrag gegebene Gutachten des Professors . . . vom 20. Januar 1998, das sich lediglich auf die vom Landgericht zur Verfügung gestellten Akten stützt, hat nämlich nur die Prüfung zum Gegenstand, ob bei der Straftat die Voraussetzungen der §§ 21 StGB und 3 JGG vorgelegen haben.

9

Letztlich kann die Frage, ob bei dem Antragsteller eine Therapiebedürftigkeit gegeben ist, aber offenbleiben, so dass es auch nicht darauf ankommt, ob das Vorliegen der Indikation als unbestimmter Rechtsbegriff gerichtlich uneingeschränkt nachprüfbar oder der Vollzugsbehörde ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist (offen gelassen vom OLG Celle im Beschl. d. 3. Senats NStZ 1984, 142). Denn auf die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt besteht auch bei Vorliegen der Therapiebedürftigkeit kein Rechtsanspruch, sondern lediglich ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 1998 - 1 Ws 72/98 (StrVollz) -; Calliess/Müller-Dietz, a. a. O. , § 9 Rn. 5). Die Entscheidung, ob aus erzieherischen Gründen eine Aufnahme des Antragstellers in das . . . angebracht ist, steht im Ermessen der Jugendanstalt, das vom Senat nur im Rahmen des § 28 Abs. 3 EGGVGüberprüft und nicht durch eigene Ermessenserwägungen ersetzt werden kann. Der Senat kann daher nur prüfen, ob die Verwaltungsbehörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens eingehalten hat und von dem Ermessen in einer dem gesetzlichen Zweck entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, die Behörde sich also bei ihrer Entscheidung nicht von Gesichtspunkten hat leiten lassen, die nach dem Sinn und Zweck der anzuwendenden Rechtsvorschriften keine Rolle spielen dürfen (vgl. KK-Kissel, a. a. O. , Rn. 3 zu § 28; LR-Böttcher, a. a. O. , Rn. 18 zu § 28 EGGVG).

10

Das Gleiche gilt für die Zustimmung des Leiters der sozialtherapeutischen Anstalt. Dieser hat das Vorliegen der Aufnahmevoraussetzungen ebenfalls nach pflichtmäßigem Ermessen zu prüfen und demgemäß zu entscheiden (vgl. Schwind/Böhm-Rotthaus, a. a. O. , Rn. 14 zu § 9). Leiter der Anstalt kann insoweit auch ein kollegiales Leitungsorgan sein, wenn dieses für die Aufnahmeentscheidung zuständig ist (vgl. OLG Celle NStZ 1984, 142). Vorliegend hat die Aufnahmekommission des RSH am 9. März 1999 eine Aufnahme des Antragstellers abgelehnt. Der Senat vermag bei den Erwägungen, von denen sie sich bei der Ausübung ihres Ermessens leiten ließ, keinen Ermessensfehlgebrauch zu erkennen. So ist nicht zu beanstanden, dass die Aufnahmekommission ihrer Entscheidung in erster Linie Sicherheitsbedenken zugrunde gelegt hat. Da umfassende Vollzugslockerungen ein wesentlicher Bestandteil der Sozialtherapie sind, durfte sie entscheidend darauf abstellen, dass insoweit eine Eignung des Antragstellers nach ihrer Einschätzung auf absehbare Zeit nicht gegeben ist. Entgegen der Ansicht des Antragstellers wird dies nicht pauschal mit der drohenden Abschiebung begründet, sondern es wird dabei auch auf den Umstand abgestellt, dass der Antragsteller wegen Mordes verurteilt worden ist. Nach Nr. 6 Abs. 8 Buchst. a VVJug ist dies ein Grund für die Versagung von Vollzugslockerungen, auch wenn nach Abs. 9 dieser Vorschrift mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde Ausnahmen zulässig sind.

11

Des weiteren war es der Kommission nicht verwehrt, im Hinblick auf eine mögliche Abschiebung des Antragstellers zu berücksichtigen, dass in der Sozialtherapie derzeit Methoden zur Wiedereingliederung in andere Länder weder entwickelt noch erprobt seien, und dass bei von Abschiebung bedrohten Insassen dieser Umstand erfahrungsgemäß "emotional immer im Mittelpunkt" stehe, so dass sie in der Regel in einer auf Integration ausgerichteten Sozialtherapie kaum behandelbar seien. Eine Voraussetzung für die Verlegung ist nämlich auch, dass die für den einzelnen Gefangenen erforderlichen therapeutischen Mittel und Hilfen in der konkreten Anstalt zur Verfügung stehen (vgl. Schwind/ Böhm-Rotthaus, a. a. O. , Rn. 12 zu § 9; Calliess/Müller-Dietz, a. a. O. , Rn. 8 zu § 9). Deshalb stellt es eine zulässige Ermessenserwägung dar, dass die sozialtherapeutische Anstalt sich entsprechend den besonderen Erfahrungen ihrer Fachdienste auf die Behandlung bestimmter Typen abweichenden Verhaltens konzentriert und andere ausspart. Insbesondere dann, wenn die Anstalt klein ist und nicht alle behandlungsbedürftigen und -willigen Strafgefangenen aufnehmen kann, erscheint eine derartige Spezialisierung unbedenklich (so auch OLG Celle NStZ 1984, 142). Davon ist bei dem . . . als einziger sozialtherapeutischer Anstalt des geschlossenen Jugendstrafvollzugs in Niedersachsen mit 30 Behandlungsplätzen auszugehen (vgl. den Erfahrungsbericht zum 10-jährigen Bestehen in ZfStrVo 1991, 277). Insoweit stellt die Versagung aus diesem Grund keine sachfremde und damit unzulässige Ungleichbehandlung dar. Die Antragsgegnerin hat im übrigen die Aufnahme des ebenfalls von einer Abschiebung bedrohten anderen Insassen mit dessen akuter Suizidgefährdung ausreichend erklärt, so dass schon deshalb kein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot gegeben ist.

12

Die Kostenentscheidung folgt aus § 30 Abs. 1 EGGVG i. V. m. § 2 Abs. 1 KostO. Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 30 Abs. 3 EGGVG i. V. m. § 30 Abs. 2 und 3 KostO.