Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 15.12.2021, Az.: 1 Ss 192/21

Regelungsweite eines ausländischen EU-Visums in der Kategorie "D"; Ausländisches Visum als Aufenthaltstitel; Kein Recht zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Deutschland bei ausländischem Visum Kategorie "D"; Unerlaubter Aufenthalt eines Ukrainers bei Ausreisepflicht im Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
15.12.2021
Aktenzeichen
1 Ss 192/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 58570
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2021:1215.1SS192.21.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 18.06.2021 - AZ: 5 Ns 34/21

Amtlicher Leitsatz

Ein zum Zwecke der Erwerbstätigkeit erteiltes Visum der Kategorie "D" eines anderen EU-Mitgliedsstaates stellt einen Aufenthaltstitel i.S.d. Art. 21 Abs.1 SDÜ dar, welcher grundsätzlich unabhängig vom individuell verfolgten Aufenthaltszweck zur Einreise und zum Aufenthalt berechtigt. Im Inland berechtigt das Visum - vorbehaltlich der Regelung in § 30 Nr.2 und Nr.3 BeschVO - jedoch nicht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, so dass durch Aufnahme einer solchen der Straftatbestand des § 95 Abs.1 Nr.2a AufenthG verwirklicht sein kann.

Tenor:

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 5. kleinen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück vom 18. Juni 2021 wird auf seine Kosten mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass der Schuldspruch dahin geändert wird, dass der Angeklagte des unerlaubten Aufenthalts (angewendete Vorschrift insoweit: § 95 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG) schuldig ist.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Osnabrück hatte gegen den Angeklagten mit Urteil vom 19. Februar 2021 wegen "Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz" eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je € 20,- verhängt.

Mit Urteil vom 18. Juni 2021 hat die 5. kleine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück die Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass er der unerlaubten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland schuldig ist.

Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, der mit der näher ausgeführten Sachrüge die Aufhebung des Berufungsurteils begehrt.

II.

In der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte besitzt die ukrainische Staatsangehörigkeit. Er verfügt über ein in Polen ausgestelltes nationales Visum der Kategorie "D", welches ihm unter dem 16. Dezember 2020 für den Zeitraum zwischen dem 28. Dezember 2020 und dem 21. Oktober 2021 zum Zweck der Arbeitsaufnahme in Polen erteilt und in seinem biometrischen ukrainischen Reisepass vermerkt wurde. Daneben verfügte und verfügt der Angeklagte über keine weiteren Aufenthaltstitel, etwa über ein D-Visum der Bundesrepublik Deutschland oder ein sog. Vander Elst-Visum.

Seit Anfang 2021 steht der Angeklagte zu einem polnischen Betrieb, welcher u.a. als Subunternehmen für die Firma BB GmbH & Co. KG in Ort1 tätig ist, in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis. Um für die Firma BB GmbH & Co. KG auf einer Baustelle in Ort2 Dacharbeiten auszuführen, reiste der Angeklagte als Mitarbeiter dieses polnischen Unternehmens mit dem D-Visum am TT. MM 2021 in das Bundesgebiet ein. Entsprechend seinem vorgefassten Aufenthaltszweck war der Angeklagte am Folgetag, dem TT. MM 2021, auf dem dortigen Bauvorhaben (...) als Dachdecker tätig. Noch am selben Tag wurde er anlässlich einer Zollkontrolle aufgegriffen.

Der polnische Arbeitgeber hatte dem Angeklagten zuvor lediglich pauschal mitgeteilt, dass dieser im Bundesgebiet für die Dauer von bis zu drei Monaten arbeiten dürfe. Da der Angeklagte indes Kenntnis von den maßgeblichen Tatsachen hatte, insbesondere wusste, nicht über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Republik Polen zu verfügen, nahm er die Unrichtigkeit der vorstehenden Auskunft seines Arbeitgebers zumindest billigend in Kauf.

Einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für das Inland, insbesondere eines Vander Elst-Visums, hat der Angeklagte erst nach seiner Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland bei der deutschen Botschaft in Warschau gestellt.

III.

Die Revision führt auf die Sachrüge lediglich zur Änderung des Schuldspruchs. Aus den zutreffenden Gründen der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft kann die Verurteilung des Angeklagten wegen unerlaubter Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zwar keinen Bestand haben (dazu 1.). Doch tragen die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den Schuldspruch wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG (dazu 2.). Insoweit kann auch der Strafausspruch bestehen bleiben (dazu 3.), so dass sich die Revision im Ergebnis als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO erweist.

1.

Bei der Prüfung, ob eine unerlaubte Einreise oder ein unerlaubter Aufenthalt nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3, § 96 Abs. 1 AufenthG vorliegt, ist bei einem von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellten Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 21 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens [im Folgenden: "SDÜ"] - vorbehaltlich der Regelung in § 95 Abs. 6 AufenthG - allein auf das objektive Kriterium eines gültigen Aufenthaltstitels abzustellen; auf den individuell verfolgten Aufenthaltszweck kommt es nicht an (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 StR 289/20, juris Rn. 43 ff.; Weiterführung von BGH, Urteil vom 27. April 2005 - 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105). Insoweit macht sich zunächst nur derjenige Drittausländer nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 bzw. 3 AufenthG strafbar, der den nationalen ausländischen Aufenthaltstitel im Sinne des § 95 Abs. 6 AufenthG durch Drohung, Bestechung oder Kollusion erwirkt oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichen hat und in das Bundesgebiet einreist bzw. sich in diesem aufhält. Das Zusammenspiel von § 95 Abs. 1a und Abs. 6 AufenthG sowie § 17 Abs. 1 AufenthV verdeutlicht zudem, dass der Gesetzgeber eine bewusste Entscheidung getroffen hat, die hier in Rede stehenden Fälle nicht unter Strafe zu stellen, sofern keine Erwerbstätigkeit aufgenommen, die Gültigkeitsdauer des ausländischen Aufenthaltstitels nicht überschritten oder der Aufenthalt über die gestatteten 90 Tage hinaus ausgedehnt wird. (vgl. BGH a.a.O., juris Rn. 60). Mit anderen Worten, ein für Kurzaufenthalte von der Visumspflicht befreiter Drittstaatsangehöriger ("Positivstaatler") und Inhaber eines biometrischen Reisepasses, der zum Zwecke der Arbeitsaufnahme in das Bundesgebiet einreist, reist in dieses nicht unerlaubt i.S.v. § 95Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ein und ist wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet nach § 95Abs. 1 Nr. 2a AufenthG erst nach Aufnahme einer Erwerbstätigkeit strafbar (vgl. BGH, Beschluss vom 24. März 2021 - 3 StR 22/21, NStZ-RR 2021, 190).

Nach diesen Maßstäben ist die Einreise des Angeklagten für sich genommen hier nicht strafbewehrt.

Denn auch nach der zur Tatzeit gültigen Verordnung (EU) Nr. 2018/1806 vom 14. November 2018 [ABl. L 303 vom 28. November 2018, S. 39 ff.; im Folgenden: "VisaVO"] war der Angeklagten, der ukrainischer Staatsangehöriger ist, ein sog. "Positivstaater", der nach Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Anhang II der VisaVO bei einem Kurzaufenthalt von bis zu 90 Tagen von dem Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit war, sofern er - wie hier - Inhaber eines biometrischen Reisepasses ist (vgl. BGH a.a.O.).

Auch die durch das Landgericht festgestellte, bereits bei Einreise bestehende Absicht des Angeklagten, in Deutschland eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar entsteht mit Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch für einen sog. "Positivstaater" nach Art. 6Abs. 3 VisaVO i.V.m. § 17Abs. 1 AufenthVO eine Visumspflicht mit der Folge, dass ab diesem Zeitpunkt bei Fehlen eines solchen der Tatbestand des unerlaubten Aufenthalts gem. § 95Abs. 1 Nr. 2 lit. a AufenthG erfüllt ist. Die Strafbarkeit des Ausländers bei der Einreise und bis zur Aufnahme der Erwerbstätigkeit bemisst sich jedoch - wie Eingangs ausgeführt - ausschließlich nach objektiven Kriterien; auf einen individuell verfolgten Aufenthaltszweck kommt es hierbei nicht an. Aus dem Wortlaut des § 17Abs. 1 AufenthVO ergibt sich nichts Anderes (so aber Gericke, in MüKo-StGB, 3. Aufl., § 95 AufenthG Rn 40). Denn § 17Abs. 1 AufenthVO stellt hinsichtlich der Befreiung von der Visumspflicht nicht darauf ab, ob die einreisende Person bei Betreten des Bundesgebiets die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beabsichtigt, sondern darauf, ob diese eine solche bei Einreise bereits ausübt (vgl. BGH a.a.O.; zustimmend Hohoff, in BeckOK-AusländerR, § 95 AufenthG Rn. 16c unter Hinweis das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Bestimmtheitsgebot).

Da nach den Feststellungen des Landgerichts auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Angeklagte sein D-Visum durch Drohung, Bestechung oder Kollusion erwirkt oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichen hat (§ 14 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG), hat sich der ukrainische Angeklagte durch die Einreise am TT. MM 2021 - ungeachtet der Frage, ob dieser Sachverhalt von dem allein auf die inkriminierte Arbeitsaufnahme am TT. MM 2021 abstellenden Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren überhaupt umfasst ist - sich nicht der unerlaubten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 AufenthG strafbar gemacht.

2.

Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen jedoch den Schuldspruch wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG.

Ein unerlaubter Aufenthalt nach § 95 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG setzt voraus, dass sich der Täter ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet aufhält und vollziehbar ausreisepflichtig ist. Einen solchen Aufenthaltstitel stellt u.a. nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 AufenthG ein Visum für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen (sog. Schengen-Visum) sowie ein Visum für längerfristige Aufenthalte, welches vor der Einreise erteilt wird(nationales Visum), dar.

Über ein solches Visum verfügte der Angeklagte indes nicht (mehr) im Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme am TT. MM 2021.

Im Einzelnen:

Das dem Angeklagten erteilte Visum der Kategorie "D" stellt gemäß Art. 18 Abs. 1 SDÜ i.V.m. Anhang VII Ziffer 7. der zur Tatzeit gültigen VO (EG) Nr. 810/2009 [im Folgenden: "Visakodex"] ein nationales, zu einem Aufenthalt in Polen berechtigendes Visum dar. Als Inhaber eines solchen Visum wiederum durfte sich der Angeklagte als Drittausländer nach § 15 AufenthVO i.V.m. Art. 21 Abs. 2a SDÜ unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 1 SDÜ bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates, mithin auch auf dem Bundesgebiet, frei bewegen (vgl. Samel, in Bergmann/Dienelt, AusländerR, 13. Aufl., § 4 AufenthaltG Rn. 24; Winkelmann/Kolber, in Bergmann/Dienelt, AusländerR, 13. Aufl., § 14 AufenthaltG Rn. 19). Dementsprechend kam dem für Polen erteilten nationalen D-Visum mit der Einreise in der Bundesrepublik Deutschland im Ergebnis nur noch die Wirkung eines sog. Schengen-Visums der Kategorie "C" zu (vgl. Maor, in BeckOK-AusländerR, § 6 AufenthG Rn. 15). Dies gestattet u.a. lediglich einen geplanten Kurzaufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen (vgl. Anhang VII Ziffer 7. i.V.m. Art. 2 Nr. 2 lit. a Visakodex; ferner Maor, in BeckOK-AusländerR, § 6 AufenthG Rn. 8).

Der Umstand, dass das D-Visum in Polen vorliegend zum Zweck einer Erwerbstätigkeit erteilt worden ist, begründet nicht zugleich die Berechtigung, eine solche ebenfalls im Bundesgebiet auszuüben. Denn der über Art. 21 SDÜ lediglich mit der Wirkung eines sog. Schengen-Visums ausgestattete Angeklagte war gemäß § 6 Abs. 2a AufenthG nicht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Inland befugt. Insofern ist ihm auch ein D-Visum und eben nicht - wie indes in § 6 Abs. 2a Hs. 2 AufenthG vorausgesetzt - ein (deutsches) Schengen-Visum zum Zweck der Erwerbstätigkeit erteilt worden. Die - wie hier - in einem Aufenthaltstitel anderer Mitgliedstaaten eingetragene Arbeitserlaubnis gilt daher nicht für die Bundesrepublik Deutschland (vgl. Nr. 6.1.7. AVwV-AufenthG, abgedr. bei Winkelmann/Kolber, in Bergmann/Dienelt, AusländerR, 13. Aufl., vor § 6 AufenthaltG); damit erweist sich insbesondere auch Art. 21 Abs. 1 SDÜ nicht als ein Aufenthaltstitel, der die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erlaubt (vgl. VG Freiburg, Beschluss vom 7. Januar 2020 - 10 K 38/20, juris Rn. 9 m.w.N.).

Vor diesem Hintergrund entfällt mit Aufnahme einer Erwerbstätigkeit während des - an sich genehmigungsfreien - Kurzaufenthalts auch für einen sog. "Positivstaater" nach Art. 6Abs. 3 VisaVO i.V.m. § 17Abs. 1 AufenthVO die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels, so dass sich ein solcher ab diesem Zeitpunkt ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhält (vgl. BGH, Beschluss vom 24. März 2021 - 3 StR 22/21, NStZ-RR 2021, 190; Gericke, in MüKo-StGB, 3. Aufl., § 95 AufenthG Rn 41; Hohoff, in BeckOK-AusländerR, § 95 AufenthG Rn. 16a; Senge, in Erbs/Kohlhaas, StrafR Nebengesetze, § 95 AufenthG Rn. 7; Samel, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 4 AufenthG Rn. 22).

Etwas anderes gilt nach § 17 Abs. 2 AufenthVO bzw. § 17a AufenthVO nur dann, wenn der Ausländer im Bundesgebiet bis zu 90 Tagen innerhalb von zwölf Monaten lediglich Tätigkeiten ausübt, die nach § 30 Nr. 2 und Nr. 3 BeschVO nicht als Beschäftigung gelten (sog. Nichtbeschäftigungsfiktion). Dies ist unter den hier allenfalls in Betracht kommenden Voraussetzungen des § 30 Nr. 3 BeschVO i.V.m. § 21 BeschVO bei einem Ausländer der Fall, der von einem Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedsstaat ordnungsgemäß beschäftigt und zur Erbringung einer Dienstleistung vorübergehend in das Bundesgebiet entsandt wird. Der Ausländer muss jedoch in dem (entsendenden) Mitgliedstaat zugleich die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehaben, welche nach Art. 8 Abs. 2 RL 2003/109/EG für die Dauer von mindestens fünf Jahren verliehen wird und nach deutschem Recht dem Daueraufenthalt-EU nach § 9a AufenthG entspricht (vgl. Klaus, in BeckOK, AusländerR, § 30 BeschV Rn. 42; Werner, in Offer/Mävers, BeschV, 1. Aufl., § 30 Rn. 39). Die letztgenannte Voraussetzung ist nach den zutreffenden Feststellungen des Landgerichts in der Person des Angeklagten indes nicht erfüllt. Er verfügte - auch nach eigener Aussage - gerade nicht über eine langfristige Aufenthaltsberechtigung in Polen, sondern lediglich über ein für knapp zehn Monate gültiges D-Visum.

Da der Angeklagte - aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung - im Übrigen bis dato auch nicht das Anmeldeverfahren zur Erlangung eines Vander Elst-Visums durchlaufen hat (vgl. zu den Einzelheiten VGH Kassel, Beschluss vom 22. April 2021 - 7 B 312/21, juris Rn. 22 ff.), hat sich der Angeklagte am TT. MM 2021 ohne erforderlichen Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten und war somit gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet.

Der Angeklagte war zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme - entgegen dem Vorbringen im Schriftsatz seines Verteidigers vom 3. Dezember 2021 - auch unmittelbar kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig (vgl. Senge, in Erbs/Kohlhaas, StrafR Nebengesetze, § 95 AufenthG Rn. 7). Die Ausreisepflicht ist nach § 58 Abs. 2 AufenthG u.a. vollziehbar, wenn der Ausländer noch nicht die erstmalige Erteilung des erforderlichen Aufenthaltstitels oder noch nicht die Verlängerung beantragt hat oder trotz erfolgter Antragstellung der Aufenthalt nicht nach § 81 Abs. 3 AufenthG als erlaubt oder der Aufenthaltstitel nach § 81 Abs. 4 AufenthG nicht als fortbestehend gilt. Hierunter fällt auch die vorliegende Fallkonstellation, in welcher sich ein Ausländer zwar infolge eines von einem Aufenthaltstitel zunächst gedeckten Aufenthalts rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, wegen des Wechsels des Aufenthaltszwecks ein neuer (anderer) Aufenthaltstitel erstmalig beantragt werden muss, dieses aber nicht erfolgt ist (vgl. Kluth, in BeckOK-AusländerR, § 58 AufenthG Rn. 17; Hocks, in Hofmann, Ausländerrecht, § 58 AufenthG Rn. 12). Daran vermag auch der mögliche Umstand nichts zu ändern, dass der Angeklagte mittlerweile einen zur Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik berechtigenden Aufenthaltstitel beantragt hat. Denn der Antrag ist zu spät, d.h. nicht mehr zu einem Zeitpunkt, in welchem sich der Angeklagte rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, gestellt worden, so dass es nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei der Ausreisepflicht und deren Vollziehbarkeit bleibt (vgl. Hocks a.a.O.).

Der vor diesem Hintergrund entsprechend § 354 Abs. 1 StPO erfolgte Schuldspruchänderung - die Ausführungen des Landgerichts zum Vorsatz und zur Annahme eines vermeidbaren Verbotsirrtums sind frei von Rechtsmängeln - steht § 265 StPO nicht entgegen, denn anders als geschehen hätte sich der Angeklagte auch bei einem Hinweis auf die geänderte rechtliche Bewertung nicht verteidigen können.

3.

Eine Aufhebung des Strafausspruches ist durch die Änderung des Strafausspruches nicht veranlasst, weil davon der - hier nach § 17 Satz 2 StGB i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB gemilderte - auch für diese Tatvariante geltende Strafrahmen des § 95 Abs. 1 AufenthG unberührt geblieben ist und die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts in gleicher Weise auf die Tat des unerlaubten Aufenthalts zutreffen.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.