Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 03.05.2021, Az.: L 8 SO 47/21 B
Vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Hilfe zur stationären Pflege; Wechselbeziehung zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund; Glaubhaftmachung einer besonderen Eilbedürftigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 03.05.2021
- Aktenzeichen
- L 8 SO 47/21 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 24858
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2021:0503.L8SO47.21B.ER.0
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 25.03.2021 - AZ: S 32 SO 21/21 ER
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
- § 27b SGB XII
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 25. März 2021, durch den der Eilantrag des Antragstellers abgelehnt worden ist, geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, Heimpflegekosten des Antragstellers für seinen Aufenthalt im Alten- und Pflegeheim G., H., I., in monatlicher Höhe von 1.529,29 € sowie Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in monatlicher Höhe von 209,92 € ab dem 1. Februar 2021 bis zu einer Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 5.11.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.10.2020, längstens bis zum 31. Juli 2021, vorläufig zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Instanzen zu erstatten.
Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
I.
Im Streit sind vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Hilfe zur stationären Pflege für die Zeit ab Anfang 2021, insbesondere der Wechsel von einem Pflegeheim in eine Einrichtung der Eingliederungshilfe.
Bei dem 1969 geborenen, übergewichtigen (Adipositas per magna Grad III), allein- und unter Betreuung stehenden Antragsteller liegen diverse Erkrankungen vor (u.a. Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck, venöse Insuffizienz, Inkontinenz, Vorhofflimmern), insbesondere eine rezidivierende depressive Störung ohne psychotische Symptome und eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung. Er ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 80 und dem Merkzeichen G anerkannt. Nachdem die ambulante Betreuung des Antragstellers an seinem Wohnort J., einer im Kreisgebiet des Antragsgegners gelegenen Stadt, wegen Antrieblosigkeit, Immobilität und einer stark vernachlässigten Körper- und Gesundheitspflege sowie Wundschäden nicht mehr ohne drohende Verschlechterung seines Gesundheitszustands (u.a. Gefahr der Blutvergiftung) möglich gewesen ist (vgl. das im betreuungsgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten des Dr. K., Bochum, vom 12.1.2019), wurde er Anfang Februar 2019 in dem in I. gelegenen Alten- und Pflegeheim G. aufgenommen (derzeit zu monatlichen Kosten von 3.304,29 €). Sein damaliger Betreuer hatte sich zuvor bei mehr als 15 Pflegeheimen in Wohnortnähe vergeblich um eine Aufnahme des Antragstellers bemüht. Für die nicht durch die Leistungen der Pflegekasse nach einem Pflegegrad 4 (derzeit in monatlicher Höhe von 1.775,00 €; Bescheid der AOK NordWest - Pflegekasse - vom 6.1.2020) und die Erwerbsminderungsrente des Antragstellers (derzeit in monatlicher Höhe von 375,05 €) gedeckten Kosten des Aufenthalts kam der Antragsgegner bis Ende 2020 auf. Die Bewilligung von Hilfe für den notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen nach § 27b SGB XII und stationärer Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII erfolgte bis Ende Oktober 2020 für befristete Zeiträume (Bescheide vom 22.5. und 2.8.2019 sowie vom 13.1. und 28.4.2020).
Mit Schreiben vom 26.10.2020 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dass nach einer Stellungnahme der Fachwirtin der Alten- und Krankenpflege L., einer Mitarbeiterin seines Pflegemanagements, ein Umzug in eine geeignete Einrichtung der Eingliederungshilfe empfohlen und eine weitere „Heimnotwendigkeit“ für den Antragsteller abgelehnt worden sei, und forderte diesen auf, Eingliederungshilfe bei dem zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe sowie die Aufnahme bei drei geeigneten Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu beantragen. Durch Bescheid vom gleichen Tag verlängerte er die für den Aufenthalt im Alten- und Pflegeheim G. erforderliche Hilfe - nach seinem Ermessen - (noch) bis zum 31.12.2020, um einen Umzug in eine Einrichtung der Eingliederungshilfe zu ermöglichen. Gegen die „Ablehnung der Heimnotwendigkeit“ (Bescheid vom 26.10.2020) erhob der Antragsteller durch seinen Verfahrens- und Prozessbevollmächtigten am 5.11.2020 mit der Begründung Widerspruch, der weitere Aufenthalt im Heim G. sei wegen seiner stark ausgeprägten Pflegebedürftigkeit nach einem Pflegegrad 4 erforderlich. Nach Angaben seiner Hausärztin, der Ärztin M., I., wäre er in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe aller Wahrscheinlichkeit nach stark überfordert und würde bei einem Heimwechsel starke psychische Auffälligkeiten zeigen. Der Anregung, den Antragsteller persönlich zu begutachten, kam der Antragsgegner (durch sein Pflegemanagement) wegen der Bedingungen aufgrund der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie nicht nach; der Widerspruchsvorgang wurde nach Einholung einer weiteren Stellungnahme der Fachwirtin der Alten- und Krankenpflege L. vom 1.12.2020, nach der - nach wie vor - der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Eingliederungshilfe mit Implementierung eines ambulanten Pflegedienstes empfohlen wurde, um die soziale Teilhabe des Antragstellers zu fördern und seine pädagogische Begleitung zur Heranführung an verschiedene Maßnahmen der Krankengymnastik, der Physiotherapie und weiteren körperlichen Aktivierung sowie die Reduzierung und Verhinderung von körperlichen Risiken zu ermöglichen, an den Landschaftsverband Westfalen-Lippe abgegeben. Eine Entscheidung steht - soweit ersichtlich - noch aus.
Am 3.2.2021 hat der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Braunschweig wegen rückständiger Heimkosten für Januar 2021 von etwa 1.500,00 € (Rechnung der G. gGmbH vom 4.1.2021) und Beitragsrückständen bei der Kranken- und Pflegekasse von etwa 100,00 € (Erinnerung der AOK Nordwest vom 25.1.2021) sowie fehlender Mittel für Medikamentenzuzahlungen um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Er habe nach dem Gutachten der Medizinischen Krankenversicherung Niedersachsen und im Lande Bremen (MdK) vom 3.1.2020 und der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB XI für stationär Untergebrachte (Bescheid der AOK Nordwest - Pflegekasse - vom 6.1.2020) ohne Zweifel (auch) einen sozialhilferechtlichen Anspruch auf stationäre Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII. In einer Einrichtung der Eingliederungshilfe wäre die erforderliche pflegerische Versorgung nicht gewährleistet und ein Heimwechsel würde ihn - sein psychischer Zustand habe sich bereits erheblich verschlechtert (u.a. verweigere er mittlerweile die Nahrungsaufnahme und die Abnahme von Blut) - stark überfordern. Ungeachtet dessen hätten drei Einrichtungen der Eingliederungshilfe (in örtlicher Nähe zum Pflegeheim) eine Aufnahme des Antragstellers u.a. wegen seines hohen Pflegebedarfs abgelehnt. Das SG hat den Eilantrag durch Beschluss vom 25.3.2021 - entsprechend dem Standpunkt des Antragsgegners - mit der Begründung abgelehnt, für den Erlass einer einstweiligen Anordnung fehle es an der besonderen Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund), weil eine Räumungsklage seitens des Heimträgers in absehbarer Zeit nicht zu befürchten sei. Der Antragsteller habe weder eine nach Maßgabe der heimvertraglichen Regelungen und Vereinbarungen existierende Kündigungslage noch rückständige Heimkosten für die Monate Februar und März 2021 glaubhaft gemacht. Im Übrigen bestehe für den Antragsteller - schon seit Monaten - eine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit in Gestalt der Obliegenheit, bei dem zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe einen Antrag auf Eingliederungshilfe zu stellen.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 31.3.2021, mit der er geltend macht, das SG habe die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes überspannt. Die Inanspruchnahme der Eingliederungshilfe mit dem damit verbundenen Heimwechsel könne keine Obliegenheit sein, die die besondere Eilbedürftigkeit der Sache entfallen lasse. Seit Anfang März 2021 sei der Heimträger wegen rückständiger Heimentgelte von über 4.500,00 € zur Kündigung des Heimvertrags berechtigt. Im Übrigen sei die Frist von drei Monaten (§ 88 Abs. 2 SGG) zur Entscheidung über den Widerspruch vom 5.11.2020 bereits überschritten. Dem Antragsteller könne ein weiteres Zuwarten nicht mehr zugemutet werden.
Der Antragsgegner hält den Beschluss des SG für zutreffend. Der Antragsteller habe auch im Beschwerdeverfahren einen Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht glaubhaft gemacht, insbesondere betreffend seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse, die rückständigen Heimkosten (jeweils ab Februar 2021) und eine drohende Beendigung des Heimaufenthalts wegen einer Kündigung des Einrichtungsträgers. An sich begehre der Antragsteller Leistungen, die im Bereich der Eingliederungshilfe liegen, für die aber der Landschaftsverband Westfalen-Lippe zuständig sei. Insoweit würden seine Eingliederungshilfefähigkeit und -bereitschaft nach den Begutachtungen des Pflegemanagements vorliegen. Auch die (mutmaßlichen) Absagen von drei Einrichtungen der Eingliederungshilfe würden die Zuweisung des Antragstellers zu einer Einrichtung der Eingliederungshilfe durch den Antragsgegner nicht grundsätzlich in Frage stellen. Unabhängig davon habe der Antragsteller bis heute keinen Antrag auf Eingliederungshilfe bei dem überörtlichen Kostenträger der Eingliederungshilfe, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe gestellt und er habe nicht dargelegt, ob und inwieweit mit dem Wechsel des Kostenträgers auch zwangsläufig ein Einrichtungswechsel verbunden ist und inwiefern dies nachteilig für den Antragsteller sein soll. Für den Fall, dass tatsächlich keine geeignete Einrichtung der Eingliederungshilfe zur Verfügung stehen sollte, was vom Antragsgegner weiterhin in Abrede gestellt wird, wäre ein Verbleib in der bisherigen Einrichtung jedenfalls nicht ausgeschlossen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners (drei Bände) Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Beschwerde ist begründet. Das SG hat den Eilantrag lediglich betreffend die Zeit vor Antragstellung bei Gericht (Januar 2021) zu Recht abgelehnt; die Beschwerde ist insoweit zurückzuweisen. Im Übrigen ist der Beschluss allerdings rechtswidrig, weil der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes für die Zeit ab Februar 2021 zulässig und begründet ist.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Zwischen Anordnungsanspruch und -grund besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass der einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu (st. Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschluss vom 26.10.2020 - L 8 AY 73/20 B ER - nicht veröffentlicht; vgl. auch Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 86b Rn. 399 ff. m.w.N.).
Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch die besondere Eilbedürftigkeit der Sache glaubhaft gemacht.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die (konkludente) Ablehnung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in einer Einrichtung und stationärer Hilfe zur Pflege für die Zeit ab Januar 2021 durch Bescheid des Antragsgegners vom 26.10.2020 (angefochten durch Widerspruch vom 5.11.2020). Diese Leistungsablehnung ist sinngemäß durch die Ablehnung einer „Heimnotwendigkeit“ für den Antragsteller und die nur bis zum 31.12.2020 befristete Leistungsgewährung für den Aufenthalt in dem Pflegeheim G. erfolgt. Unter dem Begriff der „Heimnotwendigkeit“ versteht der Antragsgegner die Notwendigkeit und Angemessenheit eines Verbleibes in einer stationären Altenpflegeeinrichtung nach dem SGB XI (vgl. die Stellungnahme der Fachwirtin der Alten- und Krankenpflege L. vom 1.12.2020), die - soweit sie verneint wird - einen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII ausschließen soll.
Die Leistungsablehnung durch den Antragsgegner ist offensichtlich rechtswidrig. Der Antragsteller hat gegen ihn auch ab dem 1.1.2021 einen Anspruch auf laufende Hilfe für den notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen nach § 27b SGB XII und Hilfe zur Pflege in Einrichtungen nach §§ 61 ff. SGB XII.
Der Antragsgegner ist für die Leistungen der Sozialhilfe zuständig. Gemäß § 97 Abs. 1 SGB XII ist für die Sozialhilfe sachlich zuständig der örtliche Träger der Sozialhilfe, soweit nicht der überörtliche Träger sachlich zuständig ist. Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe wird nach Landesrecht bestimmt (§ 97 Abs. 2 Satz 1 SGB XII). In diesem Zusammenhang kann dahin gestellt bleiben, ob für die Hilfe zur stationären Pflege der Landschaftsverband Westfalen-Lippe sachlich zuständig ist. Nach § 2a Abs. 1 Nr. 1 lit. a des Landesausführungsgesetzes zum SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen (AG-SGB XII NRW vom 16.12.2004, GV. NRW. S. 816) ist der Landschaftsverband sachlich zuständig für Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII für Personen nach § 99 SGB IX und für Menschen mit einer sonstigen geistigen oder seelischen Beeinträchtigung, mit Anfallserkrankung oder einer Suchterkrankung bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn es wegen der Beeinträchtigung oder der Krankheit dieser Personen in Verbindung mit den Besonderheiten des Einzelfalls erforderlich ist, die Hilfe in einer teilstationären oder stationären Einrichtung oder in einer gemeinschaftlichen Wohnform nach § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII zu gewähren. Auch in diesem Fall wäre der Antragsgegner (im Außenverhältnis) zuständig, weil er als Kreis zur Durchführung von Aufgaben des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe als überörtlichem Träger der Sozialhilfe für die o.g. Leistungen nach dem Siebten Kapitel des SGB XII herangezogen worden ist (vgl. Satzung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe über die Heranziehung der kreisfreien Städte, Kreise und kreisangehörigen Gemeinden zur Durchführung der ihm als überörtlichen Träger der Sozialhilfe und als Träger der Eingliederungshilfe obliegenden Aufgaben - Heranziehungssatzung - vom 10.10.2019) und er insoweit nach § 4 der Heranziehungssatzung im eigenen Namen entscheidet (sog. Wahrnehmungszuständigkeit, vgl. BSG, Urteil vom 13.2.2014 - B 8 SO 11/12 R - juris Rn. 16). Wird die nach Landesrecht erforderliche kausale Verknüpfung von Heimaufenthalt und Behinderung bzw. Erkrankung verneint, folgt die sachliche Zuständigkeit des Antragsgegners für die Pflegeleistungen als örtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 1 Abs. 1 AG-SGB XII NRW) unmittelbar aus § 97 Abs. 1 SGB XII. Díe sachliche Zuständigkeit für die in der Einrichtung zu erbringenden lebensunterhaltssichernden Leistungen ergibt sich aus § 97 Abs. 4 SGB XII (vgl. dazu BSG, a.a.O.). Die örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners beruht auf § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII, nach dem der gewöhnliche Aufenthalt der leistungsberechtigten Person im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme - hier in der im Kreisgebiet des Antragstellers gelegenen Stadt J. - maßgeblich ist. Der Einwand des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren, die örtliche Zuständigkeit sei mit Ablauf seiner bis zum 31.12.2020 befristeten Leistungsgewährung gemäß § 98 Abs. 1 SGB XII neu zu bestimmen, liegt neben der Sache.
Nach § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. § 61 Satz 1 SGB XII haben Personen, die pflegebedürftig i.S. des § 61a SGB XII sind, Anspruch auf Hilfe zur Pflege, soweit ihnen (…) nicht zuzumuten ist, dass sie die für die Hilfe zur Pflege benötigten Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels des SGB XII aufbringen. Gemäß § 61a Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind pflegebedürftig Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Für die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege sind pflegebedürftige Personen (…) in einen der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten entsprechenden Pflegegrad einzuordnen (vgl. § 61b Abs. 1 SGB XII). Die Entscheidung der Pflegekasse über den Pflegegrad ist für den Träger der Sozialhilfe bindend, soweit sie auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind (§ 62a Satz 1 SGB XII). Die Hilfe zur Pflege umfasst für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2, 3, 4 oder 5 gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, § 65 Satz 1 SGB XII u.a. die Pflege in stationären Einrichtungen, wenn häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist oder wegen der Besonderheit des Einzelfalls nicht in Betracht kommt.
Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hilfe zur stationären Pflege nach einem Pflegegrad 4 (vgl. Bescheid der AOK Nordwest - Pflegekasse - vom 6.1.2020) liegen hier vor. Dass eine häusliche oder teilstationäre Pflege des Antragstellers nicht möglich ist, ergibt sich aus dem im betreuungsgerichtlichen Verfahren (AG Witten - 20 XVII W 143 -) eingeholten Gutachten des Dr. K., Bochum, vom 12.1.2019 und den Begutachtungen des MdK vom 7.3.2019 und 3.1.2020.
Für den Anspruch auf Hilfe zur stationären Pflege kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Pflege des Antragstellers auch bzw. nach Auffassung des Antragsgegners unter dem Gesichtspunkt der sog. „Heimnotwendigkeit“ nach den Umständen des Einzelfalles „bedarfsgerecht“ nur in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe gewährleistet werden kann (dazu auch gleich). In diesem Fall wären die erforderlichen Pflegeleistungen (bloß) Bestandteil der Eingliederungshilfe in Einrichtungen (vgl. § 103 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Anders als der Antragsgegner wohl meint, berührt diese mögliche Inkludierung der Leistungen nicht den Anspruch auf Hilfe zur Deckung des Bedarfs an stationärer Pflege, der in gleicher Weise - im Einzelfall u.U. sogar besser - in einem Alten- und Pflegeheim gedeckt werden kann. Aufgrund des aus § 9 SGB XII bzw. § 104 Abs. 1 SGB IX abgeleiteten Bedarfsdeckungsgrundsatzes, nach dem der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er entsteht (sog. "Gegenwärtigkeitsprinzip", vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - juris Rn. 19 m.w.N.), ist allein maßgeblich, dass der Bedarf des Antragstellers an Pflege gegenwärtig in dem Alten- und Pflegeheim G. gedeckt wird und hierdurch Kosten entstehen, die nicht vollständig durch die Pflegeleistungen nach dem SGB XI und die Erwerbsminderungsrente des Antragstellers beglichen werden können (zur Anspruchshöhe später).
Der Antragsgegner darf die Leistungsgewährung auch nicht aufgrund des Nachranggrundsatzes nach § 2 Abs. 1 SGB XII ablehnen, nach dem Sozialhilfe u.a. nicht erhält, wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere (…) von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. § 2 Abs. 1 SGB XII ist keine eigenständige Ausschlussnorm, wenn andere Leistungen tatsächlich nicht erbracht werden, sondern hat regelmäßig nur im Zusammenhang mit ergänzenden bzw. konkretisierenden sonstigen Vorschriften des SGB XII Bedeutung; ein Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII ist mithin allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließt und Ansprüche ohne Weiteres realisierbar sind (statt vieler BSG, Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 32/17 B - juris Rn. 12 m.w.N.; jüngst zum Verhältnis von Wohngeld und Sozialhilfe BSG, Urteil vom 23.3.2021 - B 8 SO 2/20 R - nach Terminbericht des BSG Nr. 13/21). Ein solcher extremer Ausnahmefall liegt hier wegen eines denkbaren Anspruchs des Antragstellers auf Eingliederungshilfe nach dem Teil 2 des SGB IX nicht vor. Den Antragsteller trifft im Rahmen der Selbsthilfe keine „Obliegenheit“ zur Stellung eines Antrags auf Eingliederungshilfe. Ein die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 Satz 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK; BGBl. II 2008, 1419) wahrendes Recht der Eingliederungshilfe, das die Autonomie, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung behinderter Menschen anerkennt (vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 269 f. Zu § 90; Frerichs in Hauck/Noftz, SGB IX, Stand 1/2021, § 90 Rn. 16 m.w.N.), hat auch die individuelle Entscheidung zu achten und zu respektieren, auf Hilfe zu verzichten. Eine Mitwirkungspflicht, durch die Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe eine "Besserung" des Betroffenen zu erreichen, verfolgt kein legitimes Ziel; es gibt keine "Vernunfthoheit" staatlicher Organe über die Grundrechtsberechtigten (vgl. BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 - juris Rn. 127 m.w.N.). Aus der Sorge, das Alten- und Pflegeheim verlassen zu müssen, entspricht es dem ausdrücklichen Wunsch des Antragstellers, einen Antrag auf Eingliederungshilfe nicht zu stellen. Anhaltspunkte dafür, dass er krankheits- oder behinderungsbedingt in erheblicher Weise in seiner Willensbildung beeinträchtigt ist, liegen nicht vor. Selbst seine Betreuerin und seine Hausärztin, Frau M., gehen davon aus, dass ihm derzeit aufgrund seiner psychischen Beeinträchtigungen, seiner ausgeprägten Pflegebedürftigkeit und der Bedingungen aufgrund der Covid-19-Pandemie ein Wechsel in eine Einrichtung der Eingliederungshilfe nicht zuzumuten ist. Den Antragsteller durch das Vorenthalten der Pflegeleistungen nach dem SGB XII zu einem Wechsel in eine Einrichtung der Eingliederungshilfe zu drängen, steht auch in klarem Widerspruch zu Art. 19 lit. a UN-BRK, nach dem die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens u.a. zu gewährleisten haben, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.
Der Höhe nach beläuft sich der Anspruch auf stationäre Pflege nach § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. §§ 61 Satz 1, 65 SGB XII auf die nach summarischer Prüfung vereinbarungsgemäß abgerechneten Heimkosten in monatlicher Hohe von 3.304,29 € abzüglich der gemäß § 27b Abs. 1 SGB XII zu berechnenden und - mit Ausnahme der Zuschüsse für die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge (§ 42 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 32 SGB XII; dazu gleich) - an den Heimträger auszuzahlenden Leistungen für den notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen (unter Anrechnung der Erwerbsminderungsrente des Antragstellers, zuletzt bewilligt in monatlicher Höhe von 627,94 €, vgl. Bescheid des Antragsgegners vom 6.7.2020). Da der dem Antragsteller nach § 27b Abs. 2 und 3 SGB XII zustehende Barbetrag in Höhe von mindestens 27 % der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 SGB XII in den abgerechneten Heimkosten enthalten ist, sieht der Senat zur Bestimmung der vorläufig an den Heimträger zu zahlenden Beträge aus Vereinfachungsgründen von einer Berechnung der dem Antragsteller zustehenden (aber an den Heimträger auszuzahlenden) Grundsicherungsleistungen ab. Von den monatlichen Heimkosten (3.304,29 €) sind danach die Leistungen der Pflegekasse von 1.775,00 € und die Erwerbsminderungsrente des Antragstellers in Höhe von 387,99 € (§ 82 SGB XII) abzuziehen; nach summarischer Prüfung verbleiben mithin ungedeckte Heimkosten in monatlicher Höhe von 1.529,29 € (vgl. auch die Rechnung des Heimträgers vom 4.1.2021). Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er über kein weiteres Einkommen oder nach § 90 SGB XII einzusetzendes Vermögen verfügt. Dem Einwand des Antragsgegners, der Antragsteller hätte zusätzlich Einkommensbelege für die Zeit ab Februar 2021 vorlegen müssen (vgl. Schriftsatz vom 21.4.2021), muss nicht weiter nachgegangen werden. Nach den Umständen des Einzelfalles ist die Vermutung, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers hätten sich ab Januar bzw. Februar 2021 wesentlich geändert bzw. verbessert, nicht nachvollziehbar.
Als Bestandteil der dem Antragsteller gemäß § 42 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 32 SGB XII zustehenden Grundsicherungsleistungen hat der Antragsgegner vorläufig auch die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in monatlicher Höhe von 171,86 € bzw. 38,06 € (vgl. Bescheid der AOK NordWest aus Januar 2020) zu übernehmen.
Der Antragsteller hat die besondere Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht, weil bei fortlaufend nicht gedeckten Heimkosten von über 1.500,00 € eine Beendigung des Heimvertrages durch Kündigung des Heimträgers nach § 12 des Gesetzes zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen - Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVM) - zu erwarten ist und es in diesem Einzelfall nicht darauf ankommt, dass bereits eine Kündigung ausgesprochen worden ist. Hierdurch würden die Anforderungen an den Anordnungsgrund nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG überspannt werden (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 1.8.2017 - 1 BvR 1910/12 - juris Rn. 18). Nach Lage der Dinge möchte der Antragsgegner durch die Ablehnung der Leistungen gerade erreichen, dass der Antragsteller einen Antrag auf Eingliederungshilfe stellt, damit der Leistungsfall in die Kostenträgerschaft des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe übergeht. Unter Berücksichtigung der Wechselbeziehung zwischen Anordnungsanspruch und -grund (s.o.) rechtfertigt diese vom Antragsgegner rechtswidrig herbeigeführte Druck- und Notsituation ohne Weiteres den Erlass einer gerichtlichen Regelungsanordnung.
Die Regelungsanordnung ist befristet für die Zeit ab Februar 2021 bis zur Entscheidung über den Widerspruch vom 5.11.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.10.2020. Leistungen für Zeiträume vor Antragstellung (hier am 3.2.2021) können im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes regelmäßig nicht zugesprochen werden, weil dieses Verfahren auf die Behebung einer aktuellen, d.h. gegenwärtigen Notlage ausgerichtet ist. Nur ausnahmsweise, wenn ein besonderer Nachholbedarf besteht, weil die fehlenden Leistungen in der Vergangenheit in die Gegenwart fortwirken und eine gegenwärtige Notlage begründen, kann von diesem Grundsatz eine Ausnahme gemacht werden (vgl. Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 86b Rn. 369 m.w.N.). Eine solche Ausnahme liegt hier nicht vor. Durch die vorläufige Übernahme der ungedeckten Heimkosten ab Februar 2021 wird bereits in hinreichender Weise einer unternehmerseitigen Kündigung des Heimvertrages entgegengewirkt (vgl. § 12 WVBG). Im Übrigen erachtet der Senat eine fixe zeitliche Begrenzung der Anordnung bis zum 31.7.2021 als sachgerecht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Erfolglosigkeit des Eilantrags betreffend Leistungen für Januar 2021 (bzw. die insoweit erfolgte Zurückweisung der Beschwerde aus diesem Grund) rechtfertigt nach den Umständen des Einzelfalles keine zu Lasten des Antragstellers gehende Kostenquote. Der Anlass für die Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes liegt allein in der Sphäre des Antragsgegners (zum sog. Veranlassungsprinzip vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 193 Rn. 12b m.w.N.).
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses abzulehnen, weil der Antragsgegner wegen der (endgültigen) Kostengrundentscheidung nach § 193 SGG die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in voller Höhe zu erstatten hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.8.2013 - 1 BvR 3474/13 - juris Rn. 9).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.