Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 01.06.2005, Az.: 22 HEs 3/05
Anklageschrift; Annäherung; Aufhebung; Begründungserfordernis; Beschreibung; Haftbefehl; Haftprüfungsverfahren; historischer Vorgang; Konkretisierung; Tatvorwurf
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 01.06.2005
- Aktenzeichen
- 22 HEs 3/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50920
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 114 Abs 2 StPO
- § 121 StPO
- § 122 StPO
- § 200 Abs 1 StPO
Tenor:
1. Betreffend den gegen den Beschuldigten ... bestehenden Haftbefehl des Amtsgerichts ...vom 19. November 2004, 9 a Gs 2307/04, ist der Senat zur Haftprüfung nicht berufen.
2. Der Haftbefehl des Amtsgerichts ...vom 9. November 2004, 9 a Gs 2190/04, gegen den Beschuldigten ... wird aufgehoben.
3. Der Haftbefehl des Amtsgerichts ... vom 10. November 2004, 9 a Gs 2214/04, gegen den Beschuldigten ... wird aufgehoben.
Gründe
I. Die Beschuldigten ... und ... befinden sich aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts ... vom 9. November 2004, 9 a Gs 2190/04, bzw. vom 10. November 2004, 9 a Gs 2214/04, jeweils seit dem 18. November 2004 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl gegen den Beschuldigten ... vom 19. November 2004, 9 a Gs 2307/04, ist demgegenüber mit Beschluss des Amtsgerichts ... vom 10. Januar 2005, 9 a Gs 2590/04, außer Vollzug gesetzt worden. Der Beschuldigte ... befindet sich nicht mehr in Untersuchungshaft.
Gegen die drei Beschuldigten wird in einem gegen insgesamt 28 Beschuldigte gerichteten Ermittlungskomplex wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Zigarettenschmuggels und Steuerhinterziehung im Tatzeitraum Februar 2004 bis 18. November 2004 ermittelt. Dem Beschuldigten ... wird mit Haftbefehl vom 9. November 2004 vorgeworfen, im Februar und März 2004 im Bereich ... in fünf Fällen tateinheitlich jeweils ein Vergehen der Gründung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und ein Verbrechen der gewerbs- und bandenmäßigen Steuerhinterziehung begangen zu haben, indem er als Kontaktmann zum polnischen Lieferanten „...“ und Organisator der Umladungen am Transport von unversteuerten und unverzollten Zigaretten von Polen nach Deutschland und zum Teil weiter nach Großbritannien am 12. Februar, 15. Februar, 18. Februar, 27. Februar und 8. März 2004 mitwirkte, wobei insgesamt 12.600.000 Zigaretten nach Deutschland verbracht worden waren und ein Steuerschaden von 1.575.000 € entstand.
Dem Beschuldigten ... wird mit dem gegen ihn gerichteten Haftbefehl vom 10. November 2004 zur Last gelegt, zwischen August und Oktober 2004 in 41 Fällen jeweils tateinheitlich eine kriminelle Vereinigung gegründet und sich an ihr beteiligt zu haben sowie gewerbsmäßige Steuerhehlerei begangen zu haben, indem er unversteuerte und unverzollte von Polen nach Deutschland verbrachte Zigaretten an mindestens 41 nicht näher identifizierte Abnehmer absetzte, wobei es sich insgesamt um mindestens 3.300.000 Zigaretten handelte und ein Steuerschaden von 412.500 € entstand.
Nachdem das Amtsgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft am 12. Mai 2005 Haftfortdauerbeschlüsse gegen die drei Beschuldigten erlassen hatte, sind die Akten dem Senat durch Vermittlung von Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft zur besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO vorgelegt worden.
II. 1. Hinsichtlich des Beschuldigten ... ist der Senat zur Entscheidung im Haftprüfungsverfahren nicht berufen. Das Haftprüfungsverfahren findet nicht statt, wenn der Vollzug der Untersuchungshaft nach § 116 StPO ausgesetzt ist (vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., Rdnr. 2 zu § 122 m. w. N.), was hier aufgrund des mittlerweile zu den Akten gelangten Beschlusses des Amtsgerichts ... vom 10. Januar 2005 der Fall ist.
2. Dagegen führt die Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO zur Aufhebung der gegen die Beschuldigten ... und ... am 9. bzw. 10. November 2004 erlassenen Haftbefehle, weil diese den Anforderungen gemäß § 114 Abs. 2 StPO nicht genügen.
Nach dieser Vorschrift hat der Haftbefehl den gegen den Beschuldigten erhobenen Tatvorwurf in einer dem Anklageentwurf angenäherten Weise anzugeben (vgl. § 200 StPO). Dieser Begründungszwang dient der Selbstkontrolle des erlassenen Gerichts sowie der Unterrichtung des Beschuldigten und soll die Prüfung des Beschwerdegerichts ermöglichen (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 4 zu § 114 StPO m. w. N.). Deshalb ist insbesondere die Tat im verfahrensrechtlichen Sinn (§ 264 StPO) als historischer Vorgang so genau zu beschreiben, dass der Beschuldigte den gegen ihn erhobenen Vorwurf nach Umfang und Tragweite eindeutig erkennen kann. Dabei steigen die Anforderungen an die Konkretheit der Darstellung des Tatvorwurfs mit fortschreitender Dauer der Ermittlungen und Untersuchungshaft, sodass sie sich immer mehr den an eine Anklageschrift nach § 200 Abs. 1 StPO zu stellenden Anforderungen annähern (OLG Karlsruhe StV 2002, 147, 148; OLG Brandenburg StV 1997, 140). Dem werden die Haftbefehle des Amtsgerichts ... jedenfalls jetzt - mehr als sechs Monate nach ihrem Erlass - nicht gerecht.
a) Der Haftbefehl betreffend den Beschuldigten ... benennt zwar die Tattage, an denen Lkw-Lieferungen mit Zigaretten von Polen nach Deutschland erfolgt sein sollen. Er erschöpft sich aber hinsichtlich der einzelnen Tatakte in allgemein gehaltenen, pauschalen und generalisierenden Beschreibungen der Taten in zeitlicher und gegenständlicher Hinsicht. Zu den konkreten Tatbeiträgen des Beschuldigten ... wird lediglich ausgeführt, der Beschuldigte habe stets den erforderlichen Kontakt zu dem polnischen Lieferanten „...“ gehalten und sei für die Zuführung der aus Polen eingereisten „Lademannschaft“ zur entsprechenden Umladestelle zuständig gewesen. Irgendwelche näheren Angaben dazu, was der Beschuldigte in diesem Zusammenhang konkret getan hat, enthält der Haftbefehl nicht. Die Ausführungen zu den konkreten Tatvorwürfen erschöpfen sich im Fall 1. darin, dass das Amtsgericht ausführt, „der Beschuldigte war für die Organisation und Umladung der Zigarettenladung zuständig,“ im Fall 2. heißt es, der Beschuldigte traf sich nach dem 12. Februar 2004 mit dem Mitbeschuldigten ... zur Organisation der nächsten Lieferung und teilte diesem zwecks Organisation einer entsprechenden Lkw-Ladefläche telefonisch die entsprechende Liefermenge mit, zu Fall 4. wird betreffend des Tatbeitrags des Beschuldigten lediglich ausgeführt, dieser habe die Zuführung der Zigaretten zur Umladestelle organisiert und die finanzielle Entlohnung des Mitbeschuldigten ... veranlasst, während in den Fällen 3. und 5. selbst solche generalisierende Umschreibungen seines Tatbeitrags fehlen. Hinsichtlich des gleichfalls erhobenen Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung fehlt es außer der Angabe der Namen weiterer angeblicher Mittäter und der Mitteilung, dass die Vereinigung sich zum Zwecke des Zigarettenschmuggels gebildet habe, an jeglichen weiteren Darlegungen.
Angesichts dieses pauschalen und abstrakten Inhalts des Haftbefehls ist dieser nicht in der Lage, die tatsächlichen Vorwürfe konkret zu umgrenzen, sodass dem Beschuldigten auch die Möglichkeit genommen ist, sich gegen die erhobenen Vorwürfe effektiv zu verteidigen, weil gänzlich unklar bleibt, in welchen konkreten Handlungen Staatsanwaltschaft und Amtsgericht die Erfüllung von Tatbestandsmerkmalen begründet sehen. Dies gilt umso mehr, als der Haftbefehl entgegen § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO auch nicht die Tatsachen angibt, aus denen sich der dringende Tatverdacht ergeben soll. Insoweit heißt es nämlich nur, der Tatverdacht ergebe sich aus den bisherigen Ermittlungen des Zollfahndungsamtes ..., insbesondere den Erkenntnissen der durchgeführten Telefonüberwachungs- und Observationsmaßnahmen und der Sicherstellung einzelner Zigarettenmengen. Jede Konkretisierung dahingehend, worin die Ermittlungsergebnisse und Erkenntnisse inhaltlich bestehen, fehlt indes.
Der gravierende Verstoß gegen die Formvorschrift des § 114 Abs. 2 StPO, in dem zugleich eine Verletzung des Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes des fairen Verfahrens liegt, musste zur Aufhebung des gegen den Beschuldigten ... ergangenen Haftbefehls führen. Denn infolge des Verstoßes befand sich der Beschuldigte ohne gesetzmäßige Grundlage und unter Beschneidung seiner Verteidigungsmöglichkeiten in Untersuchungshaft.
Bei dieser Sachlage widerspräche die bloße Zurückweisung der Sache an das Amtsgericht zur Neufassung des Haftbefehls rechtsstaatlichen Grundsätzen (so aber wohl OLG Stuttgart Justiz 2002, 248). Denn eine solche Vorgehensweise bedeutete de facto, dass die Untersuchungshaft zunächst bewusst aufrechterhalten bliebe, obwohl es dafür an einer gesetzlichen Grundlage in Gestalt eines auch den Formerfordernissen des § 114 Abs. 2 StPO genügenden Haftbefehls fehlt.
Der Senat kann aber auch nicht etwa selbst im besonderen Haftprüfungsverfahren die erforderliche Konkretisierung nachholen. Abgesehen davon, dass es dafür im aktuellen Verfahrensstadium, Anklage ist noch nicht erhoben, an einem jedenfalls erforderlichen hinreichend bestimmten Antrag der Staatsanwaltschaft fehlt (vgl. dazu OLG Brandenburg, a. a. O., S. 141), würde nämlich der Erlass eines konkretisierten Haftbefehls durch den Senat den Beschuldigten erneut in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen, weil er nämlich erstmals nach dessen Erlass in die Lage versetzt wäre, zu den konkretisierten Vorwürfen Stellung zu nehmen. Erschwerend käme noch hinzu, dass dem Beschuldigten gegen diesen Haftbefehl kein Rechtsmittel zur Verfügung stände (vgl. zum Ganzen auch Wieder, Anmerkung zu OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. April 1996, 3 Ws 246/96, StV 1996, 491 f.). Schließlich spricht für die hier vertretene Auffassung auch, dass nach herrschender Meinung (etwa OLG Hamm, Beschluss vom 23. November 1992, 2 BL 440/92, Juris Rechtsprechung, 15. Aufl., Stand 12. März 2005, Nr. KORE404989400; KG Berlin, Beschluss vom 16. Dezember 1998, 1 HEs 307/98, Juris Rechtsprechung, 15. Aufl., Stand 12. März 2005, Nr. KORE431259900; Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 13 zu § 122) dem Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren die Kompetenz fehlt, eine Haftanordnung zu ergänzen oder zu erweitern, weil Prüfungsgegenstand grundsätzlich nur die Taten sind, hinsichtlich derer bereits im Haftbefehl dringender Tatverdacht angenommen worden ist. Ist dem so, kann der Senat aber erst recht nicht die Kompetenz haben, eine konkretisierte Haftanordnung (erstmals) zu treffen, wenn der Haftbefehl den Anforderungen nach § 114 Abs. 2 StPO nicht genügt, seiner Umgrenzungsfunktion nicht gerecht wird und auch die konkreten vorgeworfenen tatbestandsausfüllenden Handlungen des Beschuldigten nicht erkennen lässt. Denn dann fehlt es bereits an einem geeigneten Prüfungsgegenstand.
b) Aus den vorstehenden Erwägungen heraus war auch der Haftbefehl gegen den Beschuldigten ... aufzuheben. Hinsichtlich sämtlicher dem Beschuldigten zur Last gelegten 41 „Zigarettenübergaben an bisher nicht näher identifizierte Abnehmer“ fehlt es an einer verständlichen Sachverhaltsdarstellung, der sich ein konkreter Tatvorwurf entnehmen ließe. Die dem Haftbefehl beigefügte Anlage, in der diverse Telefongespräche aufgelistet sind, die angeblich der Beschuldigte geführt haben soll, ohne dass dargelegt würde, wie er als Gesprächsteilnehmer identifiziert worden ist, ist zu einer näheren Konkretisierung nicht geeignet. Sie lässt schon nicht einmal im Ansatz erkennen, um wie viele Taten es hier gehen könnte. Denn gerade angesichts der fehlenden Identifizierung der Gesprächsteilnehmer, lässt sich nicht ausschließen, dass sich mehrere Gespräche, deren konkreter Inhalt nicht mitgeteilt wird, nur auf eine einzige Zigarettenabgabe bezogen. Auch bleibt offen, aus welchen Lieferungen die zum Verkauf angebotenen (?) Zigaretten stammten.
Zudem steht die Anlage im Widerspruch zum Inhalt des Haftbefehls, weil nach dessen Formulierung in allen Fällen „Zigarettenübergaben an bisher nicht näher identifizierte Abnehmer organisiert und umgesetzt“ worden sind, während nach der Anlage lediglich in einem Teil der Fälle Zigaretten abgenommen worden sind. Wie sich angesichts dieser Unklarheiten der Zigarettenumsatz und Steuerschaden errechnet, ist nicht nachvollziehbar.
Auch der Haftbefehl gegen den Beschuldigten ... genügt daher den Anforderungen des § 114 Abs. 2 StPO nicht und unterliegt der Aufhebung.