Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 09.03.2012, Az.: 2 UF 174/11
Erfolgsaussichten des Antrags eines nichtehelichen Vaters auf Begründung der gemeinschaftlichen elterlichen Sorge im Hinblick auf die Wahrung des Kindeswohls
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 09.03.2012
- Aktenzeichen
- 2 UF 174/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 14649
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2012:0309.2UF174.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Wolfsburg - 11.07.2011
Rechtsgrundlagen
- Art. 6 Abs. 2 GG
- § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB
- § 1672 Abs. 1 BGB
Fundstellen
- FPR 2012, 6
- FamFR 2012, 212
- FamRZ 2012, 882
- NJW-Spezial 2012, 261-262
- Streit 2013, 33-35
- ZKJ 2012, 318-321
Amtlicher Leitsatz
Einem Antrag des nichtehelichen Vaters auf Begründung der gemeinschaftlichen elterlichen Sorge ist stattzugeben, wenn die Übertragung dem Wohl des Kindes dient (§ 1672 Abs. 1 BGB).
Auch bei einem funktionierenden Umgangsrecht widerspricht die Begründung der Mitsorge dem Kindeswohl, wenn eine am Kindeswohl orientierte gleichberechtigte Kommunikation und Kooperation zwischen den Eltern nicht möglich ist und die Mitsorge Streitigkeiten über Kindesbelange nur vermehren würde.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Wolfsburg vom 11. Juli 2011 abgeändert.
Der Antrag des Antragstellers auf Bestimmung eines gemeinschaftlichen Sorgerechts mit der Kindesmutter für den gemeinsamen Sohn J. wird zurückgewiesen.
Die Gerichtskosten des Verfahrens fallen den Beteiligten Kindeseltern zu gleichen Teilen zur Last. Ihre außergerichtlichen Kosten tragen die beteiligten Kindeseltern selbst.
Gründe
I. Der Antragsteller erstrebt die gemeinschaftliche Sorgerechtsausübung mit der Kindesmutter für den aus ihrer Beziehung hervorgegangenen Sohn. Wegen des Sachverhalts wird zunächst auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Als sich die Kindeseltern getrennt haben, war J. ungefähr fünf Jahre alt.
Nach seinem Vorbringen in der Antragsschrift war es ursprünglich eines der Ziele des Antragstellers in diesem Verfahren, ein Wechselmodell, wonach J. jeweils eine Woche bei ihm und die folgende Woche bei der Kindesmutter verbringen sollte, zu erreichen.
Zur Zeit der Antragstellung fand ein großzügiger Umgang statt. J. verbrachte die Zeit von Freitag bis Dienstag beim Vater und in der darauf folgenden Woche dann die Zeit von Montag bis Dienstag.
Der Kindesvater hat sein Begehren unter anderem damit begründet, dass er mit der Mutter "auf Augenhöhe" über die Belange des Kindes sprechen wolle. Außerdem sei es seine Absicht, auf die schulischen Belange J.s Einfluss zu nehmen, und er habe deshalb die Absicht, sich in den Elternbeirat wählen zu lassen. In diesem Zusammenhang räumt er ein, in der Vergangenheit - trotz entsprechender Vollmachten der Antragsgegnerin während der Grundschulzeit des Kindes - nicht mit der Schule oder der Klassenlehrerin Verbindung aufgenommen zu haben. Unstreitig kümmert er sich aber während der Umgangszeiten immer darum, dass J. genügend für die Schule tut, macht mit ihm Schularbeiten und übt mit ihm.
Daneben geht es ihm darum, in eventuellen medizinischen Notfällen, berechtigt zu sein, die erforderlichen Anweisungen oder Einwilligungen zu geben.
In der ersten Instanz war unstreitig, dass trotz des großzügigen Umgangsrechts zwischen den Kindeseltern eine Kommunikation, abgesehen von Besprechungen zur Organisation des Umgangs, praktisch nicht stattgefunden hat. Daraufhin ist - auf Anregung des Amtsgerichts - zunächst eine Erziehungsberatung durchgeführt worden, die das Ziel hatte, die Kommunikation zwischen den Eltern zu verbessern.
Dies hat nach Ansicht des Kindesvaters zu einem positiven Ergebnis geführt. Er hat die Ansicht vertreten, selbst wenn es künftig zu Kontroversen kommen sollte, entspräche dies der Normalität im Elternalltag.
Die Kindesmutter hat das Ergebnis der Erziehungsberatung nicht so positiv bewertet und befürchtet, der Antragsteller werde in alte Verhaltensmuster zurückfallen (er hat sie früher nicht einmal gegrüßt), wenn es erst zur Sorgerechtsübertragung gekommen sein sollte. Nach ihrer Darstellung hat es auch während der Erziehungsberatung keine Kommunikation, sondern nur Einzelgespräche und eine gemeinsame Schlussbesprechung gegeben. Dabei habe der Antragsteller erklärt, "er werde kämpfen bis in die letzte Instanz".
Neben Meinungsverschiedenheiten zum Wechselmodell, zu Hobbys und zur Freizeitgestaltung gab es zwischen den Kindeseltern zur Wahl der weiterführenden Schule für J. ursprünglich unterschiedliche Auffassungen (der Vater war für das Gymnasium, die Mutter für die IGS), letztlich hat aber der Vater dem Wechsel zur IGS zugestimmt.
Die Kindesmutter hat das auf die Absicht des Antragstellers zurückgeführt, während des laufenden Verfahrens keine Meinungsverschiedenheiten ausfechten zu wollen. Sie hat behauptet, tatsächlich relevante Fragen bespreche der Antragsteller aber nicht mit ihr, sondern mit J..
Trotz aller Differenzen halten sich beide Eltern gegenseitig für ausreichend erziehungsgeeignet.
Das Jugendamt der Stadt Wolfsburg hatte erstinstanzlich angesichts des relativ reibungslos verlaufenden Umgangs keine Notwendigkeit gesehen, an der Sorgerechtsituation etwas zu ändern.
Das Amtsgericht hat es für gerechtfertigt gehalten, die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts zumindest einmal zu probieren, da "die Entscheidung jederzeit wieder abgeändert werden" könne und derzeit nicht zu erwarten sei, dass die Eltern künftig gegeneinander arbeiten werden, so dass regelmäßig Streit bestehen werde.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde der Antragsgegnerin.
Sie hält die angefochtene Entscheidung nicht für richtig, weil ihrer Ansicht nach die gemeinsame elterliche Sorge mit dem Kindeswohl nicht zu vereinbaren ist.
Sie behauptet, nach wie vor spreche der Antragsteller nur das Nötigste mit ihr. So habe er es zum Beispiel abgelehnt, sie zum Inhalt eines Elternabends zu befragen und stattdessen J. aufgefordert, ausführlich Bericht zu erstatten, womit dieser überfordert gewesen sei.
Insbesondere bezüglich des vom Antragsteller angestrebten Wechselmodells hält sie einen erheblichen Konflikt für vorprogrammiert, zumal der Antragsteller Fragen dieser Art zunächst mit J. bespreche und entscheide, bevor Sie dann von J. informiert werde.
So habe er zum Beispiel auch nur mit J. besprochen, dass dieser auch den Nachnamen des Antragstellers tragen solle. (Dieses Vorhaben hat der Antragsteller inzwischen fallen gelassen.) Ebenso hatte er mit J. ohne vorherige Information der Mutter vereinbart, ihm täglich unter Zuhilfenahme einer Webcam über das Internet bei den Hausaufgaben zu helfen, ohne dies mit ihr besprochen zu haben.
Der Antragsteller hatte ihr auch die Auskunft darüber, wie viel Taschengeld er J. gebe, verweigert und erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat den Umfang und den Zweck seiner Taschengeldzahlungen erläutert.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die erstinstanzliche Entscheidung abzuändern und den Antrag des Antragstellers auf Einräumung der gemeinsamen elterlichen Sorge zurückzuweisen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und meint, es sei tatsächlich zu verantworten, die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts "zu probieren".
Er beanstandet, dass das Beschwerdevorbringen der Kindesmutter sich nur auf ihr Empfinden und ihr Wohl beziehe, nicht aber auf das Kindeswohl.
Er fühlt sich in seinem Begehren durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2010 (FamRZ 2010, 1403) bestätigt, wonach es nicht entscheidend auf das Verhältnis zwischen den Eltern ankomme, sondern auf das Verhältnis des Kindes zu beiden Elternteilen. Da die Beziehung zum Kindesvater aber von Anfang an gut und intensiv gewesen ist, entspricht es nach seiner Ansicht auch dem Kindeswohl, den Vater an der Sorgerechtausübung zu beteiligen.
Der Antragsteller hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat behauptet, die Kommunikation zwischen den Eltern habe bis zum Termin vor dem Amtsgericht "toll geklappt", das Verhältnis zur Mutter hat er als "super" empfunden. Die Kindesmutter will ihm nach seiner Einschätzung aber kein Mitspracherecht einräumen, weil sie keine Kontroversen wünsche, was es aber nach seiner Ansicht nicht rechtfertige, ihm die Teilhabe am Sorgerecht zu verweigern.
Dies gilt nach seiner Auffassung umso mehr, als die in der Vergangenheit praktizierte Ausübung des Umgangsrechts zeige, dass sich hier beide Eltern gemeinsam über das normale Maß hinaus um das Kind kümmerten, was sich nicht einmal durch das laufende Verfahren geändert habe.
Wegen weiterer Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der in der Beschwerdeinstanz gewechselten Schriftsätze, die Stellungnahmen des Jugendamtes und der Verfahrensbeiständin sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 21. Februar 2012 verwiesen.
II. Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Unter den vorliegend gegebenen Voraussetzungen entspricht es nicht dem Kindeswohl, die elterliche Sorge für J. von den Kindeseltern gemeinsam ausüben zu lassen.
Nach § 1626a BGB steht nicht verheirateten Eltern die elterliche Sorge dann gemeinsam zu, wenn sie erklären, dass sie die Sorge gemeinsam übernehmen wollen (Sorgeerklärung), im Übrigen hat die Mutter die elterliche Sorge. In Letzterem Fall kann der Vater mit Zustimmung der Mutter beantragen, dass ihm das Familiengericht die elterliche Sorge oder einen Teil davon allein überträgt. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn die Übertragung dem Wohl des Kindes dient (§ 1672 Abs. 1 BGB).
Diese Regelung, die es dem nichtehelichen Vater unmöglich macht, ohne Zustimmung der Mutter eine Sorgerechtsübertragung auf sich zu beantragen, hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 21. Juli 2010 (FamRZ 2010, 1403) für mit Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz unvereinbar erklärt. Es hat dies damit erklärt, dass die Regelung unverhältnismäßig in das Elternrecht des Vaters eingreife, wenn die Weigerung der Mutter, der gemeinsamen Sorge mit dem Vater zuzustimmen, nicht gerichtlich am Maßstab des Kindeswohls überprüft werden könne.
Das Erfordernis der Zustimmung der Mutter dient nach Auffassung des Gerichts zwar einem legitimen Ziel, indem eine Kindeswohlgefährdung aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft oder -fähigkeit der Eltern vermieden werden soll. Das Verfassungsgericht hat jedoch Zweifel an der Erforderlichkeit des Zustimmungserfordernisses geäußert und diesen Eingriff in das väterliche Elternrecht jedenfalls mangels der Möglichkeit einer gerichtlichen Einzelfallprüfung als unverhältnismäßig angesehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat es einerseits als nicht gerechtfertigt angesehen, den Ausschluss des Vaters von der Alleinsorge gemäß § 1672 Abs. 1 BGB allein mit einer mangelnden Kooperationsfähigkeit der Eltern zu rechtfertigen. Andererseits sei aber auch zu berücksichtigen, dass eine Übertragung der Alleinsorge auf den Vater schwerwiegend in das Elternrecht der Mutter eingreife und damit erhebliche Folgen für das Mutter-Kind-Verhältnis sowie die Lebenssituation des Kindes verbunden seien.
Demgegenüber komme es im Falle einer Antragstellung nach § 1671 BGB (Fall der Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge) nicht auf die fehlende Übereinstimmung der Eltern, sondern auf das Kindeswohl für die Sorgerechtszuweisung maßgeblich an. Es sei deshalb kein Grund ersichtlich, nicht auch bei der Begründung gemeinsamer elterlicher Sorge vorrangig auf das Kindeswohl abzustellen.
Als Folge der bestehenden Unvereinbarkeit der Regelungen aus den §§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 und 1672 Abs. 1 BGB mit Art. 6 Abs. 2 GG ergibt sich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weder die Nichtigkeit noch die Unanwendbarkeit der Vorschriften, da anderenfalls selbst bei übereinstimmendem Willen der Eltern keine Sorgerechtsübertragung mehr möglich wäre.
Das Bundesverfassungsgericht hat es deshalb für notwendig angesehen, dass dem Kindesvater eine Möglichkeit eingeräumt wird, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob er aus Gründen des Kindeswohls an der elterlichen Sorge zu beteiligen oder ihm - auch in Abwägung seines Elternrechts mit dem der Mutter - die alleinige Sorge für das Kind zu übertragen ist.
Ein am Kindeswohl orientierter Prüfungsmaßstab soll sicherstellen, dass die Belange des Kindes maßgeblich Berücksichtigung finden, jedoch die Zugangsvoraussetzungen zur gemeinsamen Sorge nicht zu hoch angesetzt werden (Bundesverfassungsgericht, aaO. Rn. 75).
Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung hat das Bundesverfassungsgericht zudem vorläufig angeordnet, dass das Familiengericht - in Anlehnung an die Regelung in § 1671 BGB - den Eltern auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge gemeinsam überträgt, soweit zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht.
Unter Berücksichtigung dieser Prämissen hat es im vorliegenden Einzelfall bei der bisherigen Alleinsorge der Kindesmutter zu verbleiben, weil nur dies dem Wohl des Kindes entspricht.
Zwischen den Kindeseltern bestehen nach den vom Senat in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrücken unüberbrückbare Differenzen, die maßgeblich auf der Befürchtung der Antragsgegnerin beruhen, der Antragsteller werde seine durch die Einräumung des Mitsorgerechts gewonnene Position dazu ausnutzen, ihre Mitwirkungsmöglichkeiten an der Entwicklung J.s immer weiter zurückzuführen, so dass sie auf die Entwicklung des Kindes letztlich keinen wesentlichen Einfluss mehr nehmen könne. Diese Befürchtungen der Kindesmutter, die J. nicht verborgen bleiben und auch ihn belasten, kann der Senat nachvollziehen. Er geht davon aus, dass die Beibehaltung der Alleinsorge der Kindesmutter dem Kindeswohl am besten entspricht; aus folgenden Gründen:
Zwar entspricht es grundsätzlich dem Wohl des Kindes, wenn es in dem Bewusstsein lebt, dass beide Elternteile für es Verantwortung tragen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Kind - wie hier - zu beiden Elternteilen eine gute Beziehung hat und wenn sich beide um es kümmern und Kontakt mit ihm pflegen. Eine gemeinsame elterliche Sorge ist allerdings nur möglich, wenn zwischen den Eltern nicht nur ein Mindestmaß an Übereinstimmung besteht, sondern wenn sie kooperationsfähig und -bereit sind und über eine angemessene Kommunikationsbasis verfügen.
Diese Voraussetzungen scheinen vorliegend auf den ersten Blick zwar gegeben zu sein. Bei näherer Betrachtung wird aber deutlich, dass beide Elternteile ihre Vorbehalte - auf Seiten der Kindesmutter sogar ihre Befürchtungen - gegen den jeweils anderen Elternteil nur vor J. nicht deutlich offenbaren, gleichwohl aber auf der einen Seite Befürchtungen und auf der anderen Seite Überlegenheitsgefühle in einem so erheblichen Maße vorhanden sind, dass sie ein dauerhaftes vertrauensvolles Zusammenwirken im Interesse des Kindeswohls ausschließen. Die Folgen der beiderseitigen "Vorbehalte" sind nur deshalb noch nicht in vollem Umfang "zum Ausbruch gekommen", weil die derzeit noch bestehende Sorgerechtsregelung der Mutter dadurch Sicherheit verleiht, dass sie noch "das letzte Wort hat", während der Vater noch Zurückhaltung übt, um den Befürchtungen der Kindesmutter nicht neue Nahrung zu liefern.
Eine bedingte Kooperationsfähigkeit und -willigkeit, wie sie bei einer das Kindeswohl nicht gefährdenden gemeinsamen Sorgerechtsausübung erforderlich ist, liegt bei den Kindeseltern deshalb nur scheinbar vor. Dies ist nicht nur der Eindruck des Senats, sondern auch die Verfahrensbeiständin und die Vertreterin des Jugendamtes sind aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2012 und der vorangegangenen Gespräche zu dieser Einschätzung gelangt. Die Vertreterin des Jugendamtes hat erklärt, sie habe selten so schwierige Gespräche mit zwei Elternteilen wie in diesem Fall anlässlich der Vorbereitung des Termins vor dem Senat gehabt. Es sei praktisch zu keiner der in dem Gespräch thematisierten Fragen (zum Beispiel Wechselmodell und Englandurlaub) Einigkeit erzielt worden, weil nach ihrer Ansicht die Eltern unterschiedliche Wahrnehmungen vom jeweiligen Geschehen hätten. Den klarsten Blick auf die jeweils anstehenden Fragen hat nach ihrer Einschätzung J., der die Situation scheinbar unbeeindruckt verarbeite und analysiere.
Auch die Verfahrensbeiständin hat zum Schluss der mündlichen Verhandlung ihr Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass die Kindeseltern in der Vergangenheit nicht mehr an ihrer Kommunikationsfähigkeit gearbeitet haben. Nach ihrer Einschätzung wäre bei diesen Eltern nicht eine Erziehungsberatung (wie sie tatsächlich ansatzweise stattgefunden hat), sondern eine Schulung des Kommunikationsverhaltens in Verbindung mit dem Versuch, gegenseitige Vorbehalte abzubauen, erforderlich gewesen. Ein wirklich gemeinsames Bemühen der Kindeseltern um die Belange J.s hat auch sie nicht festgestellt.
Die dargestellten Einschätzungen decken sich mit den vom Senat in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrücken.
Der stärkste Eindruck war der, dass die Antragsgegnerin ihre Zustimmung zur gemeinsamen elterlichen Sorge nicht willkürlich und aus Eigeninteresse mit dem Ziel, den Antragsteller im Verhältnis zum Kind zu "degradieren" oder ihm ihre "Position" zu demonstrieren, verweigert, sondern weil sie Angst davor hat, den Vorhaben und Einflussnahmen des Antragstellers nichts mehr entgegensetzen zu können, wenn er zusammen mit ihr Sorgerechtsinhaber wäre. Sie hat eindrucksvoll berichtet, wie ihr der Antragsgegner bei einer Veranstaltung anlässlich einer Kindergeburtstagsfeier für J. das Wort verboten hat, ihr bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Jugendamt droht und ihr "Ego-Probleme" vorwirft. Bei Erörterungen anstehender Fragen lasse er sie nicht ausreden, drohe mit dem Jugendamt und kündige an, seine Vorhaben bis in die letzte Instanz auszurichten.
Der Antragsteller hat diese Vorwürfe nicht bestritten, sie aber als Einzelfälle bezeichnet und - wie auch schon gegenüber dem Jugendamt - versprochen, sein Verhalten gegenüber der Antragsgegnerin zu verändern und zu verbessern.
Insoweit hat der Senat aber nur geringe Hoffnungen auf eine Umsetzung dieses Vorhabens, da der Antragsteller auch in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll demonstriert hat, dass es schwer ist, ihn zum Überdenken seiner Vorstellungen zu bewegen und in seiner Argumentation zu bremsen, wenn er erst einmal zur Darlegung seiner Ansichten angesetzt hat. So hat er den Vorwurf, die Antragsgegnerin in der Vergangenheit nicht gegrüßt zu haben, als Einzelfälle bezeichnet, in denen er aufgrund vorangegangenen Verhaltens der Antragsgegnerin "sprachlos" gewesen sei.
Bezeichnend erscheint dem Senat auch das Verhalten des Antragsgegners bei der Erörterung der Frage, welche Schulform für J. gewählt werden sollte. Nachdem er sich zunächst eindeutig gegen die Empfehlung der Schule und den Wunsch der Mutter ausgesprochen und gegenüber J. den Wunsch geäußert hatte, er solle nicht die IGS, sondern das Gymnasium besuchen, hat er dann doch sein Einverständnis mit der Wahl der Kindesmutter erklärt. Seine vor dem Senat abgegebene Erklärung, er habe sich später schlau gemacht und festgestellt, dass die IGS eine in den skandinavischen Ländern erfolgreiche Schulform sei, zeigt, dass der Antragsteller dazu tendiert, von der Kindesmutter favorisierten Entscheidungen zunächst zu widersprechen. Dass die Schulform der IGS in den skandinavischen Ländern mit Erfolg praktiziert wird, ist zum einen kein zwingendes Argument dafür, dass diese Schulform auch im Rahmen des niedersächsischen Schulsystems funktioniert. Zum anderen hätte der Antragsgegner sich diese Erkenntnis schon verschaffen können, bevor er zu dieser Frage eine das Kind belastende Auseinandersetzung mit der Kindesmutter begann.
In einigen Bereichen scheint dem Antragsteller das nötige Einfühlungsvermögen zu fehlen, zum Teil aber auch die Kompetenz; so zum Beispiel, wenn er die erste Zwischenbeurteilung J.s, die nicht nur positiv ausgefallen ist, mit den Worten kommentiert, so etwas wolle er "nicht noch einmal sehen", während die Kindesmutter der Ansicht ist, die Beurteilung sei in Ordnung und entspreche den Leistungen und Befähigungen J.s. Auch wenn der Antragsteller mit seiner Bemerkung nur den Ehrgeiz J.s wecken wollte, wie er erklärt hat, zeigt dies doch unterschiedliche Einschätzungen der Fähigkeiten des Kindes und unterschiedliche Vorstellungen über die Wege zur Überwindung vorhandener Schwächen.
In diesen Zusammenhang gehört auch die von den Eltern unterschiedlich bewertete Anschaffung des Laptops. Während der Antragsteller ohne endgültige Abstimmung mit der Antragsgegnerin schon im Laufe des ersten Schulhalbjahres in der IGS einen Laptop mit Digitalkamera gekauft hatte, um auf diesem Wege J. bei den Hausaufgaben auch an den Tagen, die dieser nicht beim Vater verbringt, helfen zu können, hat die Antragsgegnerin diese Form der Hausaufgabenbetreuung "in ihren Haushalt hinein" im Ergebnis dann abgelehnt. Eine genaue Abstimmung über diese Frage hatte zwischen den Eltern vorher nicht stattgefunden. Inzwischen findet dieses Modell der Hausaufgabenbetreuung auch nicht mehr statt. Nach den Angaben J.s vor dem Senat ist es auch nicht erforderlich.
Ein ähnliches Verhalten zeigte der Antragsteller bei dem mit J. erörterten - inzwischen aber nicht mehr verfolgten - Vorhaben, diesem Klavierunterricht erteilen zu lassen. Dies hat der Antragsteller nicht etwa mit der Kindesmutter besprochen, sondern nur mit J. und die Ansicht vertreten, das Kind könne die Mutter ausreichend über das Vorhaben unterrichten. Seine Erklärung, diesen Plan während einer Autofahrt mit J. entwickelt zu haben und deshalb die Antragsgegnerin nicht eingebunden zu haben, vermag sein Verhalten nicht genügend zu erklären. Klavierunterricht ist keine Freizeitaktivität, die man so nebenbei erledigen kann. Neben den Besuchen der Klavierstunden erfordert er einen erheblichen Zeitaufwand für das notwendige Üben. Angesichts der Tatsache, dass J. mit der Vor- und Nachbereitung des Schulunterrichts schon erheblich belastet war und es eigentlich nach Einschätzung beider Elternteile wünschenswert wäre, dass er sich daneben sportlich betätigt, wäre es erforderlich gewesen, solche Vorhaben mit der Mutter zu besprechen anstatt den Jungen, der nach Angaben der Mutter eigentlich Schlagzeug spielen wollte, mit solchen Plänen zu behelligen; zumal der Antragsteller weiß, dass sein Wort und seine Vorhaben für J. erhebliches Gewicht haben.
Im übrigen hält der Senat es dem Kind gegenüber für unverantwortlich, das Kind als Boten für Nachrichten an die Mutter einzusetzen, insbesondere wenn absehbar ist, dass die zu überbringende Nachricht auf Widerstand der Kindesmutter stoßen wird, so dass der Sohn die erste - unter Umständen heftige - Abwehrreaktion der Mutter zu ertragen hat. Der Senat hat keinerlei Verständnis dafür, dass der Antragsgegner auf diese Weise J. als Nachrichtenüberbringer und "Puffer" missbraucht und leitet daraus auch die Befürchtung ab, dass diese Botenfunktion umso mehr ausgeweitet würde, je weiter die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Vaters zunehmen würden.
Für bezeichnend für das falsche Verständnis des Antragstellers von einer funktionierenden Kommunikation über Kindesbelange hält der Senat auch die Tatsache, dass er die Kindesmutter erst auf ausdrückliche Aufforderung durch die Vorsitzende in der mündlichen Verhandlung darüber informiert hat, wie viel Taschengeld er an J. zu welchen Zwecken zahlt. Auch dies sind erzieherische Aspekte, die unter verantwortungsbewussten Eltern normalerweise abgestimmt werden, weil es wichtig ist zu wissen, mit wieviel Bargeld in der Tasche ein elfjähriges Kind unterwegs ist und weil dessen Verwendung vernünftigerweise überwacht werden muss.
In dieses beim Antragsteller festzustellende Verhaltensmuster passt auch der - inzwischen angeblich wieder aufgegebene - Plan, J. einen Doppelnamen zu geben. Dabei hat der Antragsteller weder eine Erklärung für dieses Vorhaben noch für dessen Aufgabe gegeben. Die Vermutung der Kindesmutter, dies sei unter dem Eindruck des laufenden Verfahrens erfolgt, erscheint nicht abwegig.
Die vom Jugendamt festgestellte unterschiedliche Sichtweise der Parteien zeigt sich auch darin, dass der Antragsteller Fehlverhalten dieser Art in der Vergangenheit (zum Beispiel die Äußerung gegenüber J., mit der Mutter nicht sprechen zu wollen, so dass J. ihr erforderliche Mitteilungen überbringen könne) zwar einräumt, aber meint, mit der Erklärung, sich bessern zu wollen, die Gründe für die Vorbehalte der Mutter beseitigt zu haben.
Darin kommt zum Teil auch die von der Antragsgegnerin beklagte Missachtung ihr gegenüber zum Ausdruck. Wenn die Kindesmutter solche Verhaltensweisen des Antragstellers nicht einfach "abhakt", sondern als Grund für Vorbehalte ihm gegenüber anführt, handelt es sich dabei nach Ansicht des Senats nicht um ein "Ego-Problem" der Antragsgegnerin, sondern um die nachvollziehbare Deutung von Anzeichen, dass der Antragsteller Befindlichkeiten der Mutter nicht ernst nimmt.
Das kommt auch in seiner eigenen Einschätzung des Verhältnisses zur Antragsgegnerin bis zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung zum Ausdruck. Wenn er dieses Verhältnis als "toll" und "ideal" bezeichnet, während (oder weil) die Kindesmutter die oben dargestellten Verhaltensweisen hingenommen oder ertragen hat, zeigt auch dies die vom Jugendamt festgestellte unterschiedliche Sicht der Eltern auf die tatsächlichen Gegebenheiten.
Vordergründig ist das Zusammenwirken der Kindeseltern im Zusammenhang mit der Abwicklung des Umgangsrechts, der Hausaufgabenbetreuung und der Förderung J.s nicht zu beanstanden. Bei Meinungsverschiedenheiten ist in der Vergangenheit jeweils eine Lösung gefunden worden, wobei von einem Einvernehmen nicht ohne weiteres in jedem Falle ausgegangen werden kann, weil im Zweifel der Antragsgegnerin ohnehin die letzte Entscheidungsbefugnis zugestanden hat.
Und dieses "Modell" hat in der Vergangenheit "funktioniert". J. hat zu beiden Elternteilen ein entspanntes Verhältnis. Er liebt und achtet sie und hat bei der Anhörung durch den Senat den Eindruck erweckt, dass er die Probleme, die seine Eltern miteinander haben, kennt und mit ihnen umgehen kann. Mit seiner eigenen derzeitigen Situation ist er zufrieden und wünscht keine Veränderung, weder vom Umfang des Umgangs mit dem Vater her noch vom Sorgerecht her. Er meint zu Letzterem, die Mutter habe "es immer gut gemacht und er sehe nicht, warum daran jetzt etwas geändert werden sollte".
Diese Darstellung und die Stellungnahme J.s vor dem Senat klang sehr vernünftig und verständig, in Teilbereichen der Äußerungen zu verständig. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die derzeitige Auseinandersetzung der Eltern um das Sorgerecht J. mehr belastet, als dieser zugibt und dass er versucht - was ihm zum Teil auch gelingt - seine Probleme mit scheinbar souveränem Umgang mit den Meinungsverschiedenheiten seiner Eltern zu überspielen. Dabei wirken sein Verhalten und seine Äußerungen zum Teil nicht altersgerecht, sondern eher altklug und zum Teil gekünstelt. Äußerungen und Formulierungen in dieser Form hätte man eher von außenstehenden Erwachsenen erwartet, aber nicht von einem noch nicht elf Jahre alten Kind.
Auch die Verfahrensbeiständin, Frau ..., hat in ihrem Bericht vom 29. November 2011 ihren Eindruck wiedergegeben, dass J. "durch die Streitigkeiten seiner Eltern stärker belastet ist, als gut für ihn wäre", hat also trotz des scheinbare souveränen Umgangs des Kindes mit den Problemen der Eltern erkannt, dass die vorliegenden Umstände J. erheblich belasten.
Der Senat hat aufgrund der vorstehenden Ausführungen die Befürchtung, dass sich die Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen den Kindeseltern verschärfen würden, wenn ein gemeinsames Sorgerecht der Eltern eingerichtet würde. Durch diese Konflikte würde auch J. weiterhin und voraussichtlich zunehmend belastet, während der Senat sich von einer Entscheidung, nach der es bei der bisherigen Regelung verbleibt, verspricht, dass Ruhe in das Verhältnis zwischen den Kindeseltern einkehrt und sich vielleicht doch im Laufe der Jahre ein normales und entspanntes Verhalten im Umgang miteinander ergibt, was sich auch für J. positiv auswirken würde. Er könnte dann die vom äußeren Anschein her idealen Bedingungen, die ihm seine Eltern durch ihre persönlichen und finanziellen Möglichkeiten und ihr Engagement - trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Vorbehalte gegeneinander - schaffen, unbeschwert nutzen. Zudem würde dadurch auch die Gefahr vermieden, dass er bei weiterhin erbittert ausgefochtenen Meinungsverschiedenheiten seiner Eltern seine Rolle als "Objekt der Bestrebungen" ausnutzt, um die Eltern zum eigenen (alsbald auch finanziellen?) Vorteil gegeneinander auszuspielen, was nach den Erfahrungen des Senats aus vergleichbaren Fällen nicht selten geschieht und im Ergebnis nicht nur zu noch härter geführten Konflikten zwischen den Eltern, sondern auch zu einer noch schwereren Belastung des Kindes führen würde.
Unter den gegebenen Umständen hat der Senat auch davon abgesehen, dem Kindesvater in Teilbereichen der elterlichen Sorge (zum Beispiel schulische Belange und Gesundheitsfürsorge) ein Mitsorgerecht einzuräumen. Zum einen hatte die Kindesmutter den Antragsteller schon in der Vergangenheit (zur Grundschulzeit) mit allen Vollmachten ausgestattet, die er benötigt hätte, um sich in der Schule im Interesse J.s einzubringen. Sie wäre auch bereit, solche Bevollmächtigungen wieder zu erteilen. Der Senat versteht aber auch die Ablehnung einer solchen "kleinen Lösung" durch die Antragsgegnerin, die befürchtet, wenn sie dem Antragsteller erst "den kleinen Finger gereicht habe, werde der bald die ganze Hand nehmen". Ihre Befürchtung stützt sie unter anderem auch darauf, dass der Antragsteller während der Grundschulzeit die ihm von ihr eingeräumten Befugnisse - unstreitig - nicht ein einziges Mal wahrgenommen hat, woraus sie die nachvollziehbare Befürchtung ableitet, dass der Antragsteller hier nur Argumente anführt, die sein in diesem Verfahren verfolgtes Begehren nachvollziehbar erscheinen lassen sollen, um nach Erlangung der formellen Rechtsposition in viel weiterem Umfang Einfluss nehmen zu können.
In diesem Zusammenhang verfängt auch nicht das Argument, es sei in absehbarer Zeit in schulischen Dingen ohnehin nichts Wesentliches zu entscheiden. Zum einen steht aktuell die Entscheidung zur Wahl der zweiten Fremdsprache an. Zum anderen hat die Kindesmutter als Beispiel vorhersehbarer Konflikte die Möglichkeit angeführt, dass eventuell entschieden werden müsse, ob J. auf Empfehlung der Schule vorsorglich eine Klasse wiederholen solle. In Fällen dieser Art sieht sie - verständlicherweise - erhebliches Konfliktpotenzial. Fragen ähnlicher Art haben in der Vergangenheit trotz des Alleinsorgerechts der Antragsgegnerin bereits zu den das Kind belastenden Auseinandersetzungen geführt. Eine gemeinschaftliche Entscheidungsbefugnis würde die Situation nicht verbessern, sondern eher verschärfen.
Auch das Argument des Antragstellers, auch in funktionierenden Ehen komme es zu Meinungsverschiedenheiten über Probleme der vorliegenden Art und die Eheleute müssten sich damit auseinandersetzen und letztlich auf eine Lösung einigen, verfängt nicht. In "funktionierenden" Familien ist der Druck, Einvernehmen zu erzielen, wegen des Zusammenlebens der Familie in einem Haushalt viel stärker als bei getrennt lebenden Eltern. Schon deshalb ist dieser Vergleich hier nicht weiterführend.
Im Ergebnis ist nach alledem unter den vorliegenden Verhältnissen ein gemeinschaftliches Sorgerecht der Kindeseltern im Interesse des Kindeswohls - auch probeweise - nicht zu verantworten, so dass die Entscheidung des Amtsgerichts abzuändern und der Antrag des Antragstellers zurückzuweisen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 FamFG.