Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 02.05.2012, Az.: Ss (Owi) 72/11

Strafklageverbrauch; Nichtabführen von Sozialversicherungsbeiträgen; Mindestlöhne; Unterschreiten von Mindestlöhnen; Endgültige Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung von Auflagen

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
02.05.2012
Aktenzeichen
Ss (Owi) 72/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44373
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die nach Erfüllung von Auflagen endgültige Einstellung des wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB) geführten Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft steht der Verfolgung des auf demselben Sachverhalt (Bauvorhaben) beruhenden Vorwurfs der Ordnungswidrigkeit wegen Unterschreitens von Mindestlöhnen (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF -jetzt § 23 Abs. 1 Nr. 1 AEntG) nicht entgegen.

2. Die Ordnungswidrigkeit gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG a.F. wegen Nichtzahlens von Beiträgen zur Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes kann hingegen nicht weiter verfolgt werden, da die durch die Einstellung ausgelöste Sperrwirkung des § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO der Anwendung des § 21Abs. 2 OWiG vorgeht.

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Braunschweig wird das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 14. Februar 2011, soweit das Verfahren hinsichtlich der Ordnungswidrigkeit gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG a.F. (Unterschreiten des Mindestlohns) eingestellt wurde, mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Es wird klargestellt, dass es hinsichtlich der Ordnungswidrigkeit gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG a.F. (Unterlassene Anmeldung der Mitarbeiter bei der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes - SoKa Bau) bei der vom Amtsgericht vorgenommenen Einstellung des Verfahrens verbleibt.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Braunschweig zurückverwiesen.

Gründe

Die Rechtsbeschwerde hat einen vorläufigen Erfolg.

I.

Die Betroffene ist polnische Staatsangehörige und war Inhaberin eines an ihrer Familienwohnanschrift ansässigen Gewerbebetriebs, der sich u. a. mit dem Innenausbau sowie Erd- und Baggerarbeiten befasste. Während die Betroffene nach außen als Geschäftsinhaberin auftrat besorgte das operative Geschäft ihr deutscher Ehemann.

Mit Bescheid vom 18. Juni 2009 setzte das Hauptzollamt Braunschweig gegen die Betroffene wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen die Mindestlohnvorschriften des Arbeitnehmer - Entsendegesetzes (AEntG) sowie aus diesem Gesetz folgende Aufzeichnungspflichten drei Geldbußen von insgesamt 33.500,--€ wie folgt fest:

a) Bei vier Arbeitnehmern, für die auch keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden sind, wurden im Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.05.2007 die Mindestlöhne um 4.435,43 € unterschritten, weswegen gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG a.F. eine Geldbuße von 15.000,-- € verhängt wurde.

b) Entgegen § 1 Abs. 3 Satz 3 AEntG a.F. wurde es von der Betroffenen unterlassen, die bei ihr tätigen Arbeitnehmer in der Zeit von Oktober 2003 bis März 2007 bei der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG - Einzugsstelle ...- anzumelden und entsprechende Beiträge abzuführen, wodurch ein Beitragsschaden von 3.168,44 € entstanden ist. Deswegen wurde gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG a.F. ein Bußgeld von 11.000,--€ festgesetzt.

c) Schließlich hat die Betroffene entgegen § 2 Nr. 2 lit. a AEntG a.F. nicht für jeden Beschäftigten Aufzeichnungen über Beginn, Ende und Dauer der tatsächlichen Arbeitszeit erstellt und gegen die Aufbewahrungspflicht verstoßen, was gem. § 5 Abs. 1 Nr. 6 AEntG a.F. zur Festsetzung einer Buße von 7.500,--€ geführt hat.

Die zugrundeliegenden Taten umschreibt der Bußgeldbescheid wie folgt:

"Die Betroffene hat als Arbeitgeberin ihren Arbeitnehmern nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn gezahlt (§ 1 Abs. 1 Satz 2 AEntG), die Beiträge zur Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes (...) nicht abgeführt (§ 1 Abs. 3 Satz 2 AEntG) und für 6 Arbeitnehmer die Aufzeichnung der Arbeitszeit nicht geführt (§ 2 Abs. 2a AEntG), sie hat damit vorsätzlich eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 6 Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG - begangen.

Die Betroffene war Inhaberin des Gewerbebetriebes E. S. in .... Gegenstand des Gewerbes war der Innenausbau als Trocken- und Akkustikbau, Hausmeisterei als Hausverwaltung, Holz- und Bautenschutz, Garten- und Landschaftsbau, Erd- und Baggerarbeiten. Das Gewerbe wurde vom 21.01.2003 bis zum 10.02.2009 als Einzelfirma geführt und war nicht im Handelsregister eingetragen.

Bei dem Gewerbebetrieb handelt es sich um einen Betrieb des Bauhauptgewerbes im Sinne des § 175 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und der §§ 1 und 2 der Baubetriebe-Verordnung, für den die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages anzuwenden sind (§ 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 AEntG). Dies gilt auch für einen unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitgeber mit Sitz im Inland (§ 1 Abs. 1 Satz 3 AEntG).

Am 19.11.2007 und 20.11.2007 fand auf dem Bauvorhaben ... und ... in ... eine Außenprüfung des Hauptzollamtes Berlin gemäß § 2 Abs. 1 SchwarzArbG statt. Die dort aufgenommenen Daten sind dem Hauptzollamt Braunschweig zur Prüfung übersandt worden, weil sich der Betriebssitz im Zuständigkeitsbereich des Hauptzollamtes Braunschweig befindet.

Am 27.02.2008 fand in den Geschäftsräumen des o. a. Gewerbebetriebes eine Außenprüfung des Hauptzollamtes gemäß § 2 Abs. 1 SchwarzArbG statt.

Die Prüfung beinhaltet unter anderem, ob vom Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen nach Maßgabe des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes eingehalten wurden oder werden (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 SchwarArbG).

Im Rahmen der Prüfung wurde festgestellt, dass für die Arbeitnehmer nicht, der nach dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag zur Regelung eines Mindestlohnes im Baugewerbe im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TV Mindestlohn), festgesetzte Mindestlohn gezahlt wurde.

Nach dem Tarifvertrag vom 29.10.2003 beträgt der Mindestlohn

ab 01.09.2004 = 10,36 EUR/Std in der Lohngruppe 1 und 12,47 EUR/Std Lohngruppe 2.

Nach dem Tarifvertrag vom 29.07.2005 beträgt der Mindestlohn

ab 01.09.2005 = 10,20 EUR/Std in der Lohngruppe 1 und 12,30 EUR/Std Lohngruppe 2,

ab 01.09.2006 = 10,30 EUR/Std in der Lohngruppe 1 und 12,40 EUR/Std Lohngruppe 2,

ab 01.09.2007 = 10,40 EUR/Std in der Lohngruppe 1 und 12,50 EUR/Std Lohngruppe 2.

Der Arbeitnehmer H... K ... war nach eigenen Angaben als Bauhilfsarbeiter tätig, im Arbeitsvertrag wurde er als Trockenbauer eingestellt. Damit war er nach dem Tarifvertrag mindestens der Lohngruppe 1 zuzuordnen.

Der Arbeitnehmer G ... L ... war als Vorarbeiter tätig. Er war nach dem Tarifvertrag mindestens der Lohngruppe 2 zuzuordnen.

Der Arbeitnehmer V ... L ... wurde als Bauhilfsarbeiter beschäftigt. Er war nach dem Tarifvertrag mindestens der Lohngruppe 1 zuzuordnen.

Der Arbeitnehmer K ... B ... war als Bauhelfer beschäftigt. Er war nach dem Tarifvertrag mindestens der Lohngruppe 1 zuzuordnen."

Sodann war Bestandteil des Bußgeldbescheids eine Tabelle, in der die jeweiligen Arbeitnehmer, die Beschäftigungszeiten, die geleisteten Arbeitsstunden und der gezahlte Lohn im Einzelnen mitgeteilt und berechnet wurden.

Auf den fristgerecht eingelegten Einspruch der Betroffenen beraumte das Amtsgericht Termin zur Hauptverhandlung an, an dem die Staatsanwaltschaft teilnahm. Mit dem angefochtenen Urteil setzte das Amtsgericht wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen § 5 Abs. 1 Nr. 6 AEntG (Verstoß gegen Aufzeichnungspflichten) in fünf Fällen eine Geldbuße von 500,--€ fest, sah sich an der Verfolgung der weiteren Ordnungswidrigkeiten wegen Art. 103 Abs. 3 GG, §§ 153a Abs. 1 Nr. 5 StPO, 84 Abs. 1 OWiG) gehindert und stellte das Verfahren im Übrigen (d.h. wegen des Unterschreitens des Mindestlohnes sowie der an die ... nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge) wegen eines Verfahrenshindernisses (Verbot der Doppelbestrafung, Strafklageverbrauch) deshalb ein.

Dem lag Folgendes zugrunde:

Unter dem Aktenzeichen 103 Js 15177/08 hatte die Staatsanwaltschaft gegen die (vorliegend) Betroffene ein ebenfalls aus der o.g. Außenprüfung des Hauptzollamts hervorgegangenes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (Vergehen gem. § 266a StGB) geführt, wobei sich aus dem jenem Verfahren zugrundeliegenden Schlussbericht des Hauptzollamts Braunschweig vom 03.04.2009 (Bl. 190ff der BAe 103 Js 15177/08 StA Braunschweig) ergibt, dass es dabei gerade auch um die Sozialversicherungsbeiträge für die auch dem Bußgeldbescheid zugrunde liegenden Beschäftigten K, L ..., L ... und B ... ging, die - über die tatsächlich gezahlten Beträge hinaus - hätten gezahlten werden müssen, wenn sie anhand der geschuldeten Mindestlöhne berechnet worden wären.

Mit Bescheid vom 12.06.2009 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gem. § 153a StPO zunächst vorläufig und nach Erfüllung der geforderten Geldauflage von 400,--€ sodann mit Verfügung vom 07.07.2009 endgültig ein.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts hat die Staatsanwaltschaft form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, die sie nach Zustellung des schriftlichen Urteils auf die erfolgte Einstellung des Verfahrens beschränkt und sodann mit der Verletzung materiellen Rechts begründet hat. Die Staatsanwaltschaft vertritt die Ansicht, dass die im Verfahren 103 Js 15177/08 erfolgte Einstellung gem. § 153a StPO der Verfolgung der Ordnungswidrigkeiten nach dem AEntG nicht entgegensteht. Dem hat sich die Generalstaatsanwaltschaft angeschlossen und hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

Im Hinblick darauf, dass sich das Amtsgericht zur Frage des Strafklageverbrauchs auf die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 09.04.2009 (SsBs 48/09) und des Thüringer Oberlandesgerichts vom 27.08.2009 (1 Ss 213/09) stützen konnte, hat der Senat, der im Sinne des vorliegenden Beschlusses entscheiden wollte, die Sache zwecks höchstrichterlicher Klärung gem. §§ 121 Abs. 2 GVG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

"Führt eine nach § 153a StPO erfolgte endgültige Einstellung eines wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB) geführten Ermittlungsverfahren zu einem Verfahrenshindernis wegen Strafklageverbrauchs gegenüber einem wegen Nichtzahlung des Mindestlohns gesondert geführten Bußgeldverfahren, wenn die Verkürzung der Sozialversicherungsbeiträge allein auf der Unterschreitung des Mindestlohnes beruht?"

Mit Beschluss vom 15.03.2012 hat der Bundesgerichtshof (5 StR 288/11) die Vorlagefrage wie folgt beantwortet:

"Sieht die Staatsanwaltschaft nach der Erfüllung von Auflagen von der Verfolgung eines Vergehens des Vorenthaltens und der Veruntreuung von Beiträgen (§ 266a StGB) nach § 153a Abs. 1 StPO endgültig ab, so steht § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO der Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF (nunmehr § 23 Abs. 1 Nr. 1 AEntG) wegen der Unterschreitung von Mindestlöhnen (§ 1 Abs. 1 AEntG aF) nicht entgegen."

II.

1. Nach der vom Senat durch die Vorlage herbeigeführten höchstrichterlichen Klärung der Rechtslage durch den Bundesgerichtshof steht nunmehr fest, dass die vom Amtsgericht vorgenommene teilweise Einstellung betreffend die Ordnungswidrigkeit gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG a.F. (Unterschreiten des Mindestlohns - Geldbuße: 15.000,--€) nicht hätte erfolgen dürfen. Trotz der zu beachtenden Gemeinsamkeiten - gleicher Personenkreis, Berechnung von Lohn- und Sozialabgaben durch ein Steuerberatungsbüro, Unkenntnis der Betroffenen von der Mindestlohnpflicht, die zugleich einhergeht mit der fehlenden Vorstellung, dass höhere Sozialabgaben zu zahlen sind - handelt es sich bei dem von der Einstellung gem. § 153 a StPO erfassten Sachverhalt und demjenigen, der dem Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Unterschreitens der Mindestlöhne zugrunde liegt, sowohl materiell-rechtlich als auch prozessual um unterschiedliche Taten, so dass Strafklageverbrauch nicht eingetreten ist.

Im Verhältnis zum materiellen Recht ist der prozessuale Tatbegriff zwar selbständig (Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. Rdnr. 6 zu § 264), jedoch sind sachlichrechtlich selbständige Taten in der Regel auch prozessual selbständig (BGHSt 35, 14, 19; BGHSt 36, 151, 154). Vorliegend steht der Vorwurf nach § 266a StGB zu dem nach § 5 AEntG a. F. in Tatmehrheit (§ 53 StGB).

Beide Vorwürfe beruhen auf Nichthandeln der Betroffenen. Sie hat es zum einen unterlassen, ihren Mitarbeitern den geschuldeten Mindestlohn zu zahlen und hat zum anderen die Sozialversicherungsbeiträge, die sich anhand der Mindestlöhne ergeben hätten, nicht vollständig abgeführt. Handelt es sich danach bei beiden Vorwürfen um Unterlassungsdelikte, dann ist für die Frage, ob Tateinheit oder Tatmehrheit gegeben ist, entscheidend, welche Handlungspflichten durch die Unterlassungen verletzt wurden. Sind mehrere Pflichten durch ein und dieselbe Handlung zu erfüllen, so wird in ihrer Unterlassung regelmäßig nur eine Handlung gesehen werden können. Sind umgekehrt mehrere Handlungen erforderlich, um mehreren - selbst gleichartigen - Pflichten nachzukommen, so sind in ihrer Nichtvornahme in aller Regel mehrere Unterlassungen zu finden, so dass dann Tatmehrheit gegeben ist (BGHSt 18, 377, 379). Letzteres ist vorliegend der Fall. Denn derjenige, der einem Mitarbeiter den geschuldeten Mindestlohn zahlt, kann gleichwohl die Sozialversicherungsbeiträge schuldig bleiben, wie auch derjenige, der den Mindestlohn unterschreitet, nicht gehindert wäre, Sozialversicherungsbeiträge nach dem Mindestlohn abzuführen. Beide Zahlungspflichten sind voneinander unabhängig gegenüber verschiedenen Gläubigern zu erfüllen, so dass die Verstöße dagegen ebenso im Verhältnis der Tatmehrheit zueinander stehen, wie es für die - vergleichbaren - Fälle, in denen bei "schwarz beschäftigten" Mitarbeitern Lohnsteuer verkürzt wird und zugleich Sozialversicherungsbeiträge nicht gezahlt werden, bereits höchstrichterlich entschieden ist (BGHSt 35, 14ff = BGH NStZ 1988, 77; BGH Beschluss vom 17.09.1991 (5 StR 362/91) - zit. nach juris; BGHSt 38, 285, 286).

Die somit sachlichrechtlich selbständigen (§ 53 StGB) Unterlassungen bilden auch keine einheitliche Tat im prozessualen Sinn, die dann vorliegt, wenn die einzelnen Handlungen (Unterlassungen) nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern nach den ihnen zugrundeliegenden Ereignissen bei natürlicher Betrachtung unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerlich derart unmittelbar miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts empfunden würde (BGHSt 13, 21, 25ff; BGHSt 35, 14, 17).

Unter Zugrundelegung der vorstehenden Kriterien geht der Senat von unterschiedlichen prozessualen Taten aus, deren Unrechts- und Schuldgehalt unabhängig voneinander beurteilt werden kann und muss. Dass von den Pflichtverletzungen in beiden Verfahren dieselben Mitarbeiter betroffen sind, steht dieser Annahme schon im Hinblick auf die unterschiedlichen Zahlungsberechtigten nicht entgegen. Denn den Mitarbeitern war nur die Zahlung des Mindestlohns geschuldet, während die Sozialversicherungsbeiträge an die Einzugsstelle hätten gezahlt werden müssen. Auch die beiden Verfehlungen gemeinsam zugrunde liegende Unkenntnis der Betroffenen, zur Zahlung von Mindestlöhnen überhaupt verpflichtet zu sein, führt als gemeinsames subjektives Element ebenso wenig zu einer anderen Beurteilung wie in den Fällen, in denen es der Täter sogar von Anfang an im Rahmen eines Gewerbebetriebs auf derartige Verstöße planmäßig angelegt hat (vgl. BGHSt 35, 14ff). Die Unkenntnis von der Mindestlohnverpflichtung steht einer getrennten Beurteilung beider Pflichtverletzungen aber nicht nur nicht entgegen, sondern legt eine solche hier sogar deshalb besonders nahe, weil das Vergehen nach § 266a StGB Vorsatz voraussetzt, die Ordnungswidrigkeit nach dem AEntG jedoch auch durch fahrlässiges Verhalten verwirklicht sein kann. Auch der Umstand, dass die auszuzahlenden Löhne sowie die danach abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge gleichermaßen in einem Steuerberatungsbüro errechnet wurden, also eine für beide Fälle gemeinsame Vorbereitungshandlung vorliegt, genügt zur Annahme von Tatidentität nicht (BGHSt 35, 14, 18).

Schließlich gebietet auch der Gesichtpunkt des Vertrauensschutzes, der bei der Anwendung des Art. 103 Abs. 3 GG im Einzelfall die Annahme einer einheitlichen Tat erforderlich machen kann, hier deshalb keine andere Beurteilung, weil der Betroffenen aufgrund des ihr (aufgrund Akteneinsicht durch ihren damaligen Verteidiger) zur Kenntnis gelangten Schlussberichts des Hauptzollamts Braunschweig (Bl. 190 der BAe 103 Js 15177/08 StA Braunschweig) bekannt war, dass neben dem vorgenannten Ermittlungsverfahren ein gesondertes Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Nichtzahlung des Mindestlohns und der Nichtführung von Stundenaufzeichnungen geführt wurde, so dass sie nicht davon ausgehen konnte, dass auch dieser Vorwurf von der Einstellung gem. § 153a StPO erfasst sein sollte.

Diese Rechtsansicht hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit dem auf die Vorlage ergangenen Beschluss vom 15.03.2012 (5 StR 288/11) bestätigt, hat dazu also entschieden, dass zwischen den Taten nach § 266a StGB und der Nichtzahlung des - für die Höhe der Beiträge maßgeblichen - Mindestlohns (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF) weder materiell-rechtliche Tateinheit besteht noch eine Tat im prozessualen Sinn (§ 264 StPO) vorliegt. Auf den Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nimmt der Senat für die weitere Begründung Bezug.

Da die vom Amtsgericht vorgenommene Einstellung daher auf einer unzutreffenden rechtlichen Begründung beruht, war die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über den von der Einstellung betroffenen Sachverhalt an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

2. Aus dem oben Gesagten (vgl. hierzu auch den Beschluss des BGH vom 15.03.2012 - dort Rz 16) folgt zugleich, dass Sozialversicherungsbeiträge, die i. S. v. § 266a StGB (hier: der ...) vorenthalten werden, nicht zugleich zum Anlass genommen werden dürfen, gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AEntG a.F. ein Bußgeld zu verhängen. Denn insoweit handelt es sich um nur eine Tat mit der Folge, dass die durch die insoweit erfolgte Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft ausgelöste Sperrwirkung des § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO, die der Anwendung des § 21 Abs. 2 OWiG vorgeht, auch die weitere Verfolgung als Ordnungswidrigkeit erfasst (vgl. OLG Frankfurt, NJW 1977, 1787f [OLG Nürnberg 04.01.1977 - Ws 720/76]). Insoweit trifft die Entscheidung des Amtsgerichts also zu, was der Senat im Tenor klargestellt hat. Dem wollte die Staatsanwaltschaft mit ihrer Rechtsbeschwerde ersichtlich auch nicht entgegentreten, so dass es einer (teilweisen) Verwerfung des Rechtsmittels nicht bedurfte.

3. Im weiteren Verfahren wird das Amtsgericht - entsprechend dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15.03.2012 (dort Rz 15) - sein Augenmerk insbesondere auch darauf zu richten und entsprechende Feststellungen dazu zu treffen haben, ob die Betroffene tatsächlich Arbeitgeberin im Rechtssinne gewesen ist, was jedoch aus den vom Bundesgerichtshof angeführten Umständen naheliegt.

Außerdem regt der Senat die Prüfung an, ob der Betroffenen gem. §§ 140 Abs. 2 StPO, 46 Abs. 1 OWiG für das weitere Verfahren vor dem Amtsgericht ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt werden sollte. Die aufgrund der schon nicht einfachen Sachlage zu entscheidenden Rechtsfragen sind weit überdurchschnittlich schwierig und die vom Hauptzollamt Braunschweig gegen die Betroffene verhängte Geldbuße ist erheblich.

III.

Die Entscheidung über die Kosten der Rechtsbeschwerde war dem Amtsgericht vorzubehalten, da derzeit der endgültige Erfolg des Rechtsmittels nicht absehbar ist.