Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 24.10.2007, Az.: 1 ARs 25/07 (Ausl)
Zulässigkeit der Auslieferung eines Verurteilten an die Republik Türkei zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe; Verhängung der Freiheitsstrafe von einem türkischen Staatssicherheitsgericht unter Mitwirkung eines Militärrichters; Zweifel am Vorliegen eines fairen Verfahrens entsprechend der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland wegen Mitwirken eines Militärrichters
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 24.10.2007
- Aktenzeichen
- 1 ARs 25/07 (Ausl)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 50471
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2007:1024.1ARS25.07AUSL.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 12 EuAlÜbK
- § 15 IRG
- § 17 IRG
- § 73 IRG
Fundstellen
- NStZ 2008, VII Heft 3 (amtl. Leitsatz)
- NStZ 2008, 638-639 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Haftbefehl
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Auslieferung eines Verurteilten an die Republik Türkei zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, die von einem türkischen Staatssicherheitsgericht unter Mitwirkung eines Militärrichters verhängt worden ist, ist unzulässig.
- 2.
Das gilt auch dann, wenn das Urteil des Staatssicherheitsgerichts in einem Rechtsmittel- oder sonstigen Überprüfungsverfahren durch ein Gericht bestätigt worden ist, dem zwar kein Militärrichter angehört hat, das aber das Urteil nur anhand der Akten ohne erneute Verhandlung überprüft hat.
- 3.
Die Auslieferung zum Zweck der Verfolgung an die Republik Türkei ist nach der Reform der türkischen Staatssicherheitsgerichte auch dann zulässig, wenn der dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Haftbefehl noch von einem Staatssicherheitsgericht in der Besetzung mit einem Militärrichter erlassen worden ist.
In dem Auslieferungsverfahren ...
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Celle
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht #######,
den Richter am Oberlandesgericht ####### und
den Richter am Landgericht #######
am 24. Oktober 2007
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Gegen den Verfolgten wird zum Zwecke seiner Auslieferung an die türkischen Justizbehörden zur Strafverfolgung die förmliche Auslieferungshaft angeordnet.
- 2.
Der Antrag auf Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft gegen den Verfolgten zum Zwecke seiner Auslieferung an die türkischen Behörden zur Strafvollstreckung wird abgelehnt.
Gründe
I.
1.
Die Justizbehörden der Republik Türkei haben mit Verbalnote vom 5.3.2003 an das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland um Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung und der Strafverfolgung ersucht.
a)
Dem Ersuchen sind, soweit es die Auslieferung zur Strafvollstreckung betrifft, beglaubigte Abschriften und deutsche Übersetzungen folgender Dokumente beigefügt:
das Urteil des 3. Staatssicherheitsgerichts in I. vom 26.11.1997 (Fonds-Nr. 1995/151; Urteils-Nr. 1997/521),
das Urteil des Kassationsgerichts vom 11.6.1998 (Urteils-Nr. 1998/6090),
der Haftbefehl des 3. Staatssicherheitsgerichts in I. vom 26.11.1997 (Fonds-Nr. 1995/151).
Danach ist der Verfolgte rechtskräftig wegen "organisierter Einfuhr von Kokain" gemäß Art. 403/1-6-7 türkisches StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.
Nach den Feststellungen des Urteils des 3. Staatssicherheitsgerichts I. hat der Verfolgte gemeinsam mit sechs Mitverurteilten eine Organisation geschaffen mit dem Ziel, Kokain aus dem Ausland in die Türkei einzuführen und dort weiterzuverkaufen. In Umsetzung dieses Plans hat die Organisation am 7.4.1995 insgesamt 8,619 kg Kokain aus Kolumbien auf dem Luftweg nach I. transportiert.
Der Verfolgte wurde in diesem Verfahren am 19.4.1995 verhaftet und am 25.9.1995 aus der Haft entlassen. Seitdem war er flüchtig, so dass gegen ihn am 26.11.1997 der oben genannte Haftbefehl erlassen wurde.
Das Urteil wurde vom Kassationsgericht überprüft und mit Urteil vom 11.6.1998 in einem Teilaspekt hinsichtlich des Führerscheins des Verfolgten aufgehoben, im übrigen bestätigt.
b)
Dem Ersuchen liegen, soweit es die Auslieferung zur Strafverfolgung betrifft, zwei Ermittlungsverfahren gegen den Verfolgten zugrunde.
aa)
Zum ersten Verfahren sind ihm beglaubigte Abschriften und deutsche Übersetzungen folgender Dokumente beigefügt:
der Haftbefehl (Steckbrief) des 3. Staatssicherheitsgerichts in I. vom 15.6.1998 (Grund-Nr. 1998/190) zum Ermittlungsverfahren 1998/1272,
die Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft beim Staatssicherheitsgericht in I. vom 26.6.1998 (Ermittlungsnummer 1998/1272).
Danach wird dem Verfolgten in diesem Verfahren zur Last gelegt, in der Zeit von Dezember 1996 bis zum 4.6.1998 gemeinsam mit 17 Mitangeklagten, von denen einige inzwischen bereits in einem abgetrennten Verfahren verurteilt worden sind, in vier Fällen als Mitglied einer hierzu gebildeten Vereinigung Heroin ausgeführt und zum Zweck der Ausfuhr bereitgehalten und transportiert zu haben, strafbar gemäß Art. 403/2-6-7-8 türkisches StGB. Die einzelnen Taten sind hinsichtlich Tatort und -zeit sowie Ablauf und jeweiliger Tatbeiträge des Verfolgten und der Mitangeklagten bzw. bereits Verurteilten in der Anklageschrift genau beschrieben.
bb)
Zum zweiten Verfahren sind dem Ersuchen beglaubigte Abschriften und deutsche Übersetzungen folgender Dokumente beigefügt:
der Haftbefehl (Steckbrief) des 3. Staatssicherheitsgerichts in I. vom 21.6.2000 (Grund-Nr. 2000/64) zum Ermittlungsverfahren 2000/1375,
die Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft beim Staatssicherheitsgericht in I. vom 3.7.2000 (Ermittlungsnummer 2000/1375).
Danach wird dem Verfolgten in diesem Verfahren "Betreiben des Handelsgeschäfts mit Betäubungsmitteln durch Bildung einer Organisation", strafbar gemäß Art. 403/5-6-7 türkisches StGB, zur Last gelegt. Der konkrete Tatvorwurf lautet, dass der Verfolgte gemeinsam mit acht Mitangeklagten Anfang des Jahres 2000 eine Organisation gebildet habe mit dem Ziel, Heroin nach Spanien und England auszuführen und zu verkaufen. Nach entsprechenden telefonischen Absprachen habe die Organisation insgesamt 210 kg Heroin beschafft. Ein Teil davon, nämlich 157 kg, sei in der Wohnung und der Rest, 53 kg, im Pkw eines Mitglieds der Organisation, des Mitangeklagten M. M. G., für den Transport nach Spanien und England aufbewahrt worden, wo es am 13.6.2000 von der Polizei sichergestellt worden sei. Die weiteren Einzelheiten der Tat sind hinsichtlich Tatort und -zeit sowie Ablauf und jeweiliger Tatbeiträge des Verfolgten und der Mitangeklagten in der Anklageschrift genau beschrieben.
2.
Der Verfolgte war auf Grund der Auslieferungsbewilligung des Justizministeriums von Bosnien und Herzegowina vom 7.6.2001 (Az. 01-09/2001) am 28.6.2001 an Deutschland ausgeliefert worden. Die Auslieferung war mit Spezialitätsschutz verbunden und erstreckte sich nur auf die Verfolgung der im Haftbefehl des Amtsgerichts R./W. vom 19.9.1996 (4 Gs 200/96) bezeichneten Straftaten. In diesem Strafverfahren wurde der Verfolgte am 19.12.2001 vom Landgericht H. wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt, die er derzeit noch in der JVA S. verbüßt.
Das Justizministerium von Bosnien und Herzegowina hat mit Bescheid vom 31.8.2007 (Az. 02-77-764/00) die Zustimmung zur Weiterlieferung des Verfolgten an die Justizbehören der Republik Türkei zwecks Durchführung des Strafverfahrens gegen den Verfolgten wegen des Verbrechens "organisierte Ausfuhr von Suchtgift" und "organisierter Besitz von Suchtgift wegen Ausfuhr und Transport desselben sowie Teilnahme an diesen Verbrechen" nach Art. 403/1-6-7, 33 und 40 des türkischen StGB erteilt.
3.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, gegen den Verfolgten die förmliche Auslieferungshaft anzuordnen.
II.
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft war nach §§ 15, 17 IRG zu entsprechen, soweit ihm das Ersuchen um Auslieferung zur Strafverfolgung zugrunde liegt (nachfolgend Ziffer 1). Er war dagegen abzulehnen, soweit das Ersuchen die Auslieferung zur Strafvollstreckung zum Ziel hat (dazu unter Ziffer 2).
1.
Die vorgelegten Unterlagen sind vollständig und genügen den Anforderungen aus Art. 12 EuAlÜbK.
Die Auslieferungsfähigkeit der dem Verfolgten zur Last gelegten Straftaten im Sinne von Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk ist gegeben. Sowohl nach den Vorschriften des türkischen Strafgesetzbuches (Art. 403) als auch nach deutschem Strafrecht (§ 30 a Abs. 1 BtMG) ist das dem Verfolgten vorgeworfene Verhalten strafbar und mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von jeweils mehr als einem Jahr bedroht.
Verfolgungsverjährung ist weder nach türkischem Recht noch nach deutschem Recht eingetreten (Art. 10 EuAlÜbk).
Die nach Art. 15 EuAlÜbk erforderliche Zustimmung von Bosnien und Herzegowina zur Weiterlieferung des Verfolgten an die Republik Türkei liegt vor.
Gründe, die der Auslieferung nach den Bestimmungen des IRG oder des EuAlÜbk im Übrigen entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Verfolgte deutscher Staatsangehöriger sein könnte. Bewilligungshindernisse liegen nicht von vornherein auf der Hand. Der Grundsatz der Spezialität (Art. 14 EuAlÜbk) ist im Verhältnis zur Türkei gewahrt.
Gründe, nach denen die Auslieferung nach § 73 IRG unzulässig sein könnte, sind nicht ersichtlich. Zwar sind die derzeit bestehenden Haftbefehle vom 3. Staatssicherheitsgericht in I. erlassen worden. Bedenken gegen das in der Türkei zu erwartende Strafverfahren gegen den Verfolgten ergeben sich hieraus - anders als bei der Auslieferung zur Strafvollstreckung (nachfolgend Ziffer 2) - aber nicht. Denn nach der Reform der türkischen Staatssicherheitsgerichte im Jahr 2004 (Inkrafttreten des entsprechenden Gesetzes am 1.6.2005) sind diese nicht mehr mit Militärrichtern besetzt.
Die türkischen Behörden haben außerdem zugesichert, dass die Rechte und Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention gewahrt werden.
2.
Soweit um Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung ersucht wird, ist die Anordnung der Auslieferungshaft dagegen abzulehnen, weil die Auslieferung insoweit voraussichtlich für unzulässig erklärt werden wird. Denn ihr dürften wesentliche Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung entgegen stehen (§ 73 IRG).
Nach Prüfen der Auslieferungsunterlagen bleibt letztlich zweifelhaft, ob das Verfahren vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht in I., an dem auch ein Militärrichter mitgewirkt hat, den Anforderungen an ein faires Verfahren im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention und damit den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland genügt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Entscheidungen festgestellt, dass allein die Beteiligung von Militärrichtern an den früheren Staatssicherheitsgerichten in der Türkei die Besorgnis hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts begründet und allein auf Grund von deren Beteiligung Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt ist (so EGMR NVwZ 2006, 1267, 1269; KARAKURT v. TURKEY, Urteil vom 20.9.2005; YILMAZ und BARIM v. TURKEY, Urteil vom 22.6.2006). Entscheidungen des EGMR sind bei der Auslegung der unmittelbar anwendbaren Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu berücksichtigen (BVerfG NJW 2004, 3407 [BVerfG 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04]), sofern sie nicht gegen vorrangiges Recht verstoßen oder mit einem ausbalancierten Teilsystem des innerstaatlichen Rechts unvereinbar sind, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will. Beides ist hier nicht der Fall, so dass die einschlägige Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen ist.
Dementsprechend sind Auslieferungen an die Türkei zum Zwecke der Vollstreckung von Urteilen türkischer Staatssicherheitsgerichte, an denen Militärrichter mitgewirkt haben, vom Senat (vgl. Beschluss vom 10.10.2007, 1 ARs 25/06 [Ausl]) und auch von mehreren anderen deutschen Oberlandesgerichten als unzulässig angesehen worden (vgl. OLG Frankfurt a. M. StV 2007, 142; OLG Stuttgart NStZ-RR 2007, 273, OLG Hamburg InfAuslR 2006, 468).
Diese Zweifel werden hier auch nicht dadurch ausgeräumt, dass das Urteil des 3. Staatssicherheitsgerichts in I. vom türkischen Kassationsgerichtshof bestätigt wurde. Auch wenn im Rahmen dieses Kassationsverfahrens ein Militärrichter nicht mitgewirkt haben sollte, ist diese durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung getroffene Revisionsentscheidung nicht die eines neuen Tatgerichts.
Im übrigen dürfte auch die vorliegende Weiterlieferungsbewilligung des Justizministeriums von Bosnien und Herzegowina insoweit nicht ausreichen, weil sie nur die Durchführung des Strafverfahrens gegen den Verfolgten wegen des Verbrechens "organisierte Ausfuhr von Suchtgift" und "organisierter Besitz von Suchtgift wegen Ausfuhr und Transport desselben sowie Teilnahme an diesen Verbrechen" erfasst, nicht aber die Verurteilung wegen organisierter Einfuhr.
3.
Soweit die Auslieferung keinen Bedenken begegnet, besteht auch die Gefahr, dass der Verfolgte ohne die Anordnung der Auslieferungshaft sich dem Auslieferungsverfahren entziehen würde. Soziale Bindungen im Bundesgebiet bestehen nicht. Angesichts der Schwere der von den türkischen Justizbehörden gegen ihn erhobenen Vorwürfe und der in der Türkei zu erwartenden Strafe ist von einem erheblichen Fluchtanreiz auszugehen.
Weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Auslieferungshaft erscheinen hiernach nicht geeignet, deren Zweck, nämlich das Durchführen der zulässigen Auslieferung, zu gewährleisten (§ 25 IRG). Die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahmen steht gleichfalls nicht in Frage.
Der Anordnung der Auslieferungshaft steht auch nicht entgegen, dass der Verfolgte sich bereits in Strafhaft befindet. Denn der Haftgrund der Fluchtgefahr ist allein aus der Sicht des jeweiligen Verfahrens ohne Rücksicht auf in anderen Verfahren angeordnete freiheitsentziehende Maßnahmen zu beurteilen (vgl. Senat vom 19.7.2007, 1 ARs 18/07 (Ausl); OLG Hamm NStZ 2004, 221 [OLG Hamm 22.05.2003 - 2 Ws 116/03]; Wilkitzki in Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl. IRG § 15 Rdnr. 27 und 52).
III.
Der Senat wird gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 IRG eine Haftprüfung durchführen, wenn sich der Verfolgte zwei Monate in Auslieferungshaft befunden haben wird.