Landgericht Aurich
Beschl. v. 30.07.2012, Az.: 12 Qs 97/12

Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit der Anordnung einer Blutentnahme gegenüber einem Beschuldigten zur Feststellung einer möglichen HIV-Infizierung eines Betroffenen

Bibliographie

Gericht
LG Aurich
Datum
30.07.2012
Aktenzeichen
12 Qs 97/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 19239
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGAURIC:2012:0730.12QS97.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Aurich - 29.06.2012 - AZ: 6 Gs 1041-1042/12

Fundstellen

  • Kriminalistik 2013, 341
  • NJW-Spezial 2012, 570

In der Strafsache
gegen
1.
A.......
2.
B......
wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung pp.
hier: Anordnung der Entnahme einer Blutprobe
hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Aurich durch die unterzeichneten Richter
am 30.07.2012
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Beschwerden der Beschuldigten werden die Beschlüsse des Amtsgerichts Aurich vom 29.06.2012 zu Aktenzeichen 6 Gs 1041/12 und zu Aktenzeichen 6 Gs 1042/12, mit denen jeweils die Entnahme einer Blutprobe zur Feststellung einer möglichen HIV-Infektion angeordnet worden sind, aufgehoben.

  2. 2.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die insoweit den Beschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

1

I.

Die Beschuldigten werden verdächtigt, den Anzeigenerstatter durch ungeschützten Geschlechtsverkehr mit HIV infiziert zu haben. Dem liegt nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen folgender Sachverhalt zugrunde:

2

Der Anzeigenerstatter, der bis August 2010 in einer mehr als 1 1/2 jährigen Beziehung gelebt hatte, lernte im Dezember 2010 den Beschuldigten A. im Rahmen seines Ausbildungsverhältnisses näher kennen. In der Folgezeit kam es zwischen beiden über einen Zeitraum von drei Wochen in ca. sechs Fällen einvernehmlich zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Anfang Februar 2011 lernte der Anzeigenerstatter über Internetchat ebenfalls den Beschuldigten B. kennen, mit dem er sich über einen Zeitraum von zwei Wochen ca. sieben bis acht Mal in seiner Wohnung traf. Bei den letzten beiden Treffen ist es sodann auch mit dem Beschuldigten B. zu ungeschütztem, einvernehmlichem Sexualverkehr gekommen.

3

Im Zuge eines Blutspendetermins ..... erhielt der Anzeigenerstatter Kenntnis von seiner - allerdings bislang noch nicht belegten - HIV-Infektion. Die daraufhin vom Anzeigenerstatter zur Rede gestellten Beschuldigten bestritten indes, mit HIV positiv infiziert zu sein. Im Rahmen des weiteren Ermittlungsverfahrens gab der Anzeigenerstatter an, dass weder sein früherer Partner noch derjenige, mit dem er im Anschluss an die hiesigen Vorfälle sexuell verkehrt habe, infiziert gewesen seien. Überdies habe er mit keinem weiteren Dritten verkehrt, noch sei er sonst mit Körperflüssigkeiten und/oder mit verunreinigten Spritzen in Kontakt gekommen.

4

Nachdem die beiden Beschuldigten bisher jeweils die Entnahme einer Blutprobe zur Feststellung einer etwaigen HIV-Infizierung abgelehnt hatten, ordnete das Amtsgericht Aurich gegenüber beiden Beschuldigten gem. § 81a StPO mit den angefochtenen Beschlüssen die Blutentnahme sowie den Vergleich der Virussubtypen an. Wegen weiterer Einzelheiten wird insoweit auf die Ausführungen in den angefochtenen Beschlüssen vom 29.06.2012 Bezug genommen.

5

Den gegen diese beiden Beschlüsse gerichteten Beschwerden hat das Amtsgericht nicht abgeholfen und der hiesigen Beschwerdekammer zum zuständigen Befinden vorgelegt.

6

II.

Die Beschwerden der Beschuldigten - insofern wird der "Widerspruch" des Beschuldigten A. in Anbetracht der für ihn günstigen Erstreckungswirkung gem. § 357 StPO analog (vgl. OLG Bremen, Beschluss v. 28.10.1957 - Ws 181/57, NJW 1958, 432) in eine solche umgedeutet - sind jeweils gemäß § 304 StPO zulässig und in der Sache begründet.

7

Die Entnahme einer Blutprobe, um eine etwaige Infizierung des Täters mit HIV feststellen zu lassen, ist nur nach Maßgabe des § 81a StPO zulässig (eingehend Mayer, JR 1990, 358 ff. m.w.N.). Dessen Voraussetzungen sind hier jedoch nicht erfüllt. Denn die mit den angefochtenen Maßnahmen begehrten Feststellungen sind bezüglich beider Beschuldigten für das Verfahren nicht "von Bedeutung" i.S.d. § 81a Abs. 1 Satz 1 StPO (dazu 1.). Im Übrigen stellt sich die Blutentnahme bei beiden Beschuldigten als unverhältnismäßig dar (dazu 2.).

8

1.

Im Ansatz zutreffend geht das Amtsgericht Aurich davon aus, dass der ungeschützte Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung in Gestalt einer "das Leben gefährdenden Behandlung" gem. §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erfüllen kann (grundlegend BGH, Urteil v. 04.11.1988 - 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1 = NJW 1989, 781, 783 zu § 223a StGB a.F. m. Anm. Bruns, MDR 1989, 199 ff.). Zudem ist ein HIV-Antikörpertest anhand einer Blutprobe durchaus geeignet, die Infektiosität eines Täters nachzuweisen (vgl.Helmrich, NVwZ 2008, 162; Michel, JuS 1993, 591, 593 m.w.N.), was wiederum unabdingbare Voraussetzungen für die Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung ist (Mayer, JR 1990, 358, 360).

9

Hier ist allerdings ein positiver HIV-Test weder eine (vollendete) gefährliche Körperverletzung (dazu a) und b)), noch eine versuchte gefährliche Körperverletzung (dazu c)) nachzuweisen geeignet, so dass die durch die Austestung zu belegenden Tatsachen für das hiesige Verfahren nicht verfahrenserheblich sind (vgl. zur Gleichsetzung von Geeignetheit und Verfahrenserheblichkeit Mayer, JR 1990, 358, 361).

10

a)

So ist im Ausgangspunkt schon der tatbestandliche Erfolg, also die Infizierung des Anzeigenerstatters nicht festgestellt. Zwar hat sich dieser - entsprechend einem Antrag nach § 81c StPO - mittlerweile dazu bereit erklärt, einer Blutentnahme zu unterziehen. Letzteres ist bislang jedoch noch nicht geschehen, mithin die Behauptung der eigenen Infektiosität des Anzeigenerstatters noch gar nicht verifiziert.

11

b)

Selbst wenn beide oder zumindest einer der Beschuldigten im Rahmen der angeordneten Maßnahme HIV positiv getestet worden sein soll(en), so folgt daraus noch nicht, dass sein bzw. ihr ungeschützter Geschlechtsverkehr mit dem Anzeigenerstatter kausal für dessen - noch nachzuweisende (siehe a)) - Infizierung gewesen ist. Zum einen belegt ein positiver HIV-Test gerade nicht, dass die bzw. einer der Beschuldigten bereits zum Zeitpunkt des verfahrensgegenständlichen Geschlechtsverkehrs infiziert war(en), sondern nur, dass sie/er zum jetzigen Zeitpunkt und damit über 1 1/2 Jahre nach dem Tatgeschehen den HI-Virus in sich tragen bzw. trägt. Zum anderen dürfte die "Zusicherung" des Anzeigenerstatters, mit niemand anderem - außer den beiden Beteiligten sowie jeweils einem Partner vor und nach der Tat - intimen Kontakt gehabt zu haben, einer "Mehrverkehrseinrede" (Mayer, JR 1990, 358, 360 [Fn. 33]) beweisrechtlich kaum standhalten, zumal das Sexualverhalten des Anzeigenerstatters in der Vergangenheit durch mehrfach wechselnde Intimpartnerschaft gekennzeichnet war. Mit anderen Worten, weder der HIV-Test noch der angeordnete Vergleich der Virussubtypen ist geeignet, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass ggf. nicht doch andere Partner als Infektionsquelle in Betracht kommen.

12

c)

Vor diesem Hintergrund könnte zwar noch eine Strafbarkeit wegen Versuchs - bei bereits bestehender Infektiosität des Anzeigenerstatters während der Tatzeit in Form des sog. un-tauglichen Versuchs - gegeben sein. Dem Täter müsste aber insofern nachgewiesen werden, dass er zum Tatzeitpunkt um seine HIV-Infizierung wusste (zutreffend Mayer, JR 1990, 358, 360). Der Nachweis eines solch vorsätzlichen Handels lässt sich aber nur dann führen, wenn sich der Täter entweder bereits (freiwillig) einem HIV-Test unterzogen hat und seine Infizierung damit feststeht (so Bruns, MDR 1989, 199, 200; Mayer, JR 1990, 358, 361) oder sich dieser dahingehend zu seiner Infektiosität geäußert hat (vgl. etwa das Fallbeispiel bei Michel, JuS 1993, 591, 592). Hierfür finden sich aber in dem bisherigen Ermittlungsverfahren keinerlei Anhaltspunkte, so dass auch ein HIV-Test für sich genommen dieses kognitive Element nicht zu belegen vermag.

13

2.

Die angeordnete Maßnahme entspricht auch nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Maßnahme muss danach zur Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet und erforderlich sein und der mit ihr verbundene Eingriff darf nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des Tatverdachts stehen (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschluss v. 21. 05. 2004 - 2 BvR 715/04, NJW 2004, 3697, 3698 [BVerfG 21.05.2004 - 2 BvR 715/04] m.w.N.).

14

a)

So fehlt es bezüglich des Tatbestandes der vorsätzlichen bzw. versuchten gefährlichen Körperverletzung aus den unter Ziffer II. 1 erörterten Gründen an der Geeignetheit der Maßnahme, um den Nachweis der Täterschaft der Beschuldigten zu führen. Hinzu kommt, dass gerade in subjektiver Hinsicht der Tatverdacht derart gering wiegt, dass eine Anordnung der Blutentnahme außer Verhältnis zur Stärke des Tatverdachts steht.

15

b)

Schließlich stellt sich die angeordnete Blutentnahme auch im Hinblick auf eine allenfalls noch in Betracht kommende Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB als unverhältnismäßig dar.

16

aa)

Denn auch insoweit ist ein HIV-Test nicht zum Tatnachweis geeignet. Selbst bei positivem Testergebnis bleiben nämlich - nach derzeitigem Erkenntnisstand - unwiderlegbare Restzweifel, ob eine mögliche Infizierung des Anzeigenerstatters nicht durch andere Sexualpartner hervorgerufen sein kann bzw. ob die bzw. der Beschuldigte(n) nicht doch erst zu einem späteren Zeitpunkt selber infiziert wurden, zumal das Tatgeschehen mittlerweile mehr als 1 1/2 Jahre zurückliegt.

17

bb)

Darüber hinaus erscheint die Anordnung der Blutentnahme für beide Beschuldigte auch im Rahmen einer Güterabwägung als unverhältnismäßig im engeren Sinne. Das hierbei zu berücksichtigende Individualinteresse an der Nichtaufklärung über die eigene Infektiosität hat zwar grundsätzlich dem höherwertigen Rechtsgut "Gesundheitsschutz der Allgemeinheit" zu weichen (Mayer, JR 1990, 358, 360; Penning/Spann, MedR 1987, 171, 173). Im Anwendungsbereich der §§ 81a, 81c StPO ist der Gesundheitsschutz der Allgemeinheit im Hinblick auf die Zulässigkeit des Eingriffs indes kein zu beachtendes Rechtsgut; gegenüber den Grundrechten des von dem Eingriff Betroffenen - hier der Beschuldigten - auf Schutz der Privat- und Intimsphäre nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und der körperlichen Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG darf - wenn es um die Zulässigkeit des Eingriffs geht - lediglich das Aufklärungsinteresse des Staates an Straftaten in die Abwägung einbezogen werden (zutreffend Mayer, JR 1990, 358, 360 m.w.N.). Das berechtigte Aufklärungsinteresse des Staates hat indes unter Abwägung mit folgenden Gesichtspunkten im vorliegenden Einzelfall zurückzutreten:

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(i) Zum einen wiegt der Schuldvorwurf hier gering, was sich nicht zuletzt daran festmachen lässt, dass die Staatsanwaltschaft Aurich von sich aus bereits in einem früheren Verfahrensstadium die Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO angeregt hat. Denn der Tatverdacht lässt sich allenfalls auf den Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung beschränken, der sich dazu noch gegen zwei bislang nicht vorbestrafte Beschuldigte richtet.

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(ii) Hinzu kommt, dass selbst der Tatverdacht einer fahrlässigen Körperverletzung bislang kaum erhärtet ist. Denn ein fahrlässiges Verhalten setzt - neben der noch festzustellenden Tatsache , dass das Opfer mit HI-Viren infiziert ist - voraus, dass aus Sicht des Täters objektiv tatsächliche Anhaltspunkte für einen konkreten Anfangsverdacht einer eigenen HIV-Infektiosität bestanden, der Täter also schon zum Zeitpunkt des verfahrensgegenständlichen Geschlechtsverkehrs etwa an Anzeichen des ARC-Syndroms oder des Aids-Vollbildes gelitten hat (vgl. hierzu eingehend Mayer, JR 1990, 358, 361 [Fn. 37]). Das vorliegende Ermittlungsverfahren bietet hierfür aber nicht einmal ansatzweise Anhaltspunkte.

20

(iii) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist schließlich der Umstand zu berücksichtigen, dass die mit der Blutentnahme einhergehende Kenntnis von einer möglichen HIV-Infektiosität - hier der Beschuldigten - schwere seelische Beeinträchtigungen bis hin zur Suizidalität auslösen kann (vgl. VGH München, Beschluss v. 19.05.1988 - 25 CS 8800312, NJW 1988, 2318, 2319; Penning/Spann, MedR 1987, 171, 173; Helmrich, NVwZ 2008, 162, 163 m.w.N.). Zwar ist in diesem Kontext umstritten, ob seelische Belastungen zu berücksichtigende Gesundheitsnachteile i.S.d. § 81a Abs. 1 Satz 2 StPO darstellen (dafür etwa Bosch, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, 61. EL, § 81a Rn. 24; Mayer, JR 1990, 358, 359 f; dagegen Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 81a Rn. 17; Michel, JuS 1993, 591, 592). Gleichwohl wird dieser Gefährdung jedenfalls in der vorliegenden Fallkonstellation Rechnung zu tragen und ihr ein hohes Gewicht beizumessen sein. Denn die Erhärtung des Tatverdachts ist - zumindest bei derzeitigem Verfahrensstand - derart ungewiss bzw. der Beweiswert des HIV-Testes so gering, dass es den Beschuldigten schlechterdings nicht zugemutet werden kann, aufgrund der Kenntnisnahme einer etwaigen eigenen HIV-Infektiosität der Gefahr psychischer Schädigungen ausgesetzt zu sein.

21

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Dr. H.
B.
R.