Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 19.02.2021, Az.: 2 Ws 51/21

Angehörige als Verletzte im Sinne des § 406g Abs. 3 StPO; Beiordnung einer psychosozialen Prozessbegleitung für Angehörige eines getöteten Opfers

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
19.02.2021
Aktenzeichen
2 Ws 51/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 14357
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2021:0219.2WS51.21.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 04.02.2021 - AZ: 1 Ks 113/20

Fundstellen

  • StRR 2021, 3
  • StRR 2021, 26-27
  • StraFo 2021, 165-166

Amtlicher Leitsatz

Verletzter i.S.v. § 406g Abs. 3 StPO ist auch ein Angehöriger eines bei einer rechtswidrigen Tat Getöteten.

Tenor:

Die Beschwerde des Nebenklägers gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Verden vom 04. Februar 2021 wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Angeklagten im Beschwerdeverfahren trägt der Nebenkläger.

Gründe

I.

Am 10. November 2020 erhob die Staatsanwaltschaft Verden Anklage gegen die drei Angeklagten. Mit der Anklageschrift wird allen drei Angeklagten mittäterschaftlich handelnd u.a. ein Mord zum Nachteil der Geschädigten A. K., der Schwester des Nebenklägers zur Last gelegt. Wegen der Einzelheiten der den Angeklagten zur Last gelegten Taten wird auf die Anklageschrift verwiesen.

Mit Beschluss vom 26. Januar 2021 wurde die Nebenklage zugelassen und dem Nebenkläger Rechtsanwalt Er. als Beistand gem. § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO bestellt.

Mit Schreiben vom 26. Januar 2021 beantragte der Nebenkläger gem. § 406g Abs. 3 StPO die Beiordnung einer psychosozialen Prozessbegleiterin für die Dauer des Strafverfahrens. Diesen Antrag wies die 1. große Strafkammer mit dem angefochtenen Beschluss vom 04. Februar 2021 zurück.

Hiergegen wendet sich der Nebenkläger mit seiner Beschwerde vom 05. Februar 2021, der das Landgericht durch Beschluss vom 11. Februar 2021 nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist in der Sache nicht begründet.

1.) Zutreffend legt die Beschwerdebegründung im Ausgangspunkt dar, dass die Rechtsauffassung der 1. großen Strafkammer des Landgerichts, die vorliegend maßgebliche Vorschrift des § 406g Abs. 3 StPO sehe die Möglichkeit der Beiordnung einer psychosozialen Prozessbegleitung für Angehörige von getöteten Opfern nicht vor, da diese nicht "Verletzte" i.S.d. genannten Vorschrift seien, nicht haltbar ist und insbesondere dem gesetzgeberischen Willen zuwiderläuft (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 406g, Rn. 5; BeckOK StPO/Weiner, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 406g Rn. 11).

a) Soweit das Landgericht zur Begründung der dargelegten Rechtsauffassung im angefochtenen Beschluss darauf hinweist, bei Einführung der Vorschrift des § 406g StPO habe es bereits die Differenzierung zwischen "Verletzten" und "Angehörigen" in § 395 und § 397a StPO gegeben, so dass die Bezeichnung "Verletzter" im Wortlaut des § 406g Abs. 3 StPO die Möglichkeit der Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters für bloße Angehörige ausschließe, übersieht die Strafkammer bereits die in § 406g Abs. 3 StPO vorhandene Bezugnahme auf § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO, der explizit auch die Angehörigen eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten umfasst.

b) Im Übrigen ist den Gesetzesmaterialien der gesetzgeberische Wille, die Möglichkeit der psychosozialen Prozessbegleitung auch Angehörigen i.S.v. § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO zu gewähren, eindeutig zu entnehmen.

Ausweislich der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 18/4621 - wurde der im Gesetzesentwurf ursprünglich vorgesehene § 48 Abs. 3 Satz 4 StPO, wonach sich "Hinweise auf eine besondere Schutzbedürftigkeit insbesondere aus der Stellungnahme einer Opferhilfeeinrichtung ergeben können" gestrichen, um die Vorschriften der StPO weiterhin übersichtlich und schlank zu halten, zumal der geplante S. 4 von § 48 Abs. 3 lediglich klarstellenden Charakter habe. Besonders schutzbedürftige Verletzte seien Personen, die von schweren Straftaten, z. B. schweren Gewalt- oder Sexualdelikten - ihre tatsächliche Begehung unterstellt -, unmittelbar in ihren Rechtsgütern (z. B. auf körperliche Integrität) betroffen sind. Diese Personen seien ebenso "Verletzte" im Sinne der StPO wie jeder Nebenklagebefugte; daher seien auch die Angehörigen, d.h. Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner des durch eine rechtswidrige Tat Getöteten Verletzte im Sinne der StPO (BT-Drucksache 18/6906, S. 22).

c) Darüber hinaus ergibt auch die gebotene EU-richtlinienkonforme Auslegung des § 406g Abs. 3 StPO, dass Angehörigen des durch eine rechtswidrige Tat Getöteten auf ihren Antrag ein psychosozialer Prozessbegleiter beigeordnet werden kann. Durch das Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz) vom 21.12.2015 sollte die Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 57; Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU) in verschiedenen Bereichen des Strafverfahrensrechts umgesetzt werden; zudem sollte - über die eigentliche Richtlinienumsetzung hinaus - das geltende Instrumentarium der Opferschutzregelungen in einzelnen Bereichen - insbesondere das Gebiet der psychosozialen Prozessbegleitung, deren bislang lediglich rudimentäre Regelung ihrer aktuellen Bedeutung in der Praxis nicht mehr gerecht werde - erweitert werden (BT-Drucksache 18/4621, S. 1-2). Die Richtlinienumsetzung im Bereich des Opferschutzes sollte daneben zum Anlass genommen werden, die in der Justizpraxis bereits bewährte psychosoziale Prozessbegleitung im deutschen Strafverfahrensrecht zu verankern, weshalb u.a. die neue Vorschrift des § 406g StPO geschaffen wurde, die an die Regelungen zum Verletztenbeistand aus § 406f StPO anknüpfen sollte (BT-Drucksache 18/4621, S. 19).

In der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 wird explizit klargestellt, dass auch die Familienangehörigen der Opfer durch die Straftat einen Schaden erleiden können; dies gelte insbesondere für Familienangehörige einer Person, deren Tod direkte Folge einer Straftat ist. Die Schutzmaßnahmen dieser Richtlinie seien mithin auch diesen Familienangehörigen, die indirekte Opfer der Straftat sind, zu gewähren (Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012, Amtsblatt der Europäischen Union, L 315/57, Ziffer 19).

d) Schließlich tritt der dargelegte gesetzgeberische Wille auch in dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 18. Januar 2021 (Az.: - R B 3 - 4120/3-3 R5 271/2019 -) deutlich zu Tage, denn darin soll in einem neu zu schaffenden § 373b Abs. 2 StPO ausdrücklich klargestellt werden, dass Angehörige, wie z.B. die Geschwister einer Person, deren Tod eine direkte Folge der Tat gewesen ist, den Verletzten im Sinne der StPO gleichgestellt sind. In der Begründung dazu heißt es, dass sich die Möglichkeit der Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters für Familienangehörige Getöteter bereits jetzt aus dem Gesetz und den Gesetzesmaterialien ergebe (a.a.O., S. 121).

2.) Die nach alledem mögliche Beiordnung einer psychosozialen Prozessbegleiterin hat die Strafkammer im Ergebnis gleichwohl zutreffend abgelehnt.

Ein Fall von § 406g Abs. 3 S. 1 StPO, bei dem die Beiordnung einer psychosozialen Prozessbegleitung zwingend geboten wäre, liegt ersichtlich nicht vor.

Der Strafkammer kam mithin gem. § 406g Abs. 3 S. 2 StPO ein Ermessen bei der Prüfung der Frage zu, ob die besondere Schutzbedürftigkeit des Nebenklägers vorliegend die Beiordnung einer psychosozialen Prozessbegleitung erfordert.

Zu den besonders Schutzbedürftigen gem. § 406g Abs. 3 StPO können neben Kindern und Jugendlichen namentlich auch Menschen mit einer Behinderung oder psychischen Beeinträchtigung, Betroffene von Sexualstraftaten, Betroffene von Gewalttaten (mit schweren physischen, psychischen oder finanziellen Folgen oder längerem Tatzeitraum, wie z. B. bei häuslicher Gewalt oder Stalking), Betroffene von vorurteilsmotivierter Gewalt und sonstiger Hasskriminalität sowie Betroffene von Menschenhandel gehören (BT-Drucksache, 18/4621, S. 32). Maßgeblich für die Frage, ob eine besondere Schutzbedürftigkeit i.S.v. § 406g Abs. 3 StPO anzunehmen ist, sind die persönliche Merkmale des Verletzten sowie die konkreten Umstände und Folgen der Tat (BeckOK StPO/Weiner, a.a.O., § 406g, Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 406g, Rn. 5; KK-StPO/Zabeck, 8. Aufl. 2019, StPO § 406g Rn. 8).

Hieran gemessen hat die Strafkammer, die die insoweit anzustellenden Ermessenserwägungen in der ausführlich begründeten Nichtabhilfeentscheidung nachgeholt hat, zutreffend eine besondere Schutzbedürftigkeit des Nebenklägers verneint.

Zwar lässt der landgerichtliche Beschluss eine explizite Erwähnung der im Rahmen der Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu Gunsten des Beschwerdeführers in die Bewertung einzustellenden konkreten Umstände des den drei Angeklagten zur Last gelegten Mordes zum Nachteil der Schwester des Nebenklägers vermissen. Denn den Angeklagten wird u.a. zur Last gelegt, am frühen Morgen des 09. April 2020 die zu diesem Zeitpunkt noch lebende Schwester des Nebenklägers auf einer Waschbetonplatte gefesselt zu haben und sie auf der Brücke 46 an der W.schleuse in B. aus niedrigen Beweggründen in die W. geworfen zu haben und hierdurch bewusst und gewollt einen besonders qualvollen Tod der Geschädigten infolge Ertrinken verursacht zu haben. Da sich im Vorfeld der grausamen Ermordung der Schwester des Nebenklägers zudem weitere Straftaten zum Nachteil von A. K. ereignet haben sollen, ist eine erhebliche seelische Erschütterung des Beschwerdeführers naheliegend, die eine Bewältigung des anstehenden Strafverfahrens inklusive der durchzuführenden Beweisaufnahme als eine maßgebliche Belastung des Nebenklägers erscheinen lässt.

Zutreffend führt die Strafkammer indes aus, dass allein der Umstand, Angehöriger einer bei einer rechtswidrigen Tat Getöteten zu sein, nicht ausreichend ist, um eine besondere Schutzbedürftigkeit zu begründen. Vorliegend ergibt die erforderliche Gesamtwürdigung der maßgeblichen Umstände, dass die für eine besondere Schutzbedürftigkeit sprechenden konkreten Umstände der den Angeklagten zur Last gelegten Taten durch die persönlichen Merkmale des Beschwerdeführers entscheidend entkräftet werden.

Es begegnet keinen Bedenken, dass die Strafkammer die zahlreichen Medienauftritte des Beschwerdeführers, der mehrfach freiwillig von dem Tod seiner Schwester in Presse und Fernsehen berichtet hat, zum Nachteil des Antragstellers in die Bewertung eingestellt hat. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach den in jeder Hinsicht überzeugenden Ausführungen des Landgerichts insbesondere finanzielle Interessen eine maßgebliche Rolle bei den Medienauftritten des Beschwerdeführers gespielt haben dürften. Da die Strafkammer zudem eine zeugenschaftliche Vernehmung des Nebenklägers nicht beabsichtigt, der Nebenkläger einen Beistand hat und er als Nebenkläger zur Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht verpflichtet ist, ist die Ablehnung einer besonderen Schutzbedürftigkeit des Beschwerdeführers im Ergebnis nicht zu beanstanden.

III.

Die Auferlegung der Kosten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens auf den Nebenkläger folgt aus § 473 Abs. 1 S. 1 und S. 3 StPO.

Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).