Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 19.01.2005, Az.: 21 HEs 1/05
Erforderlichkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von sechs Monaten hinaus ; Haftgrund der Fluchtgefahr ; Folgen des Drohens einer ganz erheblichen Freiheitsstrafe im Falle einer Verurteilung; Anrechnung einer in einem anderen Verfahren erlittenen Untersuchungshaft auf eine im vorliegendem Verfahren vollzogenen Untersuchungshaft; Begriff dieselbe Tat; Vorliegen einer selben Tat im Falle eines Begehens von neuen Straftaten oder eines Bekanntwerden der Straftaten erst nach Beendigung des Vollzugs einer Untersuchungshaft
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 19.01.2005
- Aktenzeichen
- 21 HEs 1/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 10113
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2005:0119.21HES1.05.0A
Rechtsgrundlagen
- § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO
- § 112 Abs. 3 StPO
- § 112 Abs. 1 S. 2 StPO
- § 120 Abs. 1 Hs. 2 StPO
- § 121 Abs. 1 StPO
Verfahrensgegenstand
Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln
Amtlicher Leitsatz
Dieselbe Tat im Sinne des § 121 StPO liegt nicht vor, wenn nach Beendigung des Vollzugs von Untersuchungshaft neue Straftaten begangen oder erst bekannt werden, die somit nicht bereits Gegenstand eines früheren Haftbefehls sein konnten.
In der Strafsache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle im Haftprüfungsverfahren
nach §§ 121, 122 StPO
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft,
der Angeklagten und deren Verteidiger
durch
den Richter am Oberlandesgericht ... ,
die Richterin am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
am 19. Januar 2005
beschlossen:
Tenor:
Die Untersuchungshaft dauert fort.
Die weitere Haftprüfung wird für die Zeit bis zum 19. April 2005 dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht - dem Landgericht Hannover - übertragen.
Gründe
1.
Der Angeklagte Mu. I. wurde in vorliegendem Verfahren am 06.07.2004 und der Angeklagte Me. I. am 07.07.2004 vorläufig festgenommen. Beide Angeklagten befinden sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die Anordnung der Untersuchungshaft beruht für den Angeklagten Mu. I. auf den Haftbefehlen des Amtsgerichts Hannover vom 22.06.2004 (Az.: 270 Gs 3181/04 und 270 Gs 3260/04) bzw. nach erfolgter Verfahrensverbindung auf dem Haftbefehl des Amtsgerichts Hannover vom 01.09.2004 (Az.: 270 Gs 4532/04) und für den Angeklagten Me. I. auf dem Haftbefehl des Amtsgerichts Hannover vom 22.06.2004 (Az.: 270 Gs 3261/04).
Mit den benannten Haftbefehlen sowie mit der auf dieselben Vorwürfe gestützten Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hannover vom 22.09.2004 wird den Angeklagten unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen in der Zeit von Juni bis September 2001 (jeweils zwischen 15 und 35 Kilogramm Marihuana) als Mitglied einer Bande, dem Angeklagten Me. I. hierüber hinaus eine schwere räuberische Erpressung (Tatzeit 11.01.2002) und dem Angeklagten Mu. I. unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (5 kg Heroingemisch, Tatzeit Januar 2001) zur Last gelegt. Hinsichtlich der Einzelheiten der den Angeklagten zur Last gelegten Taten wird auf die benannten Haftbefehle sowie auf die Anklageschrift vom 22.09.2004 Bezug genommen. Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft wurde für beide Angeklagte auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Durch Beschluss der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 06.12.2004 wurde die Anklage wurde zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.
Das Landgericht und die Staatsanwaltschaft halten die Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von sechs Monaten hinaus für erforderlich.
2.
Die besondere Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO nach sechs Monaten Untersuchungshaft ergibt, dass diese gegen die Angeklagten fortdauern muss.
a)
Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anordnung und die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 StPO liegen vor.
aa)
Die Angeklagten sind der ihnen zur Last gelegten Taten aufgrund des in der Anklageschrift vom 22.09.2004 zutreffend zusammengefassten wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen dringend verdächtig. Hierauf wird Bezug genommen.
bb)
Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Beide Angeklagte müssen sich für den Fall ihrer Verurteilung mit einer ganz erheblichen Freiheitsstrafe konfrontiert sehen, die einen erheblichen Fluchtanreiz bietet.
Der Angeklagte Mu. I. ist türkischer Staatsangehöriger. Zwar lebt er gemeinsam mit seiner Ehefrau und einem gemeinsamen Kind in Hannover. Allein dies ist aber nicht geeignet, dem bestehenden Fluchtanreiz entgegen zu wirken. Der Angeklagte Mu. I. hat sich nicht nur in vorliegendem Verfahren zu verantworten. Gegen ihn ist am 30.06.2004 Anklage zum Schwurgericht des Landgerichts Hannover wegen versuchter Anstiftung zum Mord erhoben worden (Az.: 6041 Js 44495/03), was die bestehende Straferwartung und hiermit die Annahme des Fluchtanreizes ganz erheblich verstärkt. Mit Haftbefehl der 13. großen Strafkammer (Schwurgericht) des Landgerichts Hannover vom 20.08.2004 (Az.: 39 a 14/2004) werden dem Angeklagten in jenem Verfahren überdies weitere Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zur Last gelegt. Hinzu kommt, dass der Angeklagte, der bereits unter falschen Personalien in das Bundesgebiet eingereist war, der Aussage des Zeugen K. zufolge falsche Pässe soll besorgen können. Nach Angaben des Mitangeklagten G. soll der Angeklagte eine 'Luxuswohnung' in Istanbul besitzen. Der Angeklagte hat schließlich im Rahmen der Exploration durch den Sachverständigen Dr. T. selbst erklärt, er habe in der Türkei ein Vermögen in Höhe von mittlerweile 300.000, DM. All dies begründet einen ganz erheblichen Anreiz, sich dem Verfahren durch Flucht zu entziehen. Vor diesem Hintergrund bleibt unerheblich, dass der Angeklagte dem Vorbringen seiner Verteidigerin zufolge sich vor seiner Festnahme im Juni 2004 kooperativ gezeigt haben soll. Ein in diesem Sinne kooperatives Verhalten des Angeklagten ist für den gegenwärtigen Zeitpunkt im Übrigen nicht festzustellen.
Der Angeklagte Me. I. ist ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, fluchthemmende soziale Bindungen in Deutschland sind nicht erkennbar. Hierbei ist unerheblich, ob der Angeklagte Me. I. vor seiner Verhaftung Kenntnis davon hatte, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt wird, denn es ist nicht erkennbar, dass der Angeklagte mit einer baldigen Festnahme bereits rechnen musste und Kenntnis davon hatte, welche Strafe ihn im Falle seiner Verurteilung erwartet.
cc)
Mildere Mittel im Sinne von § 116 Abs. 1 StPO, durch die der Zweck der Untersuchungshaft erreicht werden könnte, sind hiernach nicht ersichtlich.
dd)
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Maßgabe der §§ 112 Abs. 1 Satz 2, 120 Abs. 1 Hs. 2 StPO ist auch unter Berücksichtigung der Dauer der bereits erlittenen Untersuchungshaft und des in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgebots im Hinblick auf die Schwere der den Angeklagten zur Last gelegten Taten und die beträchtliche Straferwartung weder durch die Anordnung noch die Fortdauer der Untersuchungshaft berührt.
b)
Auch die besonderen Voraussetzungen für eine Fortdauer der Untersuchungshaft über den Zeitraum von sechs Monaten hinaus gemäß § 121 Abs. 1 StPO sind gegeben. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist beachtet worden. Ein Urteil vor Ablauf der Sechsmonatsfrist hat aus wichtigem Grund bisher nicht ergehen können.
Verzögerungen im Bereich der polizeilichen Ermittlungen sind nicht festzustellen, diese waren zum Zeitpunkt der Festnahme der Angeklagten bereits weitgehend abgeschlossen.
Die Angeklagten hatten im Rahmen ihrer Zuführung vor den Haftrichter zunächst Bereitschaft signalisiert, nach Rücksprache mit ihren Verteidigern Einlassungen zur Sache abzugeben. In der Folge erhielten die Verteidiger Akteneinsicht. Einlassungen wurde indes nicht abgegeben. Nachfolgend sollte in einem Gespräch zwischen den Verfahrensbeteiligten am 20.08.2004 geklärt werden, ob das Verfahren einvernehmlich gefördert werden könnte. Nachdem aber eine der Verteidigerinnen des Angeklagten Mu. I. an dem Gespräch nicht teilgenommen hatte, kam eine Verständigung nicht zustande. Am 07.09.2004 wurde dem Mitangeklagten O. ein notwendiger Verteidiger beigeordnet, dieser erhielt zunächst Akteneinsicht. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden sodann unter dem 22.09.2004 abgeschlossen, am selben Tage wurde die Anklageschrift verfasst und deren Übersetzung bereits veranlasst.
Die Akten gingen am 23.09.2004 beim Landgericht Hannover ein. Mit Verfügung vom 27.09.2004 veranlasste der Vorsitzende die Zustellung der Anklageschrift nebst der veranlassten Übersetzung und räumte eine dem umfangreichen Verfahrensgegenstand angemessene Frist zur Stellungnahme von drei Wochen ein. Zudem wurde die Übersetzung des Begleitschreibens des Vorsitzenden in die türkische Sprache veranlasst.
Zwischenzeitlich hatte sich der Angeklagte Mu. I. am 14.09.2004 in der Justizvollzugsanstalt Selbstverletzungen beigebracht, was nach Eingang diesbezüglicher Stellungnahmen der Anstalt sachgerecht und ausreichend zeitnah die Staatsanwaltschaft unter dem 05.10.2004 veranlasste, bei der Kammer das Einholen eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens auch zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu beantragen. Nachdem den Verteidigerinnen insoweit rechtliches Gehör gewährt worden war, beschloss das Landgericht am 03.11.2004 die beantragte Begutachtung und beauftragte den Sachverständigen Dr. T. mit der Untersuchung. Das Vorliegen des Gutachtens wurde für Anfang 2005 in Aussicht gestellt, die Exploration durch den Sachverständigen erfolgte an fünf Terminen bereits in der Zeit vom 29.11.2004 bis zum 14.12.2004.
Noch vor Eingang des Gutachtens hat die Kammer mit Beschluss vom 06.12.2004 die Anklage der Staatsanwaltschaft Hannover zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Vorlage an den Senat zum Zwecke der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO erfolgte unter dem 08.12.2004. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. T. liegt seit dem 05.01.2005 vor.
Nach alledem hätte bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist ein Urteil in der umfangreichen Strafsache nicht ergehen können. Insbesondere liegt in dem Verhalten des Angeklagten Mu. I. durch Beibringen der Selbstverletzungen und das hierdurch erst erforderlich gewordene psychiatrische Sachverständigengutachten kein von den Justizbehörden zu verantwortender Grund, aus dem die Hauptverhandlung bislang nicht hat beginnen können. Das Gutachten ist sachgerecht und noch hinreichend zeitnah in Auftrag gegeben worden und in kurzer Zeit zu den Akten gelangt.
Eine Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten Me. I. mit dem Ziel einer ggflls. zeitnäheren Terminierung wäre nicht sachgerecht gewesen, weil den Angeklagten unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln als Mitglied einer Bande vorgeworfen wird und eine gemeinsame Verhandlung daher sachgerecht ist.
Der Vorsitzende der 4. großen Strafkammer hat am 10.01.2005 erklärt, nach den derzeitigen Terminplanungen sei sichergestellt, dass die Hauptverhandlung innerhalb der nächsten drei Monate dort beginnen werde. Anlass, diese Angabe in Zweifel zu ziehen, bestehen nicht.
c)
Soweit im Schriftsatz der Verteidigerin des Angeklagten Mu. I. vom 22.12.2004 ausgeführt wurde, der Angeklagte habe sich "in diesem Verfahren" bereits im Jahre 2003 von Juli bis September in Untersuchungshaft befunden, trifft dies nicht zu. Der Angeklagte befand sich nicht in vorliegendem Verfahren in Untersuchungshaft, sondern in dem bei dem Schwurgericht des Landgerichts Hannover anhängigen Verfahren zum Az.: 6041 Js 44495/03 wegen versuchter Anstiftung zum Mord. In jenem Verfahren wurde aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hannover vom 12.06.2003 (Az.: 270 Gs 2537/03) Untersuchungshaft vom 20.07.2003 bis zum 17.09.2003 vollzogen und der Angeklagte Mu. I. sodann aus der Untersuchungshaft entlassen.
Die Voraussetzungen, nach denen die in jenem Verfahren erlittene Untersuchungshaft auf die in vorliegendem Verfahren vollzogene Untersuchungshaft anzurechnen wäre, liegen nicht vor, denn es handelt sich nicht um dieselbe Tat im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO. Nach ständiger Rechtsprechung der Senate des hiesigen Oberlandesgerichts (etwa Beschluss des 2. Strafsenats vom 31.03.2004, 22 HEs 3/04; Senatsbeschluss vom 31.08.1987, NStZ 1987, 571) umfasst der Begriff der Tat i. S. des § 121 StPO alle - auch in verschiedenen Verfahren verfolgten - Taten im prozessualen Sinn, die einer Verfahrensverbindung zugänglich gewesen wären und die in einem einzigen Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, weil nur auf diese Weise dem Schutzzweck des § 121 Abs. 1 StPO genügt und eine "Reservehaltung" von Tatvorwürfen zur Verlängerung der Untersuchungshaft entgegengewirkt werden kann.
Dieselbe Tat in diesem Sinne liegt hiernach nicht vor, wenn nach Beendigung des Vollzugs von Untersuchungshaft neue Straftaten begangen oder erst bekannt werden, die somit nicht bereits Gegenstand des früheren Haftbefehls sein konnten (vgl. zum Ganzen nur Meyer-Goßner, 47. Aufl., § 121 Rn 11 ff. m.w.N.). So liegen die Dinge hier. Der in vorliegendem Verfahren gegen den Angeklagten Mu. I. erhobene Vorwurf des unerlaubten Handeltreibens mit 5 kg Heroingemisch ist den Ermittlungsbehörden erst nach der Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft in dem Verfahren wegen versuchter Anstiftung zum Mord, und zwar am 10.06.2004 durch die Vernehmung des Zeugen C. I. (alias C. J.) bekannt geworden. Erst hiernach ist in vorliegendem Verfahren Haftbefehl gegen den Angeklagten ergangen, so dass die im Jahre 2003 vollzogene Untersuchungshaft für den Lauf der Frist des § 121 Abs. 1 StPO in vorliegendem Verfahren ohne Belang bleibt. Die zeitlich nachfolgende Verbindung des Verfahrens zum Az.: 6041 Js 20594/04, in dem ebenfalls mit Beschluss vom 22.06.2004 wegen weiterer Taten die Untersuchungshaft angeordnet worden war, zu vorliegendem Verfahren ändert hieran nichts, denn Sinn und Zweck der besonderen Haftprüfung nach § 121 StPO würde es nicht entsprechen, wenn die Anrechnung eines früheren Vollzugs von Untersuchungshaft wegen anderer Vorwürfe dazu führen könnte, dass den Strafverfolgungsbehörden und Tatgerichten die ihnen vom Gesetzgeber eingeräumte Bearbeitungsfrist aus nicht sachbezogenen Gründen beschnitten oder ganz genommen werden würde (Beschluss des 2. Strafsenats vom 22.05.2001, 32 HEs 4/01).
3.
Die Übertragung der Haftkontrolle beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.