Amtsgericht Emden
Beschl. v. 08.09.2003, Az.: 16 F 786/02 So

Alleinsorge; Anhörung; Aufenthaltsbestimmungsrecht; Bluttransfusion; Eilmaßnahme; elterliche Sorge; Entscheidungsreife; Erziehung; Erziehungseignung; Erziehungsstil; Fremdblut; Fremdblutfreiheit; Gesundheitsfürsorge; Getrenntleben; Glaubensgemeinschaft; Grundeinstellung; Kindergarten; Kindeswohl; Konflikt; Kooperationsbereitschaft; Mitgliedschaft; Religionsfreiheit; Religionsgemeinschaft; religiöse Erziehung; Sorgerecht; Zeugen Jehovas; Übertragung

Bibliographie

Gericht
AG Emden
Datum
08.09.2003
Aktenzeichen
16 F 786/02 So
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48384
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Solange die Kooperationsbereitschaft beider Eltern insbesondere in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung (§ 1687 BGB) gegeben ist, besteht kein Anlass, von der gemeinsamen elterlichen Sorge zum Wohl des Kindes abzuweichen.
2. Für die Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil allein ist es nicht ausreichend, wenn das Kind durch die voneinander abweichende Lebensweise der Eltern in religiöser Hinsicht in einen Konflikt gerät. Ein solcher Konflikt ist im Interesse der Religionsfreiheit aller Beteiligten und des beiderseitigen Elternrechts hinzunehmen. Auch unterschiedliche Auffassungen der Eltern (hier insbesondere des Kindesvaters zu Jehovas Zeugen) zu Fragen der Gesundheitsfürsorge, insbesondere zu Fragen medizinischer Notfälle, in denen unter Zeitdruck über eine Bluttransfusion entschieden werden müsste, erfordern keinen vorbeugenden Eingriff in das Sorgerecht.

Tenor:

1. Der Antrag der Antragstellerin auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts, hilfsweise des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts, wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Parteien je zur Hälfte. Eine Erstattung außergerichtliche Kosten findet nicht statt.

3. Der Gegenstandswert wird auf 3.000,- € festgesetzt.

Gründe

1

Die Kindeseltern leben seit Februar 2002 mit dem Ziel der Ehescheidung voneinander getrennt. Der gemeinsame Sohn ... lebt bei der Mutter. Die Beteiligten sind sich im wesentlichen über die Ausübung des Sorgerechts einig. Differenzen bestehen über Fragen der religiösen Erziehung sowie über damit verbundene Fragen. Die Eheleute haben ... bis zur Trennung in ihrem gemeinsamen Glauben der Zeugen Jehovas erzogen. Die Antragstellerin hat die Glaubensgemeinschaft im November 2001 verlassen.

2

Die Kindesmutter trägt vor, eine gemeinsame Ausübung des Sorgerechts für ... sei nicht mehr möglich. In den wesentlichen Fragen der religiösen Erziehung des Kindes sowie der Gesundheitsfürsorge bestehe keine Einigkeit. In der Einstellung des Kindesvaters zu bestimmten medizinischen Maßnahmen sehe sie eine Gefahr für das Kind.

3

Die Antragstellerin beantragt,

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ihr das Sorgerecht hinsichtlich des gemeinsamen Sohnes ... allein zu übertragen, hilfsweise ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ... zu übertragen.

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Der Kindesvater beantragt, die Anträge zurückzuweisen.

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Er macht geltend,

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er wolle weiterhin wesentliche Entscheidungen für seinen Sohn mittragen. Er respektiere grundsätzlich den von seiner Ehefrau praktizierten Erziehungsstil, ihm sei aber im Interesse seines Kindes die zurückhaltende Vermittlung von den Zeugen Jehovas vertretener religiöser Inhalte sowie eine fremdblutfreie Medizin für seinen Sohn wichtig.

8

Das Gericht hat am 01. September 2003 persönlich angehört.

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II. Der Antrag der Kindesmutter, ihr die elterliche Sorge für den gemeinsamen Sohn ... allein zu übertragen, war gemäß § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB zurückzuweisen, weil nicht zu erwarten ist, daß die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

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Beide Elternteile sind uneingeschränkt geeignet, die elterliche Sorge für ... auszuüben. Entgegenstehende Anhaltspunkte haben weder die Anhörung der Kindeseltern noch die von der Vertreterin des Jugendamts mitgeteilten Ermittlungsergebnisse erbracht.

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Es ist nicht zu erwarten, daß die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Kindesmutter allein dem Wohl des Kindes am besten entspricht Das Gericht ist aufgrund der Ergebnisse der Anhörung der Beteiligten davon überzeugt, daß die Kindeseltern in der Lage sind, die Verantwortung für ... weiterhin gemeinsam zu tragen.

12

Kooperationsbereitschaft ist gegeben, solange zwischen den Eltern in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung (§ 1687 BGB) im wesentlichen Einigkeit besteht. Die Kindeseltern haben sich in der Vergangenheit über wesentliche Fragen einigen können. So sind sie übereingekommen, daß ... den Kindergarten besuchen soll, obwohl dies nach den Ausführungen der Kindesmutter bei den Zeugen Jehovas nicht gern gesehen sei. Nach dem persönlichen Eindruck des Gerichts aus der Anhörung der Beteiligten sind die Kindeseltern weiterhin in der Lage, Fragen betreffend das gemeinsame Kind zu diskutieren und einer Lösung zuzuführen.

13

Auch über die religiöse Erziehung des Kindes besteht im Grundsatz weiterhin Konsens. Die Eltern sind sich darüber einig, daß die Erziehung aufgrund der tatsächlichen Situation, daß ... sich bis auf ein im 14-tägigen Rhythmus stattfindendes Besuchswochenende beim Vater ganz überwiegend bei der Mutter aufhält. Nach dem Ergebnis der Anhörung des Kindesvaters ist auch diesem bewußt, daß die religiöse Erziehung ... im wesentlichen durch die Mutter geprägt ist. Der Kindesvater hat weiter ausgeführt, er habe nicht vor, ... in religiösen Fragen konkret zu beeinflussen. Er respektiere, daß seine Ehefrau mit ... Weihnachten und andere christliche Feste sowie Geburtstage begehe. Er beabsichtige allerdings, Fragen zu religiösen Themen nach seinem biblischen Verständnis und nach seiner Überzeugung zu beantworten. Demgegenüber hat die Kindesmutter anläßlich ihrer Anhörung im Umgangsrechtsverfahren ausgeführt, sie beabsichtige, ... auf dessen Fragen ihren nicht an eine bestimmte Religion gebundenen Glauben an Gott zu vermitteln. Bei dieser Sachlage ist eine im Interesse beider Eltern stehende, eine positive religiöse Grundeinstellung vermittelnde, aber im übrigen religiös offene Erziehung derzeit gemeinsam möglich. Beide Eltern haben im Rahmen ihrer Anhörung bekundet, konkrete Entscheidungen im Hinblick auf die religiöse Erziehung stünden nicht an. Während die Kindesmutter nicht beabsichtigt, ... etwa im Rahmen einer anderen christlichen Religion taufen zu lassen, stellt sich die Frage eines Beitritts zu den Zeugen Jehovas derzeit nicht, da über eine Mitgliedschaft in dieser Glaubensgemeinschaft nach den übereinstimmenden Angaben der Kindeseltern der Betreffende bei Eintritt der religiösen Entscheidungsreife selbst befindet.

14

Allein der Umstand, daß das Kind durch die erheblich voneinander abweichende Lebensweise der Eltern in religiöser Hinsicht in einen Konflikt gerät, rechtfertigt keinen Eingriff in das Elternrecht. Diese Situation tritt typischerweise bei Trennung eines Elternpaars ein, das unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehört, und stellt sich in Grenzen selbst bei intakter Beziehung der Eltern. Im Interesse der Religionsfreiheit aller Beteiligten und des beiderseitigen Elternrechts ist dieser Konflikt hinzunehmen.

15

Auch die voneinander abweichenden Auffassungen der Kindeseltern zu Fragen der Gesundheitsfürsorge rechtfertigen nicht einen Eingriff in das väterliche Elternrecht. Die Anhörung der Kindeseltern hat ergeben, daß zwischen ihnen auch in medizinischen Fragen weitgehend Einigkeit besteht, insbesondere gar über eine möglichst fremdblutfreie Behandlung. Ihre Auffassungen differieren allein in Fragen medizinischer Notfälle, in denen unter Zeitdruck über eine Bluttransfusion entschieden werden müßte. Allein diese theoretische Problematik erfordert jedoch nicht einen vorbeugenden Eingriff in das Sorgerecht. Selbst wenn dieser hypothetische Fall eintreten sollte, so wäre dem Kindeswohl mit Hilfe von Eilmaßnahmen im Rahmen des § 1666 BGB Rechnung zu tragen.

16

Im übrigen sind die Kindeseltern sich trotz ihrer religiösen Auffassungen über wesentliche Fragen des Erziehungsstils, zum Beispiel über den Besuch des Kindergartens, in der Vergangenheit einig geworden. Der Kindesvater hat ausgeführt, daß er sich etwa der Teilnahme an einer Klassenfahrt nicht entgegenstellen würde. Allein die Befürchtung, daß die religiöse Problematik eine Konfliktsituation künftig entstehen lassen könnte, kann nicht Grundlage eines Sorgerechtseingriffs zum jetzigen Zeitpunkt sein.

17

Die hilfsweise begehrte Übertragung lediglich des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Kindesmutter war ebenfalls nicht anzuordnen, weil nach dem beiderseitigen Vorbringen im Termin Einigkeit über den regelmäßigen Aufenthalt ... bei der Kindesmutter besteht.

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Die Kostenentscheidung hat ihre Grundlage in §§ 13 a FGG, 94, 39 KostO.