Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 30.08.2004, Az.: 2 Ws 181/04
Zulässigkeit des Antrages auf gerichtliche Entscheidung im Klagerzwingungsverfahren zur Verfolgung des Vorwurfs der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs; Folgen der Möglichkeit des tödlichen Ausganges auf Seiten des Antragstellers durch einen Verkehrsunfall hinsichtlich der Zulässigkeit des Antrages
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 30.08.2004
- Aktenzeichen
- 2 Ws 181/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 17392
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2004:0830.2WS181.04.0A
Rechtsgrundlagen
- § 172 StPO
- § 315c Abs. 1 Nr. 2 b StGB
- § 315c Abs. 3 Nr. 2 StGB
Fundstellen
- JWO-VerkehrsR 2004, 331
- NStZ-RR 2004, 369-370 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Gefährdung des Straßenverkehrs
Amtlicher Leitsatz
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Klagerzwingungsverfahren nach § 172 StPO zur Verfolgung des Vorwurfs der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c Abs. 1 Nr. 2 b, Abs. 3 Nr. 2 StGB) ist jedenfalls dann zulässig, wenn nach dem zugrundeliegenden Sachverhalt ein tödlicher Unfall des Antragstellers nahe gelegen hat.
In dem Rechtsstreit
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf den Antrag des D. B., S.,
vertreten durch
Rechtsanwältin B.-R., D.,
auf gerichtliche Entscheidung über den Bescheid des Generalstaatsanwalts in Celle vom 16. Juni 2004
nach dessen, des Beschuldigten und dessen Verteidigers Anhörung
durch
den Richter am Oberlandesgericht W.,
den Richter am Oberlandesgericht R. und
den Richter am Landgericht Sch.-C.
am 30. August 2004 beschlossen:
Tenor:
Gegen den Beschuldigten ist Anklage zu erheben.
Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt, am 13. Dezember 2003 gegen 13:00 Uhr in der Gemarkung R. vorsätzlich im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt oder sonst bei Überholvorgängen falsch gefahren zu sein und dadurch fahrlässig Leib oder Leben anderer Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet zu haben, wobei sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, indem er bei regnerischem Wetter mit seinem Pkw als fünftes Fahrzeug einer Fahrzeugkolonne die Kreisstraße K 119 von R. in Richtung R. befuhr, dann, nachdem die drei vor ihm fahrenden Fahrzeuge zum Überholen der mit etwa 70 km/h mit ihrem Pkw an der Spitze der Kolonne fahrenden Zeugin H. angesetzt hatten, den drei vor ihm fahrenden, überholenden Fahrzeugen folgte, um nicht weiter mit langsamerer Geschwindigkeit hinter dem Pkw der Zeugin H. hinterher fahren zu müssen, ohne dabei wegen der Witterungsverhältnisse und der vor ihm fahrenden Fahrzeuge etwaigen Gegenverkehr beachten zu können; erst als das unmittelbar vor ihm fahrende Fahrzeug bereits nach rechts eingeschert war, konnte er den entgegenkommenden Pkw des Zeugen H. bemerken, in dessen Fahrzeug sich noch dessen ein- und sechsjährige Töchter befanden; nur durch starkes Abbremsen des Zeugen B. und dessen Ausweichen von der Straße auf den Grünstreifen zwischen den Straßenbäumen hindurch sowie eine sodann auch von dem Beschuldigten eingeleitete Abbremsung wurde eine Kollision der Fahrzeug vermieden.
Vergehen, strafbar nach §§ 315 c Abs. 1 Nr. 2 b, Abs. 3 Nr. 1, 69 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 69 a StGB.
Gründe
1.
Der form- und fristgerechte Antrag des Anzeigeerstatters auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig; auch hinsichtlich der vorgeworfenen Straftat der fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung ist der Anzeigeerstatter jedenfalls bei der vorliegenden Fallgestaltung als unmittelbar Verletzter i. S. von § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO anzusehen.
Zwar mag bei einem entsprechenden Vorwurf nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2 b, Abs. 3 Nr. 2 StGB, bei dem es sich um ein konkretes Gefährdungsdelikt mit doppelter Schutzrichtung handelt, die Verletzteneigenschaft i. S. von § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO fraglich sein, solange - wegen der Einschränkung nach § 172 Abs. 2 Satz 3 StPO - das durch die Straßenverkehrsstrafbestände im Einzelfall geschützte Individualrechtsgut - etwa eine fahrlässige Körperverletzung - auch im Wege der Privatklage weiter verfolgt werden kann (vgl. OLG Stuttgart NJW 1997, S. 1320, 1321 [OLG Stuttgart 20.12.1996 - 1 Ws 189/96]; anders: OLG Koblenz VRS 63, 359 ff.). Jedenfalls im vorliegenden Fall steht dieser Gesichtspunkt der Zulässigkeit des Klagerzwingungsverfahrens nicht entgegen, weil nach dem zugrunde zu legenden Ermittlungsergebnis hinreichende Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der drohende Frontalzusammenstoß beider Fahrzeuge auf Seiten des Antragstellers einen tödlichen Ausgang hätte nehmen können, was angesichts des Vorfallsablaufs nicht fern liegt. Eine Verweisung auf den Privatklageweg käme indessen bei einem fahrlässigen Tötungsdelikt nicht in Betracht, sodass hier dem Gefährdeten bei Zulassung des Klageerzwingungsverfahrens keine weitergehenden Rechte als dem unmittelbar Verletzten (bzw. dessen Angehörigen) eingeräumt werden.
2.
Nach dem Ergebnis der Ermittlungen ist der Beschuldigte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig (§ 203 StPO).
Ein entsprechender hinreichender Tatverdacht bedeutet nach vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweisen (vgl. BGHSt. 23, 304, 306) [BGH 22.07.1970 - 3 StR 237/69]. Das ist mehr als die zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichende Möglichkeit einer Verurteilung, aber weniger als die mit Sicherheit zu erwartende Verurteilung (vgl. KK-Tolksdorf, StPO, 5. Aufl., § 203 Rdnr. 2 ff.).
Diesen Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schuldspruchs hält der Senat nach dem Ergebnis der Ermittlungen für erreicht.
Der Vorfallshergang ist auch aufgrund der eigenen Einlassung des Beschuldigten weitgehend geklärt. Danach hat der Beschuldigte als letztes Fahrzeug einer Kolonne von vier Pkws den Überholvorgang eines vorausfahrenden Fahrzeuges eingeleitet, ohne in der Lage zu sein, den Gegenverkehr beobachten zu können. Er hat seinen Überholvorgang nahezu "blind" durchführen wollen, um schneller voranzukommen Erst als er sich neben dem zu überholenden Fahrzeug befand und der vor ihm fahrende Pkw nach rechts eingeschert war, konnte er den ihm entgegenkommenden Pkw des Anzeigeerstatters B. bemerken, wobei konkrete Abstände und Entfernungen noch nicht abschließend geklärt sind.
Jedenfalls sah sich der mit seinen kleinen Kindern entgegenkommende Zeuge B. gehalten, nicht nur stark abzubremsen, sondern darüber hinaus zur Vermeidung einer Kollision die Fahrbahn mit dem Fahrzeug zu verlassen und auf den Grünstreifen auszuweichen. Auch der Beschuldigte leitete eine starke Abbremsung ein, die schließlich dazu führte, dass er die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und mit diesem nach rechts von der Fahrbahn abkam. Bei dieser Sachlage besteht der hinreichende Verdacht einer fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs durch falsches Überholen.
Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO darf nur der überholen, der übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte den Überholvorgang durchgeführt hat, obwohl er wegen der schlechten Sichtverhältnisse und der vor ihm fahrenden Fahrzeuge den Straßenverlauf und etwaige entgegenkommende Kraftfahrzeuge nicht beobachten konnte. Dieses Verhalten kann eine jedenfalls auf bedingten Vorsatz zurückzuführende grobe Verkehrswidrigkeit darstellen; auch das etwaige Bewusstsein der Selbstgefährdung würde den Vorsatz nicht ausschließen (vgl. Tröndle/Fischer, StPO, 52. Aufl., § 315 c Rdnr. 18).
Nach dem jetzigen Ermittlungsstand ist zudem von der Rücksichtslosigkeit des Fahrverhaltens auszugehen, weil der hinreichende Verdacht besteht, dass sich der Beschuldigte aus Gleichgültigkeit keinerlei Gedanken über sein Fahrverhalten gemacht hat und bedenkenlos drauflosgefahren ist. Jedenfalls bei vorläufiger Bewertung geht sein Fehlverhalten nicht auf Unaufmerksamkeit oder sonstiges menschliches Versagen zurück, sondern darauf, dass auch er - wie die vor ihm fahrenden Fahrzeuge - die langsamer fahrende Zeugin H. überholen wollte, um schneller vorankommen zu können.
Auch der hinreichende Verdacht einer zumindest fahrlässig herbeigeführten konkreten Gefahr besteht. Aufgrund der nachvollziehbaren Angaben des Anzeigeerstatters Hagen - die sich in großen Teilen mit der Darstellung des Beschuldigten deckt - bestand die naheliegende Wahrscheinlichkeit einer frontalen Kollision beider Fahrzeuge, hätte nicht der Anzeigeerstatter Hagen gebremst und ein Ausweichmanöver eingeleitet.
Ein hinreichender Tatverdacht hinsichtlich weiterer Straftaten, etwa eine Nötigung gemäß § 240 StGB, besteht nicht, weil es insoweit jedenfalls an ausreichenden Anhaltspunkten für die Annahme eines vorsätzlichen Handelns des Beschuldigten fehlt.