Inhaltsübersicht |
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I. | Grundlagen des Täter-Opfer-Ausgleichs |
1. | Rechtsgrundlagen |
2. | Ziel und Vorteile |
3. | Inhalt |
4. | Zuständigkeit |
II. | Voraussetzungen, geeignete Fälle |
III. | Verfahren |
1. | Verfahren der Polizei |
2. | Verfahren der Staatsanwaltschaft |
3. | Verfahren der Konfliktschlichtungsstellen |
4. | Gerichte und Rechtsanwaltschaft |
IV. | Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten |
V. | Belehrungs- und Hinweispflichten gegenüber verletzten Personen im Strafverfahren |
I. Grundlagen des Täter-Opfer-Ausgleichs
1. Rechtsgrundlagen
Die Rechtsgrundlagen für den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) finden sich in § 46a StGB sowie § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 und den §§ 155a, 155b StPO.
2. Ziel und Vorteile
Der TOA ist ein Instrument zur außergerichtlichen Konfliktschlichtung, mit dem nach einer Straftat ein Schadensausgleich immaterieller und materieller Art erstrebt und durchgeführt wird. Er dient der Wiederherstellung des Rechtsfriedens und damit insbesondere auch der nachhaltigen Vermeidung künftiger Straftaten zwischen den Beteiligten. Die Anregung zu einem TOA kann von der verletzten Person (siehe Abschnitt II. Nr. 2, Buchst. b), von der tatverantwortlichen Person (siehe Abschnitt II. Nr. 2, Buchst. a), von Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälten, der Polizei oder von sonstigen Beteiligten ausgehen. Die Beauftragung erfolgt durch die Staatsanwaltschaft, das Gericht oder als Selbstmelder.
Ein Vorteil für die häufig auch in ihrer Würde verletzte Person ist neben dem schnellen und kostenlosen materiellen Schadensausgleich auch die Möglichkeit, hierdurch ihre Integrität und ihr persönliches Sicherheitsgefühl zurückzuerlangen sowie einer Stigmatisierung entgegenzuwirken. Die verletzte Person bleibt nicht in einer passiven Zeugenrolle, sondern kann ihr Interesse an einer sinnvollen Schadenskompensation und dauerhaften Konfliktlösung selbst vertreten sowie den Verlauf und die Inhalte des Verfahrens aktiv mitbestimmen. Die tatverantwortliche Person hat in einem TOA-Verfahren die Gelegenheit, Verantwortung für die Straftat zu übernehmen, an einer nachhaltigen Konfliktlösung zu arbeiten und darüber hinaus mit den bei der verletzten Person hervorgerufenen Folgen ihrer Straftat konfrontiert zu werden.
3. Inhalt
Die tatverantwortliche Person und die verletzte Person besprechen in Anwesenheit einer Mediatorin oder eines Mediators in Strafsachen die Tat, deren Ursachen und ihre Folgen. Am Ende dieses Gesprächs, das mithilfe der neutralen Vermittlungsperson im direkten Dialog oder im Rahmen einer indirekten Vermittlung geführt wird, steht der Abschluss einer Ausgleichsvereinbarung. Diese kann von einer formlosen Entschuldigung bis zu umfangreichen Regelungen über Schadensersatz, Schmerzensgeld oder Rentenzahlungen, aber auch künftiges Verhalten, reichen.
4. Zuständigkeit
In Niedersachsen wird die Mediation in Strafsachen im Rahmen eines TOA von Konfliktschlichtungsstellen durchgeführt. Je nach regionaler Zuständigkeit ist der Ambulante Justizsozialdienst Niedersachsen (AJSD) oder einer der zu diesem Zweck staatlich geförderten freien Träger zuständig, deren Kontaktdaten auf der Internetseite des MJ (www.mj.niedersachsen.de) eingesehen werden können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Konfliktschlichtungsstellen können gemäß § 46a StGB i. V. m. § 155a StPO und gemäß § 153a StPO mit der Durchführung von TOA-Verfahren beauftragt werden.
II. Voraussetzungen, geeignete Fälle
1. Die Voraussetzungen einer Mediation in Strafsachen im Rahmen eines TOA sind in jeder Lage des Verfahrens deliktsunabhängig zu prüfen.
2. Ein TOA kommt insbesondere in Betracht, wenn
a)
die tatverantwortliche Person die schädigende Handlung im Wesentlichen einräumt und/oder Verantwortung dafür übernimmt,
b)
auf der Seite der verletzten Person eine natürliche Person, die eine materielle, physische oder psychische Schädigung erlitten hat, betroffen ist und
c)
die verletzte Person und die tatverantwortliche Person freiwillig zu einem Ausgleichsversuch
bereit sind.
3. Geeignet sind vor allem Fälle der mittleren Kriminalität. In einzelnen Fällen können auch Taten aus dem Bereich der schweren Kriminalität oder der Kleinkriminalität in Betracht kommen. Besonders geeignet sind Fälle der Gewaltanwendung gegen Personen, auch im Rahmen häuslicher Gewalt, Fälle aus dem Phänomenbereich des Cybercrime sowie Vermögens- und Eigentumsdelikte.
4. Mit Rücksicht auf das aufwendige Verfahren der Konfliktschlichtung scheiden grundsätzlich Fälle der Kleinkriminalität aus, in denen eine sanktionslose Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft in Betracht kommt. Beim Vorhandensein eines Dauerkonflikts kann geprüft werden, ob ein TOA zukünftige Taten verhindern kann.
III. Verfahren
1. Verfahren der Polizei
1.1 In Fällen, die für einen TOA in Betracht kommen, führt die Polizei alle unaufschiebbaren Maßnahmen durch, insbesondere die Sicherung der von Verlust bedrohten Beweise, und beschränkt die weiteren Ermittlungen nach Klärung des Grundsachverhalts zunächst auf die Feststellung der Personalien sowie die Vernehmung der verletzten Person und der tatverantwortlichen Person.
1.2 In geeigneten Fällen unterrichtet die Polizei bei der ersten Gelegenheit die verletzte Person oder deren anwaltliche Vertretung über die Möglichkeit des TOA durch Aushändigung oder Versendung ggf. vorhandener Flyer regionaler Anbieter zum TOA und/oder des landeseinheitlichen Faltblattes zum TOA (in seiner jeweils gültigen Fassung). Ist die verletzte Person nicht anwaltlich vertreten, soll der TOA mündlich erläutert werden. Die Unterrichtung und ggf. die Stellungnahme der verletzten Person sind in den Akten zu vermerken.
1.3 Die Polizei sucht in geeigneten Fällen Kontakt zu der tatverantwortlichen Person oder zu deren anwaltlicher Vertretung und unterrichtet sie über die Möglichkeit des TOA sowie die denkbaren strafprozessualen Folgen. Hierfür sind ggf. vorhandene Flyer regionaler Anbieter zum TOA oder das landeseinheitliche Faltblatt zum TOA auszuhändigen oder zu versenden. Ist die tatverantwortliche Person nicht anwaltlich vertreten, soll der TOA mündlich erläutert werden. Die Unterrichtung und ggf. die Stellungnahme der tatverantwortlichen Person sind in den Akten zu vermerken.
1.4 Entsprechend § 163 Abs. 2 Satz 1 StPO legt die Polizei einen für den TOA geeigneten Fall unverzüglich der Staatsanwaltschaft vor. Der Vorgang ist auf dem Deckel mit der blauen Aufschrift "TOA" zu kennzeichnen.
1.5 In Fällen schwerer Kriminalität oder in Zweifelsfällen stimmt die Polizei die Verfahrensweise persönlich oder telefonisch mit der zuständigen Ansprechpartnerin oder dem zuständigen Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft ab.
2. Verfahren der Staatsanwaltschaft
2.1 Bei jeder Staatsanwaltschaft wird eine Person als Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner benannt und den Polizeidienststellen, den Konfliktschlichtungsstellen, den Gerichten sowie der Rechtsanwaltskammer des Bezirks mitgeteilt. Die benannte Person hat - entsprechend der Organisationsentscheidung der Leitung der Staatsanwaltschaft - über an sie herangetragene Fragen, die den TOA allgemein oder im Einzelfall betreffen, entweder selbst zu entscheiden oder sie an die zur Entscheidung berufene Stelle weiterzuleiten.
2.2 Die Staatsanwaltschaft prüft bei Eingang jeder Akte anhand der Kriterien zu Abschnitt II, ob die Sache für einen TOA geeignet ist. Dabei sind insbesondere die gesetzliche Absicht des § 46a StGB, des § 155a, des § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 sowie des § 153b StPO und in diesem Zusammenhang das Interesse der verletzten Person zu berücksichtigen. Das Ergebnis der Prüfung ist in den Akten zu vermerken. Zweifelsfälle sind mit der Ansprechpartnerin oder dem Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft zu erörtern.
2.3 Sind die tatverantwortliche Person oder die verletzte Person anwaltlich vertreten, unterrichtet die Staatsanwaltschaft auch die jeweilige anwaltliche Vertretung durch Übersendung des landeseinheitlichen Faltblattes (siehe Nummer 1.2 Satz 1) und gibt Gelegenheit zur Stellungnahme.
2.4 In geeigneten Fällen bittet die Staatsanwaltschaft eine Konfliktschlichtungsstelle um die Durchführung des TOA. Sie übermittelt der beauftragten Stelle die zur Durchführung des TOA erforderlichen Informationen. Dabei beachtet sie die datenschutzrechtliche Regelung des § 155b Abs. 1 StPO.
2.5 Die Staatsanwaltschaft weist das Gericht, das zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens berufen ist, mit der Abschlussverfügung auch auf das Ergebnis des TOA hin.
2.6 Die Staatsanwaltschaft teilt der Polizeidienststelle, soweit diese einen TOA angeregt
hat, das Ergebnis des TOA mit.
2.7 Verfahren, in denen die Staatsanwaltschaft eine Konfliktschlichtungsstelle um die Durchführung des TOA gebeten hat, werden in der allgemeinen Datenverarbeitung (ADV) mit "TOA" gekennzeichnet.
3. Verfahren der Konfliktschlichtungsstellen
3.1 Die Konfliktschlichtungsstellen orientieren sich an dem gesetzlichen Ziel des
§ 46a StGB oder des § 153a StPO und führen den TOA nach den bundesweit anerkannten Qualitätsstandards des Servicebüros für TOA und Konfliktschlichtung in Köln in der jeweils geltenden Fassung durch (abrufbar unter www.toa-servicebuero.de).
3.2 Die Konfliktschlichtungsstellen müssen gewährleisten, dass die im Einzelfall vermittelnde Person die Betroffenen allparteilich bei der Regelung der Tatfolgen unterstützt und nicht in einen Konflikt mit einer sozialarbeiterischen Betreuungsaufgabe gerät.
3.3 Die Konfliktschlichtungsstelle berichtet der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht über das Ergebnis der Vermittlung. Spätestens bei Ablauf der von Staatsanwaltschaft oder Gericht gesetzten Frist berichtet sie über den Sachstand des Schlichtungsverfahrens, wenn es bis dahin nicht abgeschlossen werden konnte.
3.4 Die Konfliktschlichtungsstelle hat bei der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung
personenbezogener Informationen § 155b Abs. 2 bis 4 StPO zu beachten.
3.5 Die Konfliktschlichtungsstellen führen Statistiken. Die statistische Erhebung ist gesondert geregelt.
4. Gerichte und Rechtsanwaltschaft
Diese Richtlinie verfolgt auch den Zweck, das Verfahren des TOA transparent zu machen. Die nachfolgenden Hinweise sollen den Gerichten sowie der jeweiligen anwaltlichen Vertretung den Zugang zu den Konfliktschlichtungsmöglichkeiten erleichtern.
4.1 Das landeseinheitliche Faltblatt zum TOA (in seiner jeweils gültigen Fassung) kann bei den Staatsanwaltschaften oder den Polizeidienststellen angefordert werden. Die regionalen Flyer können bei allen Konfliktschlichtungsstellen angefordert werden.
4.2 Die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner bei den Staatsanwaltschaften stehen für nähere Auskünfte zur Verfügung.
4.3 Die anwaltliche Vertretung kann von sich aus die Einschaltung einer Konfliktschlichtungsstelle
anregen.
4.4 Bereits im Zwischenverfahren kann sich insbesondere im Interesse der verletzten
Person die Frage stellen, ob durch die Einschaltung einer Konfliktschlichtungsstelle
die Voraussetzungen des § 46a StGB geschaffen werden können (vgl. § 155a StPO).
4.5 Gerichte können die Konfliktschlichtungsstellen unmittelbar um die Durchführung eines TOA ersuchen. Sie können sich dabei der Sachkunde der Ansprechpartnerin oder des Ansprechpartners bei der Staatsanwaltschaft bedienen.
IV. Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten
Der TOA stellt nicht den staatlichen Strafanspruch und die tatverantwortliche Person in den Vordergrund, sondern setzt bei den persönlichen Interessen und dem autonomen Willen der Konfliktbeteiligten an. Diese Möglichkeit kann in geeigneten Fällen dazu beitragen, den Rechtsfrieden nachhaltig wiederherzustellen und die Interessen der Konfliktbeteiligten dauerhaft und angemessen zu befriedigen. Um diese im Strafrecht verankerte Schlichtungsmöglichkeit effektiv und erfolgreich zu nutzen, ist eine Vernetzung zwischen den beteiligten Institutionen und Behörden erforderlich.
Eine Stärkung und Akzeptanz des TOA im Strafrecht wird erreicht, indem insbesondere im Bereich der Staatsanwaltschaften und Gerichte sowie der Konfliktschlichtungsstellen
a)
gegenseitige Hospitationen ermöglicht und
b)
regelmäßige interdisziplinäre Dienstbesprechungen abgehalten werden, mit dem Ziel des Informationsaustauschs sowie der Koordination von Zuständigkeiten und Verfahrensabläufen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und dieser Richtlinie.
V. Belehrungs- und Hinweispflichten gegenüber verletzten Personen im Strafverfahren
Gemäß den §§ 406d bis 406l StPO hat die verletzte Person im Strafverfahren bestimmte Informations- und Mitwirkungsbefugnisse, auf die hinzuweisen ist. Dazu wird ergänzend Folgendes bestimmt:
Als verletzte Person ist anzusehen, wer durch eine Straftat in ihren Rechten oder Rechtsgütern unmittelbar verletzt worden ist. Verletzte Personen sind auch Familienangehörige, die durch den Verlust einer durch eine rechtswidrige Tat getöteten Person eine Schädigung erlitten haben. Die Hinweise an die verletzte Person sollen mithilfe des Merkblattes StP 2 "Merkblatt über Rechte von Verletzten und Geschädigten im Strafverfahren" zu Beginn des Ermittlungsverfahrens erfolgen, und zwar z. B.
a)
durch Übersendung mit Bestätigung des Eingangs einer schriftlichen Strafanzeige oder
b)
durch Aushändigung bei mündlicher Strafanzeige oder Vernehmung als Zeugen.
Die Belehrung und die Hinweise können unterbleiben, wenn die verletzte Person darauf verzichtet hat. Die Aushändigung oder Übersendung des Merkblattes oder ein etwaiger mündlicher Verzicht der verletzten Person sind aktenkundig zu machen. Anträge, mit denen die verletzte Person von ihren in dem Merkblatt genannten Rechten Gebrauch macht, sind zu den Akten zu nehmen oder anlässlich ihrer oder seiner Vernehmung zu protokollieren.