Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 19.11.2024, Az.: L 16 KR 485/23

Abgrenzung einer Infektion von einer angeborenen Infektion für die Kodierung i.R.e. Anspruchs auf Vergütung der stationären Krankenhausbehandlung eines Versicherten (hier: Neugeboreneninfektion)

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
19.11.2024
Aktenzeichen
L 16 KR 485/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 26986
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2024:1119.16KR485.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 06.09.2023 - AZ: S 1 KR 303/20

Amtlicher Leitsatz

Zur Abgrenzung von ICD P37.9 Angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet und ICD P39. 9 Infektion, die für die Perinatalperiode spezifisch ist . Der Begriff angeboren iS der ICD P37.9 ist im ICD weder normativ determiniert noch existiert eine klare medizinisch-wissenschaftlich Übereinkunft dahingehend, dass eine sich innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt entwickelnde Infektion stets als angeboren anzusehen ist. Nach dem deshalb maßgeblichen allgemeinen Begriffskern werden als angeboren alle Eigenschaften bezeichnet, welche bereits bei der Geburt angelegt sind.

In dem Rechtsstreit
B.
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt C.
gegen
D.
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
hat der 16. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2024 in Celle durch die Vorsitzende Richterin am Landessozialgericht E., die Richterin am Landessozialgericht F. und die Richterin am Landessozialgericht G. sowie die ehrenamtlichen Richterinnen H. und I. für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 6. September 2023 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 14.646,77 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Vergütung der stationären Krankenhausbehandlung eines Mitglieds der Beklagten im Hause der Klägerin.

Die Klägerin ist Trägerin eines gemäß § 108 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zugelassenen Krankenhauses. Dort wurde am 5. Februar 2018 die bei der Beklagten versicherte J. mittels Kaiserschnitts geboren und im Anschluss bis zum 5. März 2018 stationär behandelt. Die Versicherte kam in der Schwangerschaftswoche 39+1 als drittes Kind der 1994 geborenen Mutter zur Welt. Das erste Kind der Mutter war im Alter von 1,5 Jahren an einer unklaren exsudativen Enteropathie und Hepatopathie verstorben. Die Versicherte wurde mit einem Geburtsgewicht von 2.670 g in stark reduziertem Allgemeinzustand geboren. Es bestanden ein blasses Hautkolorit, Akrozyanose, Tachydyspnoe, subcostale Einziehungen sowie eine stöhnende Atmung. Bei der Geburt hatte die Versicherte initial nicht geschrien. Der Leukozytenwert lag direkt nach der Geburt am 5. Februar bei 14,1 c/nl (Normalwert 6 bis 15 c/nl), der CRP-Wert lag bei 0 mg/l (Normalwert 0 bis 5 mg/l).

Am 6. Februar betrug der CRP-Wert 15 mg/l und erhöhte sich am Folgetag auf 40 mg/l. Die Klägerin diagnostizierte eine Neugeboreneninfektion und leitete am 6. Februar eine Antibiotikatherapie mit Ampicillin und Gentamicin ein. Bei steigenden Entzündungszeichen im Blut (CRP-Wert am 9. Februar: 80 mg/l) wurde die Therapie ab 9. Februar auf Meropenem und Gentamicin umgestellt und bis zum 14. Februar fortgeführt. Der CRP-Wert sank bis auf 6 mg/l am 16. Februar 2018. Ein Keimnachweis gelang nicht.

Hyperkapnien führten vom 7. Februar bis 14. Februar initial zu einer High-Flow- und später zur CPAP-Beatmung. Am Ende des stationären Aufenthaltes zeigten sich noch Apnoen und Sauerstoffsättigungsabfälle bis zu 80 % beim Füttern und vereinzelt in Tiefschlafphasen. Eine ebenfalls festgestellte Hypoglykämie wurde durch intravenöse Gabe von Dextrose behandelt. Von Beginn an fielen entfärbte und dünnflüssige Stühle auf; im Labor zeigte sich eine Cholestase. Ab dem 26. Februar 2018 erfolgte deshalb die teilparentale Ernährung über einen ZVK. Auch unter dieser Behandlung erfolgte nur eine mäßige Gewichtszunahme. Des Weiteren bestand eine deutlich erniedrigte Pankreas-Elastase im Stuhl bei unauffälligem Neugeborenenscreening. Am 5. März 2018 wurde die Versicherte zur weiteren Diagnostik in die Pädiatrische Hepatologie und Gastroenterologie im Universitätskrankenhaus K. verlegt. Bei der Entlassung lag das Gewicht noch unter dem Geburtsgewicht. Der Krankheitsverlauf war nahezu identisch mit dem des verstorbenen Geschwisterkindes.

Am 14. März 2018 stellte die Klägerin der Beklagten für die Behandlung auf Grundlage der Diagnosis Related Group (DRG) P06A (Neugeborenes, Aufnahmegewicht > 2499 g mit signifikanter OR Prozedur oder Beatmung > 95 Stunden, mit mehreren schweren Problemen, mit Beatmung > 120 Stunden oder mehrzeitigen komplexen OR-Prozeduren oder Dialyse) 30.966,07 Euro in Rechnung. Dabei kodierte sie unter anderem die Nebendiagnose P37.9 (angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet). Die Beklagte glich die Rechnung zunächst vollständig aus, schaltete aber den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zur Überprüfung ein. Dieser kam mit Gutachten vom 26. September 2018 zu dem Ergebnis, dass statt der Nebendiagnose K71.0 (Toxische Leberkrankheit mit Cholestase) die K83.8 (sonstige näher bezeichnete Krankheiten der Gallenwege) zu kodieren sei und statt der abgerechneten 183 nur 139 Beatmungsstunden akzeptiert werden könnten. Außerdem sei die Nebendiagnose P37.9 zu löschen. Die bei der Versicherten diagnostizierte und antibiotisch behandelte neonatale Infektion ohne Keimnachweis oder Hinweise für eine parasitäre Genese oder einen anderen in der ICD-Gruppe P37.- aufgeführten seltenen Erreger sei durch die ICD P39.9 (Infektion, die für die Perinatalperiode spezifisch ist, nnb) zu kodieren. Die DRG sei daher in P06C (Neugeborenes, Aufnahmegewicht > 2499 g mit signifikanter OR Prozedur oder Beatmung > 95 Stunden, ohne mehrere schwere Probleme) zu ändern.

Die Beklagte teilte der Klägerin daraufhin mit Schreiben vom 2. Oktober 2018 Folgendes mit:

"Die Kodierung und die Abrechnung werden beanstandet. Die Beatmungsstunden werden von 183 auf 139 Stunden gekürzt (ohne DRG-Auswirkung). Die Nebendiagnosen P37.9 und K71.0 werden gestrichen und durch K83.8 ersetzt. Somit ist die P06C abzurechnen. Bitte schreiben Sie uns den Betrag gut und schicken uns die korrigierten DTA-Meldedaten sowie eine korrigierte Abrechnung. Erhalten wir diese nicht innerhalb der 4-Wochen-Frist nach § 10 PrüfvV, werden wir den Fall gemäß MDK-Gutachten abrechnen."

Die Klägerin akzeptierte die - nicht erlösrelevanten - Korrekturen bei der Nebendiagnose K71.0 und die Kürzung der Beatmungsstunden. Sie hielt jedoch an der Nebendiagnose P37.9 fest. Wenn eine Infektion vorliege, die sich innerhalb von 72 Stunden nach der Entbindung durch erhöhte Infektionsparameter im Blut, durch Fieber, Keimnachweis oder sonstige Symptome offenbart habe, dann handele es sich definitionsgemäß um eine angeborene Infektion. Diese werde mit P37.- verschlüsselt. Vorliegend hätten die Leukozyten bei der Geburt bei 14,1 c/nl gelegen und es habe ein CRP-Anstieg innerhalb von 72 Stunden auf 40 mg/l stattgefunden.

Die Beklagte veranlasste eine Nachprüfung des MDK, der mit Gutachten vom 31. Mai 2019 bei seiner Einschätzung verblieb. Bei der Versicherten habe unstreitig kein relevanter Keimnachweis vorgelegen. Die von der Klägerin aufgeführte Aufteilung der Zuordnung einer Neugeborenen-Infektion hinsichtlich des Zeitfensters der Manifestation vor oder nach 72 Lebensstunden finde sich weder in den Deutschen Kodierrichtlinien noch im ICD-10-Katalog wieder. Des Weiteren sei im hiesigen Fall eine genaue zeitliche Zuordnung der Infektion nicht sicher belegbar. Auch aus medizinischer Sicht wäre eine Einteilung des Ursprungs und Übertragungsweges einer Neugeborenen-Infektion lediglich anhand des Zeitpunktes des Auftretens nicht sinnvoll, da beispielsweise die am häufigsten bei Reifgeborenen auftretende Infektion mit Gruppe-B-Streptokokken fälschlich als postnatal erworbene Infektion kodiert werde, wenn sie erst am 5. Lebenstag symptomatisch werde. Auch sei anhand des Zeitpunktes des Auftretens keine sichere Unterscheidung bezüglich des Übertragungsweges möglich. Aus der ICD-Systematik gehe in eindeutiger Weise hervor, dass die ICD-Gruppe P37.- denjenigen seltenen Infektionen vorbehalten sei, die eben nicht spezifisch bzw typisch für die Perinatalperiode seien. Typische bakterielle Neugeboreneninfektionen ohne Keimnachweis seien unter ICD P39.- kategorisiert. Des Weiteren wäre zum Beleg einer angeborenen Infektion auch der Nachweis einer mütterlichen Erkrankung mit entsprechendem Keimnachweis oder zumindest einer plausiblen klinischen und paraklinischen Präsentation und Behandlung zu fordern. Zusammenfassend habe im vorliegenden Fall der Verlauf einer für die Perinatalperiode typischen Infektion vorgelegen, ohne dass ein auslösender Erreger habe isoliert werden können. Bei fehlendem Keimnachweis müsse von einem für reife Neugeborene häufigen Erreger ausgegangen werden, in diesem Fall zB Gruppe-B-Streptokokken oder Escherichia coli.

Die Klägerin widersprach auch diesem Gutachten. Mit Schreiben vom 17. Juli 2020 führte die Oberärztin L. aus, es habe aufgrund der klinischen und laborchemischen Konstellation (CRP 40 mg/dl am zweiten Lebenstag) klar eine disseminierte bakterielle Infektion mit klinischer Relevanz ("Krankheit") vorgelegen. Eine entsprechende antibiotische Kombinationstherapie sei eingeleitet worden und habe bei weiter ansteigenden Infektionswerten (CRP-Anstieg auf 80 mg/l) eskaliert werden müssen. Das klinische Bild einer Sepsis habe nicht vorgelegen, die spezifischste Kodierung gelinge daher mittels 37.9. Der Zeitpunkt des Beginns der Symptomatik liege innerhalb der ersten drei Lebenstage, die der Krankheit zugrundeliegende Infektion sei daher mit hoher Wahrscheinlichkeit kurz vor oder unter der Geburt erworben worden und gelte damit im Sprachgebrauch der ICD-10 als "angeboren".

Nach erfolgloser Rückforderung des sich aus der Differenz zwischen P06A und P06C ergebenden Betrags von 14.646,77 Euro verrechnete die Beklagte diesen am 23. Juli 2019 mit weiteren unstreitigen Forderungen der Klägerin.

Am 2. Dezember 2020 hat die Klägerin Klage bei dem Sozialgericht (SG) Stade erhoben und die Zahlung des streitigen Betrags gefordert. Sie habe die Nebendiagnose P37.9 zu Recht kodiert. Die von der Beklagten und dem MDK geforderte Kodierung der Infektion als P39.9 komme hingegen nicht in Betracht, da diese unspezifischer sei. Die unter 39.- genannten Diagnosen beträfen sämtlich lokalisierte Infektionen und könnten alle mit Ausnahme von P39.2 schließlich auch noch nach der Geburt erworben werden. P39.2 treffe dagegen keine Aussage, ob die Infektion jemals aktiv oder wirklich von klinischer Relevanz gewesen sei. Es handele sich somit bei den unter P39.- aufgezählten Infektionen um die "minderschweren Fälle". Dem Kontext eines wie im streitbefangenen Fall kritisch-kranken Neugeborenen, welches bei klinischem Bild einer angeborenen Neugeboreneninfektion mit Atemanpassungsstörung und deutlich erhöhten Infektionsparametern mit einer Antibiose behandelt werde, würden die Diagnosen aus dem Kapitel P39.- nicht gerecht. Bei der streitbefangenen Infektion handele es sich um eine angeborene. Als angeboren würden alle Zustände definiert, die sich schon vor oder während der Geburt entwickelten. Die Symptomatik sei vorliegend innerhalb der 72 Stundengrenze aufgetreten. Mit der Antibiose liege ein relevanter Ressourcenverbrauch vor.

Mit Urteil vom 6. September 2023 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe die streitgegenständliche Nebendiagnose P37.9 nicht kodieren dürfen. Eine hierfür erforderliche angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit sei nicht belegt. Eine Erkrankung sei nur dann "angeboren" im Sinne des ICD-Kodes P37.9, wenn sie nachweisbar bei Vollendung der Geburt vorgelegen habe. Seinem reinen Wortsinn nach beziehe sich der Begriff auf einen bestimmten Zeitpunkt, nämlich dem Abschluss der Geburt. Zu diesem Zeitpunkt müsse der Infekt nachweislich schon vorhanden/erworben gewesen sein, um als "angeboren" bezeichnet zu werden. Soweit das Landessozialgericht (LSG) Hamburg im Urteil vom 23. September 2021 (L 1 KR 56/21) den Wortlaut abgrenzen wolle, indem man die Begriffe "angeboren" in dem ICD-Kode P37.9 und "Perinatalperiode" in dem ICD-Kode P39.9 zueinander in Bezug setze, liege darin letztlich eine systematische Erwägung und nicht mehr ein bestimmtes Wortlautverständnis. Der Wortsinn werde überdehnt, wenn danach der Begriff "angeboren" nicht mehr als auf einen Zeitpunkt bezogen verstanden werde, sondern einen Zeitraum beschreibe. Ein solches Verständnis des Begriffes "angeboren" widerspreche im Übrigen auch der ICD-Systematik. Unter der Überschrift der ICD-Gruppe P35-P39 sei als Exklusivum "Nach der Geburt erworbene Infektionskrankheiten (A00-B99, J09-J11)" aufgeführt. Alle Erkrankungen, die in P37.- als angeboren erfasst seien, seien auch in dem Katalog der A00-B99, J09-J11 enthalten. Die ICD-Systematik stelle damit einen Gegensatz zwischen "angeboren" und "nach der Geburt erworben" her. Dies sei nur mit dem hier vertretenen Verständnis des Begriffes des Angeboren-Seins zu vereinbaren, das auf den Erwerb der Infektion bis zum Zeitpunkt des Abschlusses der Geburt abstelle.

Die Infektion der Versicherten sei nicht nachweisbar bei Abschluss der Geburt vorhanden gewesen. Etwas Anderes ergebe sich nicht aus dem Leukozyten- und CRP-Wert. Unabhängig davon, ob insoweit bei Geburt erhöhte Werte überhaupt aussagekräftig seien, sei dies vorliegend aber auch nicht der Fall gewesen. Der Leukozytenwert habe mit 14,1 c/nl (bzw gemäß Entlassungsbericht 13,9 c/nl) am Tag der Geburt noch innerhalb des natürlichen Rahmens von 6 bis 15 c/nl gelegen. Ein CRP-Wert sei am Geburtstag nicht ermittelt worden. Der ab dem Folgetag erhöhte Wert lasse keinen Rückschluss auf das CRP am Tag der Geburt zu. Die Klägerin selbst behaupte letztlich nichts Anderes, indem sie zu dem zweiten MDK-Gutachten lediglich aufführe, dass die der Krankheit zugrundeliegende Infektion "mit hoher Wahrscheinlichkeit kurz vor oder unter der Geburt erworben" worden sei. Das Auftreten des Infekts binnen der ersten 72 Lebensstunden lasse nicht den zwingenden medizinischen Schluss zu, dass der Infekt bereits mit Abschluss der Geburt erworben worden sei. Die Leitlinie "Bakterielle Infektion beim Neugeborenen" enthalte lediglich den Hinweis, dass Erreger, die innerhalb der ersten drei Lebenstage zur Infektion führten, meist der mütterlichen Vaginalflora entstammten. Ein solcher erhöhter Grad der Wahrscheinlichkeit reiche nicht aus, um den Nachweis eines Kausalzusammenhangs zu führen. Ließen sich nach alledem Infektionszeitpunkt und Erregertyp nicht eindeutig bestimmen, verbleibe die objektive Beweislast bei Nichterweislichkeit der tatbestandlichen Voraussetzungen einer DRG nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) beim Krankenhaus.

Gegen das ihr am 19. September 2023 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13. Oktober 2023 Berufung bei dem LSG Niedersachsen-Bremen eingelegt. Ergänzend zu ihrem Vorbringen aus der ersten Instanz trägt sie vor, im Gegensatz zum SG habe das LSG Hamburg in seinem Urteil vom 23. September 2021 (L 1 KR 56/21) zutreffend darauf abgestellt, dass der Wortlaut der beiden Kodes P37 und P39 eine eindeutige Abgrenzung zulasse, indem man die Begriffe "angeboren" in P37 und "Perinatalperiode" in P39 zueinander in Bezug setze. "Angeboren" oder "early onset" liege bei einer Infektion vor, wenn sie sich innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt offenbare. Bei einer so kurzen Frist sei von einer Keimübertragung vor oder während der Geburt auszugehen (unter Hinweis auf die fachliche Äußerung des RKI zum Epidemiologisches Bulletin 42/2013, Seite 13). Die Perinatalperiode hingegen beginne mit Vollendung der 22. Schwangerschaftswoche und ende mit der Vollendung des 7. Tages nach der Geburt. Das bedeute, dass die Erkrankungen, die in den ersten 72 Stunden nach der Geburt festgestellt würden und auch ansonsten unter einen der Kodes in P37 subsumiert werden könnten, dorthin gehörten. Erkrankungen aus dem zeitlichen Bereich danach bis zum 8. Tag nach der Geburt müssten hingegen P39 zugeordnet werden. So erhalte man ein einfach anwendbares System, das auch mit dem Wortlaut im Einklang stehe. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass bereits bei der Geburt der Versicherten Hinweise auf das Vorliegen einer Infektion vorgelegen hätten. Bei dem reduzierten Allgemeinzustand des Neugeborenen habe es sich um einen hinlänglichen Hinweis auf die bereits beginnende Infektion gehandelt.

In einem Parallelverfahren habe der dort beauftragte Sachverständige überzeugend dargelegt, dass in Fällen, in denen sich die Infektion beim Neugeborenen innerhalb von 72 Stunden zeige, eine angeborene Neuinfektion nach medizinischen Definitionen vorliege. Er habe auf die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin: Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen verwiesen. Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie im DGPI-Handbuch aus dem Jahr 2018 werde nicht mehr der Nachweis einer bereits intrauterin bestehenden Infektion als Kriterium angegeben, sondern beim Manifestationszeitpunkt handele es sich um die ersten 48 Lebensstunden des Kindes. Abgegrenzt davon werde eine Infektion, die sich erst nach der Geburt zum Beispiel als nosokomiale Infektion ereignet habe, die im Gegensatz zur early-onset-Infektion als late-onset-Infektion charakterisiert werde.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Stade vom 6. September 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie 14.646,77 Euro sowie zwei Prozentpunkte Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 24. Juli 2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Abweichendes ergebe sich auch nicht aus der Berufungsschrift. Die geäußerten Rechtsauffassungen, dass der Kodebereich P39.-ausschließlich "minderschwere Fälle" umfasse sowie die Ansicht, das Merkmal "angeboren" im Sinne des Kodebereiches P37.- sei bereits dann erfüllt, wenn eine Krankheit innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt auftrete, fänden nicht bloß kein auseichendes Korrelat in Wortlaut und/oder Systematik des ICD - diese Ansichten widersprächen vielmehr Wortlaut und Systematik ausdrücklich. Zunächst seien auch alle Kodes im Kapitel P39.- Krankheiten, die zumindest im Einzelfall eine antibiotische Therapie erfordern könnten. Die klägerische Behauptung, dass bereits der Umstand, dass dem Neugeborenen vorliegend ein Antibiotikum verabreicht worden sei, den Kodebereich P39.- per se ausschließe, sei demnach unzutreffend. Die Forderung nach einer qualitativ "minderschweren" Krankheit könne dem ICD nicht entnommen werden; vielmehr stelle das Kapitel P39.- eher bestimmte Anforderungen etwa an die Art der Infektion (zB P39.1, P39.3), bzw den konkreten Übertragungsweg (zB P39.2) oder aber geringere Anforderungen an einen zeitlichen Aspekt (zB P39.8, P39.9), als andere Kodes im Bereich der perinatalen Zustände. Dem Kapitel P37.- sei damit vielmehr immanent, dass dort ausschließlich seltene, schwere und zudem sehr spezifische Krankheiten, deren Erreger zudem konkret habe isoliert werden können, aufgeführt seien. Insoweit die Klägerin zudem weiterhin darlege, dass das Merkmal "angeboren" im Sinne des ICD-Kodes P37.- bereits dann erfüllt sei, wenn die Krankheit innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt auftrete, so überzeuge auch dies nicht. Zunächst stehe dem das deskriptive Element des Begriffes "angeboren" als "zum Zeitpunkt der Geburt vorhanden" entgegen und widerspreche im Übrigen auch der Systematik des ICD-Kapitels zur Perinatalperiode insgesamt. Der Verweis auf die zitierte Quelle des RKI vermöge nicht zu überzeugen, deren Zweck ersichtlich nicht die Kodifizierung einheitlicher Kodierregeln, sondern die Schaffung schneller Handlungsanweisungen für Klinikpersonal zur Verhinderung einer systemischen Ausbreitung von Infektionskrankheiten bei Neugeborenen sei. Der Begriff "Early Onset" werde im ICD oder den DKR selbst kein einziges Mal verwendet. Allgemein gelte, dass ein Erregerkontakt und/oder eine genetische Prädisposition im sozialrechtlich relevanten Sinne der DKR und des ICD immer erst dann und auch erst ab dem Zeitpunkt eine kodierbare Krankheit werde, wenn es tatsächlich zu einem Ausbruch bei seinem Wirt komme. Vorstadien und Risiken blieben unberücksichtigt, es sei denn, dass hierfür eine spezielle Kodierung vorgesehen sei. Insbesondere sei der bei jeder vaginalen Geburt unvermeidbare Keimkontakt noch keine Krankheit. Um eine solche handele es sich erst bei einem anschließenden tatsächlichen Infektionsausbruch. Die synonyme Verwendung der Begriffe "Early Onset" und "angeboren" würde im ICD zu einer vollständigen Überwerfung der Begriffe "Geburt" (zB P03.5 - Schädigung des Fetus und Neugeborenen durch überstürzte Geburt"), "unter der Geburt" (zB P21.0 - Schwere Asyphyxie unter der Geburt"), "Intraaminal" (zB P39.2 - Intraaminale Infektion des Fetus, anderenorts nicht klassifiziert) oder "bei der Geburt erworben" (zB P23.9 - bei Geburt erworbene infektionsbedingte Pneumonie) führen. Die für viele Krankheiten maßgebliche Abgrenzung von "angeboren" zu "erworben" (zB P91.7 - erworbener Hydrozephalus beim Neugeborenen) würden mitunter unmöglich oder jedenfalls sinnbefreit (zB Kodierungen wie P21.- Asphyxie unter der Geburt bzw P23.- Angeborene Pneumonie).

Die Beklagte verweist ergänzend auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. September 2022 (L 16 KR 508/21 KH), das ebenfalls die Anwendung des 72-Stunden-Kriteriums zur Abgrenzung einer angeborenen von einer später erworbenen Krankheit ablehnt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte, den Inhalt der Patientenakte der Klägerin sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung geworden.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig. Sie ist gemäß § 143 f Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgemäß eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig. Sie ist aber nicht begründet. Die Entscheidung des SG ist nicht zu beanstanden.

Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG. Bei der Klage eines Krankenhausträgers auf Zahlung der Behandlungskosten eines Versicherten gegen eine Krankenkasse handelt es sich um einen Beteiligtenstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren durchzuführen und keine Klagefrist zu beachten ist (stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, Rn 9; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, Rn 12).

Die Klage ist aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vergütung der unstreitig entstandenen Forderung.

Dieser erlosch dadurch, dass die Beklagte wirksam mit ihrem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung des Versicherten analog § 387 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Aufrechnung erklärte (zur entsprechenden Anwendung auf überzahlte Krankenhausvergütung vgl zB BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, Rn 9 ff mwN, stRspr). Der Vergütungsanspruch der Klägerin und der von der Beklagten aufgerechnete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch waren gegenseitig und gleichartig (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 Rn 16), der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch war fällig und der Vergütungsanspruch der Klägerin erfüllbar.

Die Aufrechnung war auch wirksam. Gemäß § 10 der seinerzeit geltenden Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Absatz 1c SGB V vom 3. Februar 2016 (PrüfvV 2016) kann die Krankenkasse einen nach Beendigung des Vorverfahrens einvernehmlich als bestehend festgestellten oder nach § 8 mitgeteilten Erstattungsanspruch mit einem unstreitigen Leistungsanspruch des Krankenhauses aufrechnen. Dabei sind der Leistungsanspruch und der Erstattungsanspruch genau zu benennen. Die Wirksamkeit der Aufrechnung setzt nach § 10 Satz 1 PrüfvV 2016 die fristgerechte Mitteilung des bezifferten Erstattungsanspruchs nach § 8 PrüfvV 2016 voraus. Die bloße Bezifferbarkeit anhand der von der Krankenkasse mitgeteilten abschließenden Entscheidung ist nicht ausreichend (BSG, Urteil vom 28. August 2024 - B 1 KR 33/23 R, bisher nur als Terminbericht vorliegend).

Dem Berufen der Klägerin auf die fehlende Bezifferung des Erstattungsanspruchs steht vorliegend jedoch der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenstehen. Hat ein Krankenhaus in der Vergangenheit jedenfalls wiederholt Aufrechnungen einer Krankenkasse ohne Bezifferung des Erstattungsanspruchs akzeptiert, kann es treuwidrig sein, wenn es sich ohne vorherige Ankündigung erstmals nach Ablauf der Ausschlussfrist auf das Fehlen der fristgerechten Bezifferung des Erstattungsanspruchs beruft. Die Ankündigung muss ausdrücklich oder konkludent erkennen lassen, dass eine Beanstandung nicht nur in einem Einzelfall vorliegt, sondern für die Zukunft alle Abrechnungsfälle betreffen soll (BSG, aaO). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Beklagte hat im Anwendungsbereich der PrüfvVen 2014 bzw 2016 ab 1. Januar 2015 bis zur hier maßgeblichen Leistungsentscheidung vom 2. Oktober 2018 nach eigenen, von der Klägerin nicht widersprochenen Angaben im Jahr 2015 140 im Jahr 2016 161 im Jahr 2017 400 und im gesamten Jahr 2018 647 Leistungsentscheidungen gegenüber der Klägerin mit einer Kürzung der Leistung geltend gemacht, ohne bereits in der Leistungsentscheidung einen Erstattungsbetrag konkret zu beziffern. Die Klägerin hat die fehlende Bezifferung in keinem dieser Verfahren beanstandet.

Die Voraussetzungen des Gegenanspruchs aus öffentlich-rechtlicher Erstattung in Höhe von 14.646,77 Euro waren erfüllt. Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt ua voraus, dass der Berechtigte im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht hat (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 3 Rn 15, stRspr). So liegt es hier. Die Beklagte beglich die Rechnung der Klägerin vom 14. März 2018 für die stationäre Behandlung der Versicherten J. teilweise ohne Rechtsgrund. Die Klägerin hat über die nicht aufgerechneten 16.319,30 Euro hinaus keinen Anspruch auf Zahlung.

Anspruchsgrundlage für die Vergütung ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 KHEntgG und § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 1 KHEntgG sowie § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) und der vorliegend für den Behandlungs- und Abrechnungsfall im Jahr 2018 maßgeblichen Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2018 (Fallpauschalenvereinbarung 2018 - FPV- 2018) sowie der am 1. November 1992 in Kraft getretene Vertrag zu den Bereichen des § 112 Abs 2 Nr 1, 2, 4 und 5 SGB V zwischen der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft und den Landesverbänden der Krankenkassen (Niedersächsischer Sicherstellungsvertrag).

Die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, Rn 11; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, Rn 15; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, Rn 13; alle mwN). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt und zwischen den Beteiligten nicht streitig.

Die Höhe des dem Krankenhaus zustehenden Vergütungsanspruches bemisst sich gemäß § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V nach Maßgabe des KHG und des KHEntgG. Nach § 7 Satz 1 KHEntgG werden die allgemeinen Krankenhausleistungen gegenüber den Patienten oder ihren Kostenträgern mit verschiedenen, in den Nrn 1 bis 8 abschließend aufgezählten Entgelten abgerechnet. Hier geht es um die Abrechnung von Fallpauschalen nach dem auf Bundesebene vereinbarten Entgeltkatalog (§ 7 Satz 1 Nr 1 i.V.m. § 9 KHEntgG). Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung gemeinsam vereinbaren nach § 9 Abs 1 Satz 1 KHEntgG mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft als Vertragsparteien auf Bundesebene mit Wirkung für die Vertragsparteien nach § 11 KHEntgG einen Fallpauschalen-Katalog einschließlich der Bewertungsrelationen sowie Regelungen zur Grenzverweildauer und der in Abhängigkeit hiervon zusätzlich zu zahlenden Entgelte oder vorzunehmenden Abschläge (Nr 1), einen Katalog ergänzender Zusatzentgelte (Nr 2) sowie die Abrechnungsbestimmungen für die Fallpauschalen und die sonstigen Entgelte (Nr 3).

Der Fallpauschalenkatalog ist nach Fallgruppen (DRG = Diagnosis Related Groups) geordnet. Für die Zuordnung eines bestimmten Behandlungsfalles zu einer DRG wird in einem ersten Schritt die durchgeführte Behandlung nach ihrem Gegenstand und ihren prägenden Merkmalen mit einem Kode gemäß dem vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen "Operationen- und Prozedurenschlüssel nach § 301 SGB V" (OPS-301) verschlüsselt (§ 301 Abs 2 S 2 SGB V). Zur sachgerechten Durchführung der Verschlüsselung ("Kodierung") haben die Vertragspartner auf Bundesebene "Kodierrichtlinien" beschlossen. In einem zweiten Schritt wird der in den Computer eingegebene Kode einer bestimmten DRG zugeordnet, anhand der dann nach Maßgabe des Fallpauschalenkatalogs und der Pflegesatzvereinbarung die von der Krankenkasse zu zahlende Vergütung errechnet wird. Diesem als "Groupierung" bezeichneten Prozess der DRG-Zuordnung liegt ein festgelegter Groupierungsalgorithmus zugrunde; in diesem vorgegebenen, vom Krankenhaus nicht zu beeinflussenden Algorithmus wird entsprechend dem vom Krankenhaus eingegebenen Kode nach dem OPS-301 eine bestimmte DRG angesteuert (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 11 Rn 16).

Ausgehend von diesen Grundsätzen war im vorliegenden Fall nicht die abgerechnete DRG P06A, sondern die - niedriger bewertete - DRG P06C zu kodieren. Insbesondere durfte die im Streit stehende Nebendiagnose P37.9 nicht kodiert werden.

Nach Abschnitt D003l der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) 2018 ist die Nebendiagnose definiert als eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt. Für Kodierungszwecke müssen Nebendiagnosen als Krankheiten interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflussen, dass irgendeiner der folgenden Faktoren erforderlich ist:

  • therapeutische Maßnahmen

  • diagnostische Maßnahmen

  • erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand

Der ICD P37.9 ist definiert als "Angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet".

Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit darüber, dass bei der Versicherten eine Neugeboreneninfektion vorgelegen hat, die antibiotisch behandelt wurde. Die Auffassung der Beklagten und des MDK, die für die Kodierung des P37.9 zusätzlich den tatsächlichen Nachweis eines seltenen infektiösen oder parasitären Erregers mit Einleitung einer passenden spezifischen Therapie fordern, vermag der Senat nicht zu teilen. Der MDK führt hierzu aus, dass bei fehlendem Keimnachweis von einem für reife Neugeborene häufigen Erreger ausgegangen werden müsse, in diesem Fall zB die Gruppe-B-Streptokokken oder Escherichia coli. Die in der ICD-Gruppe P37.- genannten Krankheiten seien jedoch sämtlich seltene infektiöse und parasitäre Erkrankungen. Hieraus sei zu schließen, dass die gesamte Gruppe denjenigen seltenen Infektionen vorbehalten sei, die eben nicht spezifisch bzw typisch für die Perinatalperiode seien wie beispielsweise eine konnatale Toxoplasmose oder Malaria-Infektion. Typische bakterielle Neugeboreneninfektionen ohne Keimnachweis seien dagegen unter P39.- kategorisiert. Eine solche Auslegung geben jedoch weder der Wortlaut noch die Systematik der streitgegenständlichen ICD her. Der gesamte Bereich P35 bis P39 im Kapitel XVI (Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben) ist unter der Überschrift "Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch sind" zusammengefasst. Insofern kann das Wort "spezifisch" entgegen der Auffassung des MDK in diesem Zusammenhang nicht für "typisch" oder "häufig" stehen und dabei von "seltenen" oder "untypischen" Infektionen abzugrenzen sein, sondern lediglich in einem allgemeineren Sinn als "im Zusammenhang mit der Perinatalperiode stehend". Dabei sind unter P35 zunächst angeborene Viruskrankheiten und unter P36 verschiedene Formen der bakteriellen Sepsis beim Neugeborenen verzeichnet. Sodann folgen unter P37 sonstige angeborene infektiöse und parasitäre Krankheiten, also Infektionen, die ebenfalls für die Perinatalperiode spezifisch sind, aber weder Viruskrankheit sind noch eine bakterielle Sepsis verursacht haben. Nach P38 (Omphalitis), der eine Bauchnabelentzündung bezeichnet, sind unter P39 schließlich sonstige Infektionen zu kodieren, die für die Perinatalperiode spezifisch sind, also im Sinne einer Auffangnorm Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch, aber weder angeboren noch Sepsis noch Omphalitis sind. Das zusätzliche Erfordernis eines seltenen Erregers in der Untergruppe P37 geht aus dieser Systematik in keiner Weise hervor. Dasselbe gilt für die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung noch aufgeworfene Begrenzung auf unmittelbar von einer Infektion der Mutter erworbene Krankheiten (in Abgrenzung zB zu aufsteigenden Keimen im Mutterleib). Auch wenn es sich bei den unter P37.0 bis P37.8 sämtlich um solche Krankheiten handelt, lässt der Wortlaut des P37.9 diese Auslegung nicht zu. Ob dem Sinn und Zweck nach und im Vergleich zum Aufwand, den die dort namentlich genannten Krankheiten auslösen, eine Beschränkung auf seltene oder unmittelbar bei der Mutter erworbene Erreger geboten wäre, ist unerheblich. Abrechnungsbestimmungen sind wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und allenfalls unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (stRspr; vgl BSG, Urteil vom 8. November 2011 - B 1 KR 8/11 R - BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, Rn 27; BSG, Urteil vom 16. Juli 2020 - B 1 KR 16/19 R - SozR 4-5562 § 9 Nr 16 Rn 17, jeweils mwN; zuletzt BSG, Urteil vom 25. Juni 2024 - B 1 KR 20/23 R Rn 14, juris).

Allerdings ist vorliegend nicht nachgewiesen, dass die Infektion der Versicherten angeboren war. Dies hat das SG zutreffend festgestellt.

Begriffe können entweder ausdrücklich definiert sein oder deren spezifische Bedeutung kann sich ergänzend aus der Systematik der Regelung ergeben (vgl BSG, Urteil vom 16. August 2021 - B 1 KR 11/21 R - SozR 4-5562 § 9 Nr 21 Rn 7 mwN). Ferner kann der Wortlaut ausdrücklich oder implizit ein an anderer Stelle normativ determiniertes Begriffsverständnis in Bezug nehmen. Fehlt es an solchen normativen definitorischen Vorgaben, gilt der Grundsatz, dass medizinische Begriffe im Sinne eines faktisch bestehenden, einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauchs zu verstehen sind. Ergeben sich weder aus dem determinierten Begriffsverständnis noch anhand eines faktisch bestehenden, einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauchs eindeutige Erkenntnisse, ist in einem dritten Schritt der allgemeine Begriffskern maßgeblich (vgl zum Stufenverhältnis BSG, Urteil vom 20. Januar 2021 - B 1 KR 31/20 R - SozR 4-2500 § 109 Nr 84 Rn 25, 24; ferner BSG, Urteil vom 20. März 2024 - B 1 KR 41/22 R - juris Rn 18; zuletzt BSG, Urteil vom 25. Juni 2024 - B 1 KR 20/23 R Rn 15, juris).

Für den mehrfach im Kapitel XVI "Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben (P00-P96)" verwendeten Begriff "angeboren" existiert weder in der ICD selbst noch an anderer Stelle ein normativ-determiniertes Begriffsverständnis. In den DKR 2018 findet sich mit 1602a "Definition der Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben" zwar ein eigener Abschnitt zum Kapitel XVI, hier wird jedoch lediglich der Begriff Perinatalperiode legaldefiniert mit "Die Perinatalperiode beginnt mit Vollendung der 22. Schwangerschaftswoche (154 Tage; die Zeit, in der das Geburtsgewicht normalerweise 500g beträgt) und endet mit der Vollendung des 7. Tages nach der Geburt." Die DKR setzt somit lediglich einen äußeren Rahmen für die in P35-P39 insgesamt erfassten Zeiträume (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. September 2022 - L 16 KR 508/21 KH, Rn 29 ff, juris). Eine Definition für "angeboren" existiert auch hier nicht.

Auch eine klare medizinisch-wissenschaftliche Übereinkunft darüber, wann von einer "angeborenen" Krankheit gesprochen wird, existiert jedenfalls in dem von der Klägerin angenommenen Sinn einer bloßen Abgrenzung nach dem zeitlichen Auftreten nach der Geburt nicht (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, aaO). Soweit die Klägerin ausführt, in der Neonatologie werde eine Infektion als angeboren angesehen, wenn sich die Infektion innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt entwickele und sich dabei auf eine fachliche Äußerung des Robert Koch Instituts (RKI) zum Epidemiologischen Bulletin 42/2013 bezieht (abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Krankenhaushygiene/Kommission/Downloads/Neo_Monographie.pdf?__blob=publicationFile, Seite 13), ist zunächst festzuhalten, dass sich das Papier ausschließlich zu der so genannten Early-Onset-Sepsis (Beginn vor 72 Lebensstunden) und Late-Onset-Sepsis (Beginn später als 72 Stunden nach der Geburt) äußert. Für die bakterielle Sepsis bei Neugeborenen existiert im Kapitel XVI der ICD jedoch eine eigene Untergruppe, die gerade keine angeborene Infektion voraussetzt. Zudem ist der Beklagten zuzugeben, dass die fachliche Äußerung des RKI nicht der leitliniengerechten Behandlung des einzelnen Patienten und schon gar nicht der Kodifizierung einheitlicher Kodierregeln, sondern in erster Linie der Bekämpfung der Ausbreitung von Neugeboreneninfektionen in Kliniken dient. Die Leitlinie "Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen" der Deutschen Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, auf die der im Parallelverfahren eingeschaltete Gutachter nach Ausführungen der Klägerin verweist, führt lediglich aus, dass Erreger, die innerhalb der ersten drei Lebenstage zur Infektion führten ("EOS") meist der mütterlichen Vaginalflora entstammten. Ein Automatismus zwischen dem Auftreten der Infektion und der Art der Ansteckung (vor- bzw nachgeburtlich) ist auch hier jedoch nicht postuliert. Dies gilt umso mehr, als nicht jeder Neugeboreneninfektion eine vaginale Geburt vorausgegangen ist. Auch die hiesige Versicherte wurde per Kaiserschnitt (primäre Re-Re-Sectio) geboren. Schließlich führt auch der MDK nachvollziehbar unter Nennung mehrerer Quellen aus, dass eine Einteilung des Ursprungs und Übertragungsweges einer Neugeborenen-Infektion allein anhand des Zeitpunkts des Auftretens zumindest nicht einhellige medizinische Auffassung ist. So könne beispielsweise eine Neugeborenen-Sepsis mit Gruppe-B-Streptokokken als häufigster Erreger bei Reifgeborenen auch bei Auftreten am 7. Lebenstag noch als Early-Onset-Sepsis qualifiziert werden, so dass anhand des Zeitpunkts des Auftretens der Infektion keine sichere Unterscheidung bezüglich des Übertragungsweges möglich sei. Es könne nur anhand dieses Parameters nicht sicher unterschieden werden, ob die Infektion vor der Geburt intrauterin (kongenital), im Zeitraum um oder während der Geburt (perinatal) oder postnatal übertragen worden sei.

Damit ist auf den allgemeinen Begriffskern des Wortes "angeboren" zurückzugreifen. Nach dem allgemeinen Wortverständnis werden als "angeboren" alle Eigenschaften von Lebewesen bezeichnet, welche bereits bei ihrer Geburt angelegt sind. Nach dem medizinischen Wörterbuch Pschyrembel bedeutet "angeboren" "zum Zeitpunkt der Geburt vorhanden". Angeborene, biologisch prädeterminierte Merkmale, Krankheiten oder Defizitsyndrome sind kongenital, dh durch Schädigung bzw Fehlerhaftigkeit des genetischen Materials entstanden, oder konnatal, also intrauterin oder während des Geburtsvorgangs durch äußere Noxen entstanden. Wann die Krankheit dagegen auftritt, ist entgegen der Auffassung der Klägerin und auch entgegen der Beklagten, die von einer kodierbaren Erkrankung erst ab dem Ausbruch beim Wirt ausgeht, unerheblich. Dies entspricht auch dem für das gesamte Kapitel XVI vorgeschaltete Inklusivum, wonach Zustände eingeschlossen sind, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben, auch wenn Tod oder Krankheit erst später eintreten.

Dass vorliegend nicht feststeht, dass die Infektion der Versicherten bereits bei Geburt bestand, hat das SG zutreffend herausgearbeitet. Die Leukozyten lagen am Tag der Geburt mit 14,1c /nl noch im Normalbereich von 6 bis 15 c/nl. Der CRP Wert lag am 5. Februar 2018 bei 0 mg/l, war damit gänzlich unauffällig und stieg erst am 6. Februar 2018 mit 15 mg/l über dem Normalbereich von 0 bis 5 mg/l. Ein Keimnachweis konnte nicht erbracht werden. Insofern mag die Klägerin Recht haben mit ihrer in ihrem Schriftsatz gegenüber der Beklagten geäußerten Auffassung, dass die große zeitliche Nähe zur Geburt darauf schließen lasse, dass die der Krankheit zugrundeliegende Infektion mit hoher Wahrscheinlichkeit kurz vor oder unter der Geburt erworben worden sei, nachgewiesen ist dies jedoch nicht. Auch der bei Geburt bereits stark reduzierte Allgemeinzustand der Versicherten belegt eine schon zu diesem Zeitpunkt vorliegende Infektion nicht. Die Versicherte kam schwer krank mit einem Symptomkomplex zur Welt, der bis zum Abschluss der Behandlung bei der Klägerin noch nicht abschließend diagnostiziert werden konnte und deren ähnliches Erscheinungsbild bei dem Bruder der Versicherten zu einem Versterben nach 1,5 Jahren geführt hatte. Bei der Infektion handelte es sich lediglich um ein (untergeordnetes) von mehreren gesundheitlichen Problemen (ua Atemanpassungsstörung, Hypoglykämie mit cerebralem Krampfanfall, exsudative Enteropathie, Cholestase), wie sich auch aus dem ausführlichen Entlassungsbericht ergibt.

Nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (Feststellungslast), nach dem ein nicht zu beweisender Sachverhalt zu Lasten des Beteiligten geht, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 44 Nr 7 Rn 19 mwN; BSGE 102, 181 = SozR 4-2500 § 109 Nr 15, Rn 28 mwN), trägt die Klägerin das Risiko der Nichterweislichkeit des Angeborenseins, da sie sich auf die korrekte Abrechnung der P37.9 beruft. Die stattgehabte Infektion kann daher lediglich mit dem - allgemeineren und allein auf die Perinatalperiode bezogenen - P39.9 kodiert werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die ICD-10 P37.9 besteht auch in späteren Versionen bis heute mit unverändertem Wortlaut fort. Dasselbe gilt für die mit ihr im Zusammenhang stehenden benachbarten Vorschriften des Kapitels. Nach dem Vortrag der Beteiligten und auch nach den Kenntnissen des Senats haben sich daraus in einer Vielzahl von Behandlungsfällen Streitigkeiten ergeben, die auch in Zukunft zu erwarten sind, und die von den am Abschluss der Vergütungsregelungen mitwirkenden Vertragsparteien bislang nicht einvernehmlich gelöst werden konnten (siehe zu diesen Voraussetzungen BSG, Beschluss vom 24. April 2024 - B 1 KR 84/23 B -, Rn 9, juris). Es besteht bislang eine uneinheitliche obergerichtliche Rechtsprechung hierzu (einerseits LSG Hamburg, Urteil vom 23. September 2021 - L 1 KR 56/21, andererseits Entscheidung des erkennenden Senats sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. September 2022 - L 16 KR 508/21 KH).

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 43 Abs 2, 47 Abs 1 und 2, 52 Abs 1 und 3 Gerichtskostengesetz (GKG).