Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.04.2025, Az.: 9 SHa 284/25

Tatsächlicher Einsatzort eines Leiharbeitnehmers als Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsorts

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
08.04.2025
Aktenzeichen
9 SHa 284/25
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2025, 14562
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2025:0408.9SHa284.25.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Niedersachsen - AZ: 15 Ca 1740/25

Fundstelle

  • ArbR 2025, 242

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Für den gewöhnlichen Arbeitsort im Sinne von § 48 Abs. 1a Satz 1 ArbGG ist auf den tatsächlichen Einsatzort abzustellen. Der tatsächliche Einsatzort eines Leiharbeitnehmers ist daher grundsätzlich der Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsorts.

  2. 2.

    Zur Durchbrechung der Rechtskraft eines Beschlusses über eine örtliche Unzuständigkeit eines Arbeitsgerichts bei Abweichen vom gesetzlichen Regelungszweck

Tenor:

Das Arbeitsgericht Nienburg wird als zuständiges Arbeitsgericht bestimmt.

Gründe

I.

Das Arbeitsgericht Frankfurt hat den Rechtsstreit dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen zur Bestimmung des örtlich zuständigen Arbeitsgerichts vorgelegt.

Der Kläger hatte beim Arbeitsgericht Nienburg am 21.02.2025 Klage gegen eine Kündigung vom 05.02.2025 erhoben. Der Kläger wohnt in O. Die Beklagte ist eine Zeitarbeitsfirma und hat ihren Sitz in E. Der Kläger ist seit dem 01.08.2010 als Techniker auf der Grundlage eines schriftlich abgeschlossenen Arbeitsvertrages für die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin tätig. Im Arbeitsvertrag heißt es unter anderem, dass die Arbeitsleistungen bei verschiedenen Kunden/Projekten und an verschiedenen Einsatzorten regional zu erbringen ist. Seit April 2013 wird der Kläger ausschließlich beim Kunden B. P. in 49448 L. eingesetzt.

Mit Beschluss vom 24.02.2025 wies das Arbeitsgericht Nienburg darauf hin, dass sich die örtliche Zuständigkeit des Gerichts grundsätzlich nach dem Wohn- bzw. Firmensitz der beklagten Partei (§§ 12 ff. ZPO), nach dem Erfüllungsort (§ 29 ZPO) oder dem gewöhnlichen Arbeitsort (§ 48 Abs. 1a ArbGG) richte und nach dem bisherigen Vorbringen das Arbeitsgericht Frankfurt am Main örtlich zuständig sein dürfte.

Der Klägervertreter führte dazu unter anderem aus, dass der Kläger der Kläger seit April 2013 ausschließlich bei der B. P. GmbH am Betriebssitz in L. eingesetzt wurde und bezieht sich auf den Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsortes im Sinne von § 48 Abs. 1 a ArbGG. Diese Auffassung wurde auch von der Beklagten geteilt.

Mit Beschluss vom 11.03.2025 verwies das Nienburg den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht Frankfurt a. Main. Es hat unter anderem ausgeführt, dass sich bei Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassung ein inhaltlicher Schwerpunkt und damit ein gewöhnlicher Arbeitsort im Bezirk des Arbeitsgerichts Nienburg nicht feststellen lasse. Die Arbeitsvertragsgestaltung sehe vor, dass die geschuldete Tätigkeit an verschiedenen Orten zu erbringen sei. Für die Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 11.03.2025 Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Frankfurt hat seine Zuständigkeit mit Beschluss vom 17.03.2025 abgelehnt und die Sache dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt. Es hat unter anderem ausgeführt, das Arbeitsgericht Nienburg verkenne, dass es auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Tätigkeit des Arbeitnehmers ankäme. Der arbeitsvertraglichen Gestaltung käme nur indizielle Bedeutung zu. Das entspreche der einhelligen Meinung in Rechtsprechung und Literatur sowie dem Regelungswillen des Gesetzgebers. Dies habe das Arbeitsgericht ignoriert mit der Folge, dass die Verweisung nicht nur fehlerhaft, sondern jeder rechtlichen Grundlage entbehre.

II.

Als örtlich zuständiges Gericht war das Arbeitsgericht Nienburg zu bestimmen. Die Voraussetzungen für die Durchführung des Bestimmungsverfahrens nach § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO i.V.m § 46 Abs. 2 ArbGG liegen vor. Es gibt zwei sich widersprechende Verweisungsbeschlüsse. Zuständig ist das Landesarbeitsgericht, in dessen Zuständigkeitsbereich das zuerst abgebende Arbeitsgericht fällt, § 36 Abs. 2 ZPO.

1.

Beschlüsse über die örtliche Zuständigkeit von Arbeitsgerichten sind nach § 17a Abs. 2 und 3 GVG i.V.m § 48 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG unanfechtbar. Diese Bindungswirkung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch im Bestimmungsverfahren des § 36 Nr. 6 ZPO zu beachten (BAG vom 29.06.1992 - 5 AS 7/92; BAG vom 19.03.2003 - 5 AS 1/03 Rn. 11). Auch ein rechtskräftiger Verweisungsbeschluss, der nicht hätte ergehen dürfen, ist grundsätzlich einer weiteren Überprüfung entzogen. Lediglich eine offensichtlich gesetzeswidrige Verweisung kann diese Bindungswirkung nicht entfalten (BAG vom 19.03.2003 aaO). Ein solcher Fall ist unter anderem anzunehmen, wenn der Beschluss auf der Versagung rechtlichen Gehörs gegenüber den Verfahrensbeteiligten beruht (BAG vom 25.08.2015 - 8 AZN 268/15 Rn. 6). Eine krasse Rechtsverletzung ist auch anzunehmen, wenn der Beschluss dazu führt, dass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen einer nicht mehr hinnehmbaren, unvertretbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt. Das ist der Fall, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr als verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BAG vom 19.03.2003 aaO Rn. 11; BAG vom 10.10.2017, 9 AS 5/17 Rn. 9).

2.

Gemessen an diesen Grundsätzen entspricht der Verweisungsbeschluss offensichtlich nicht der gesetzlichen Regelung, so dass die Rechtskraft ausnahmsweise zu durchbrechen ist. § 48a Abs. 1a Satz 1 ArbGG stellt maßgeblich auf den tatsächlichen Einsatz des Arbeitnehmers an einem Arbeitsort und nicht auf die arbeitsvertragliche Gestaltung ab.

a)

Nach § 48a Abs. 1a Satz 1 ArbGG ist für Kündigungsstreitigkeiten auch das Arbeitsgericht zuständig, in dessen Bezirk der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat.

aa)

Bereits die Entstehungsgeschichte des Gesetzes und der vom Gesetzgeber mit diesem zusätzlichen Gerichtsstand verfolgte Regelungszweck sollte es den Arbeitnehmern ermöglichen, Klage vor dem Arbeitsgericht zu erheben, in dessen Bezirk die Arbeit verrichtet wird. Die Gesetzesbegründung hebt ausdrücklich hervor, dass dieser Gerichtsstand vor allem den Arbeitnehmern zu Gute kommen soll, die ihre Arbeit gewöhnlich nicht am Firmensitz oder am Ort der Niederlassung leisten. Er soll unter anderem den Beschäftigten in der Dienstleistungsbranche die Durchsetzung ihrer Ansprüche und Rechte erleichtern. Es wurde ein zusätzlicher Gerichtsstand des Arbeitsortes geschaffen, der losgelöst von den betrieblichen Strukturen auf den Ort abstellt, an dem die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung erbringt (BT-Drs. 16/7716 Seite 23 f.). Dabei ist der Ort maßgeblich, an dem die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich erbringt. Erfolgt die Erbringung der Arbeitsleistung gewöhnlich an mehreren Orten, ist der Ort zu bestimmen, an dem die Arbeitsleistung überwiegend erbracht wird. Das kann auch der Ort sein, an dem die Arbeit gemessen an der Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses erst kurzzeitig geleistet wurde, wenn auf der Grundlage des Arbeitsvertrages an diesem Ort die Arbeitsleistung bis auf Weiteres verrichtet werden soll. Auch bei vorübergehender Änderungen des Arbeitsortes soll sich der gewöhnliche Arbeitsort nicht ändern (BT-Drs. 16/7716 Seite 24). Der Gesetzgeber verweist in der Begründung des Gesetzentwurfes des Weiteren darauf, dass die Formulierung der in Art. 19 Nr. 2 Buchstabe a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen im Zivil- und Handelssachsen entspreche. Hierzu geht das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. BAG vom 20.12.2012 - 2 AZR 481/11 Rn. 22 mwN) davon aus, dass unter dem Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, der Ort zu verstehen ist, an dem er die mit seinem Arbeitgeber vereinbarten Tätigkeiten tatsächlich ausübt.

bb)

Soweit ersichtlich wird in der Rechtsprechung der Einsatzort eines Leiharbeitnehmers, aber auch der eines Montagearbeitnehmers bei längerem Einsatz bei einem Kunden bzw. an einem bestimmten Ort als gewöhnlicher Arbeitsort iSv § 48 Abs. 1a Satz 1 ArbGG angenommen (vgl. ArbG Berlin vom 16.05.2021 - 41 Ca 4405/21 Rn. 24; LAG Hamm vom 27.11.2013 - 1 SHa 17/13 Rn. 18; LAG Sachsen-Anhalt vom 23.07.2014 - 5 SHa 6/14 Rn. 11 ff.; ArbG Koblenz vom 6.11.2017 - 4 Ca 2728/17 Rn. 15)). Auch die Kommentarliteratur stellt auf den tatsächlichen Arbeitseinsatz ab (Koch in ErfK, ArbGG § 48 Rn. 20; Künzl in GMP, ArbGG § 48 Rn. 35, der ausführt, dass die tatsächliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses und der Ort der Erbringung der Arbeitsleistung maßgeblich ist und eine Vereinbarung in dem Arbeitsvertrag lediglich indizielle Bedeutung für die Bestimmung des Arbeitsortes haben kann; Helml in Helml/Pessinger ArbGG § 48 Rn. 4 und 7, die darauf verweisen, dass der Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsortes den Fall der Arbeitnehmerüberlassung mit längeren Einsätzen an einem bestimmten Ort erfasse). Auch Bergwitz führt unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH zum gewöhnlichen Arbeitsort aus, dass der gewöhnliche Arbeitsort durch den Ort bestimmt wird, den der Arbeitnehmer zum tatsächlichen Mittelpunkt seiner Berufstätigkeit gemacht hat. Entscheidend sei, wo der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich erbringt. Bei einem dauerhaften Einsatz des Arbeitnehmers an einem gleichbleibenden auswärtigen Beschäftigungsort wie zB auf einer Dauerbaustelle sei dieser Ort der gewöhnliche Arbeitsort und für die Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts maßgeblich (Bergwitz, NZA 2008, 443) Soweit Bergwitz - wie im Verweisungsbeschluss des Arbeitsgerichts zitiert - weiter ausführt, dass ein Schwerpunkt nicht ermittelt werden kann, wenn die Tätigkeiten durch den Arbeitnehmer vertragsgemäß in mehreren Gerichtsbezirken zu erbringen sind (an ständig wechselnden auswärtigen Beschäftigungsorten wie zB Montagearbeiter auf wechselnden Baustellen), beziehen sich diese auf Ausführungen auf den Auffangtatbestand des § 48 Abs. 1a Satz 2 ArbGG (vgl. Bergwitz, NZA 2008, 443/445). Diese Ausführungen stehen einer Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsortes im Sinne des § 48 Abs. 1a Satz 1 ArbGG nicht entgegen. Dasselbe gilt für die Ausführungen von Bergwitz zu dem Einsatz von Außendienstmitarbeitern bei ständig wechselnden Einsatzorten (vgl. Bergwitz, NZA 2008, 443/445). Auch die Ausführungen von Reinhard und Böggemann, NJW 2008, 1263/1265 beziehen sich auf den Ort, an dem die geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich regelmäßig erbracht wird als gewöhnlichen Arbeitsort. Entscheidend sei nicht der (ursprüngliche) Wortlaut des Arbeitsvertrages, sondern der Ort, an dem der Arbeitnehmer vertragsgerecht seine tatsächliche Arbeitsleistung erbringt. Entscheidend sei, wie das Arbeitsverhältnis tatsächlich "gelebt" werde.

cc)

Auch aus der im Verweisungsbeschluss zitierten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 09.10.2013 - 7 ABR 12/12 folgt nichts Anderes. Diese im Zusammenhang um den Streit einer zustimmungspflichtigen Versetzung ergangene Entscheidung verweist zwar auf die Besonderheiten der Arbeitnehmerüberlassung, für die ein ständig wechselnder Einsatz mit verschiedenen Arbeitgebern typisch sei (BAG vom 09.10.2013 aaO Rn. 30). Dabei ging es um die Anwendbarkeit von § 95 Abs. 3 Satz 2 BetrVG und den Regelungszweck der Vorschrift, wonach bei häufigen Einsatzwechseln von Arbeitnehmern keine Versetzung vorliege. Im Weiteren führt das Bundesarbeitsgericht allerdings aus, dass etwas Anderes gelte, wenn die Ausübung der Arbeitnehmerüberlassung dieser grundsätzlich anzunehmenden Typologie nicht entspricht, weil - wie im konkreten Fall - keine ständig wechselnden Einsätze vorliegen (BAG vom 09.10.2013 aaO Rn. 31).

dd)

Den Bedenken unter anderem von Künzl in GMP, ArbGG § 48 Rn. 36, wonach bei ständig wechselnden Einsatzorten das Gebot des gesetzlichen Richters im Hinblick auf die nicht vorherige Bestimmbarkeit des örtlich zuständigen Gerichts nicht eingehalten werden könne, sind nur dann einschlägig, wenn der tatsächliche Einsatz von einem ständigen Wechsel des Einsatzortes geprägt ist und ein Schwerpunkt nicht ermittelt werden kann Selbst bei relativ kurzen Einsatzzeiten soll der Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsortes bejaht werden (BT-Drs. 16/7716 Seite 24). Im Übrigen ist in den Fällen, in denen die Arbeitsleistung an mehreren Orten erfolgt § 48 Abs. 1a Satz 2 ArbGG einschlägig und erst dann, wenn ein Schwerpunkt nicht ermittelt werden kann, kommt der Arbeitsort der Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsortes nicht mehr in Betracht (vgl. z.B. ArbG Heilbronn vom 03.06.2022 - 2 Ca 115/22).

ee)

Vor diesem Hintergrund muss die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses ausnahmsweise durchbrochen werden.

III.

Die Kosten dieses Beschlusses sind Kosten des Verfahrens. Der Beschluss ist unanfechtbar, § 37 Abs. 2 ZPO.