Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.01.2025, Az.: 4 A 1069/22

Deinfibulation; De-Infibulation; Flüchtlingseigenschaft; Frauen; gebärfähige Frauen; Genitalbeschneidung; Genitalverstümmelung; Infibulation; inländische Fluchtalternative; Reinfibulation; Re-Infibulation; Somalia; Versorgungssituation; Vorverfolgung; weibliche Genitalverstümmelung; Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen drohender (erneuter) Genitalverstümmelung

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
23.01.2025
Aktenzeichen
4 A 1069/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2025, 10822
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2025:0123.4A1069.22.00

Tenor:

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 4. März 2022 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Die 2001 geborene Klägerin ist nach eigenen Angaben in der informatorischen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Beklagten (Bundesamt) am 29. Juni 2021 somalische Staatsbürgerin und wurde in F. (Somalia) geboren; sie gehöre dem Clan der Sheikhal an. Im Alter von ca. sieben Jahren sei bei ihr eine Genitalbeschneidung durchgeführt worden. Da ihre Mutter verstorben sei, habe sie zunächst mit ihrem Vater, ihrer Großmutter und ihrem Bruder in einem Haushalt gelebt. Am 7. März 2017 sei dann ihr Vater verstorben. Ihr großer Bruder habe sie und ihre Großmutter daraufhin weiterversorgt.

Ursprünglich sei F. unter Kontrolle von al-Shabaab gewesen Danach habe die Regierung das Gebiet zurückerobert und die Macht übernommen. Bei den Regierungstruppen habe es einen Mann gegeben, der an ihr interessiert gewesen sei. Dieser habe bei ihrer Großmutter um die Hand der Klägerin angehalten. Ihr Onkel väterlicherseits habe einer Heirat positiv gegenübergestanden. Ihre Großmutter und ihr Bruder seien dagegen gewesen, da sie Angst gehabt hätten, die Klägerin könne gefährdet sein, falls al-Shabaab das Gebiet zurückeroberte. Ihre Großmutter habe dem Mann gesagt, die Klägerin sei zu jung; es wäre besser, wenn er sich eine andere Frau suchte. Daraufhin habe der Mann ihren Bruder bedroht, weil dieser der Heirat nicht zugestimmt habe. Konkret habe er zu ihrem Bruder gesagt, dass er ihn entweder selbst beseitigen oder den Behörden mitteilen würde, dass dieser zur al-Shabaab gehörte. Daraufhin habe ihr Bruder ihn bei der Polizei angezeigt. Eines nachts sei der Mann gekommen und habe ihren Bruder, der vor dem Haus im Hof gesessen und Radio gehört habe, erschossen. Die Klägerin sei zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Großmutter und einigen Frauen aus der Nachbarschaft im Haus gewesen. Als sie die Schüsse gehört hätten, seien sie aus dem Haus gekommen und hätten ihren toten Bruder dort aufgefunden. Der Täter habe noch mit der Waffe im Hof gestanden. Daraufhin seien alle ins Haus zurückgerannt. Die Nachbarinnen hätten sich unter dem Bett versteckt. Ihre Großmutter habe der Klägerin geholfen, aus dem Fenster zu fliehen. Erstere sei aber zu alt gewesen, um selbst die Flucht zu ergreifen. Entgegen der Erwartung der Klägerin habe der Mann sie nicht verfolgt, sondern sei einfach weggegangen. Die Polizei habe man nicht informiert, da man Angst gehabt habe, es könne wieder zu Problemen führen, zumal ihr Bruder nach dem Gang zur Polizei erschossen worden sei. Sie sei zu ihrer Großmutter zurückgekehrt, die sie zunächst im Haus versteckt habe. Zur Sicherheit habe sie dann aber bei einem Nachbarn übernachtet. Am nächsten Morgen habe ihre Großmutter vorgeschlagen, sie in Mogadishu unterzubringen. Dies habe die Klägerin zunächst nicht gewollt, weil sie ihre zuckerkranke Großmutter nicht habe alleine lassen wollen. Aufgrund der letztgenannten Erkrankung sei es aber nicht möglich gewesen, dass ihre Großmutter sie begleitet. Eine Freundin der letztgenannten habe sie dann am 29. August 2017 nach Mogadischu zu einem entfernten Verwandten ihrer Großmutter gebracht. Sie habe dort Angst gehabt, weil die Behausung dieses Verwandten nicht weit von F. entfernt gewesen sei. Sie habe deshalb Angst gehabt, da ihr Onkel die Frau gekannt habe, die sie nach Mogadishu gebracht habe. Da ihr Onkel auch im Kontakt mit dem Mann gestanden habe, der ihren Bruder getötet habe, sei zu befürchten gewesen, dass dieser dadurch von ihrem Aufenthaltsort erführe. Daraufhin sei sie bis zur Organisation ihrer Ausreise mittels einer Schleusergruppe in einem anderen Stadtteil untergebracht gewesen. Somalia habe sie am 7. September 2017 verlassen. Sie habe seitdem keinen Kontakt mehr zu ihrer dort lebenden Familie. Sie sei dann zunächst in Griechenland und den Niederlanden gewesen. In letzteren sei ihr Asylantrag negativ beschieden worden.

In der Beklagten stellte sie am 3. Juni 2021 einen Asylfolgeantrag.

Da die Klägerin nunmehr schwanger sei, stünde nach ihrem Vortrag in der informatorischen Anhörung zu befürchten, dass sie nach der Geburt erneut eine Genitalbeschneidung erführe, wenn sie nach Somalia zurückkehrte. Sowohl ihre Großmutter als auch ihr Onkel stünden Genitalbeschneidungen positiv gegenüber. Zwar sei ihr mit ihr in der Beklagten lebende (ebenfalls aus Somalia stammende) Ehemann - ebenso wie sie selbst - gegen eine Genitalbeschneidung, aber sie habe Angst vor dem gesellschaftlichen Druck und davor, dass ihr Onkel sich einmischen würde. Zudem könne dieser erzürnt sein, dass die Klägerin ohne sein Einverständnis geheiratet und einen Sohn bekommen habe. Er könnte sich übergangen fühlen und ihr und ihrer Familie etwas antun. Sie kenne andere Fälle, in denen es ähnlich abgelaufen sei wie bei ihr. Dort seien die Frauen sogar getötet worden, da die Familie in Somalia sich entehrt gefühlt habe.

Ein fachärztliches Attest vom 7. Juli 2021 bestätigt, dass bei der Klägerin eine FGM (weibliche Genitalverstümmelung) Grad II b nach WHO durchgeführt worden sei.

Im Juli 2021 gebar die Klägerin einen Sohn. Ihr Ehemann erkannte die Vaterschaft an.

Mit Bescheid vom 4. März 2022 lehnte das Bundesamt unter Ziffer 1. den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, unter Ziffer 2. den Antrag auf Asylanerkennung sowie unter Ziffer 3. den Antrag auf subsidiären Schutz ab. Unter Ziffer 4. stellte es fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorlägen und drohte unter Ziffer 5. die Abschiebung nach Somalia an. Schließlich befristete es unter Ziffer 6. das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass im Falle einer Rückkehr nicht mit einer erneuten Genitalbeschneidung zu rechnen sei, zumal der Ehemann der Klägerin gegen eine solche sei. Es lägen auch keine Anhaltspunkte für ein mögliches gewaltsames Vorgehen des Onkels der Klägerin vor. Es sei davon auszugehen, dass ihr Ehemann, den sie religiös geheiratet habe und der die Vaterschaft für ihren Sohn anerkannt habe, mit nach Somalia zurückkehrte. Dieser habe zuvor als Fahrer gearbeitet. Es sei davon auszugehen, dass durch eine Erwerbstätigkeit zumindest das Existenzminimum der dreiköpfigen Familie gesichert werden könne. Zudem verfügten sowohl die Klägerin als auch ihr Ehemann in Somalia über ein familiäres Netzwerk, welches sie unterstützen könne.

Mit Bescheid vom 9. Juni 2022 erkannte die Beklagte dem Ehemann des Klägers und mit Bescheid vom 5. Juli 2022 dem Sohn der Klägerin den subsidiären Schutz zu.

Die Klägerin hat bereits am 11. März 2022 Klage erhoben. Sie trägt vor, die Beklagte sei in ihrem Bescheid von falschen Annahmen ausgegangen. So sei beispielsweise ausgeführt worden, ihre Großmutter sei mit der Heirat einverstanden gewesen. Auch handele es sich - anders als von der Beklagten ausgeführt - bei dem Onkel um einen Halbbruder ihres Vaters, welcher nicht der Sohn ihrer Großmutter sei und in der Folge auch kein Interesse an deren Meinung habe. All dies ergebe sich zweifelsfrei aus dem Anhörungsprotokoll, welches die Entscheiderin der Beklagten offenbar nicht zureichend gelesen habe. Es sei also zu befürchten, dass der Onkel sich durch die Heirat ohne sein Einverständnis übergangen fühlte und deshalb einen Übergriff vornehmen könnte. Auch sei zu beachten, dass ihr Clan mit dem Hawiye-Clan verbunden sei. Ihr Ehemann gehöre jedoch der ethnischen Minderheit der Benardi und dem Clan der Reer Marka an. Hierbei handele es sich um einen Minderheitenclan. Es sei zu erwarten, dass ihr Onkel einer solchen Verbindung keinesfalls zugestimmt hätte. Demnach wären bei einer Rückkehr Übergriffe auf sie, ihren Ehemann und ihren Sohn zu befürchten. Zudem sei es gut möglich, dass ihr Onkel, der für die Heirat mit dem Angehörigen der Regierungstruppen gewesen sei, sie zwangsverheiraten könnte. Ihr Bruder, der damals gegen diese Verbindung gewesen sei, sei nicht mehr am Leben. Soweit ihre Großmutter noch lebte, sei jedenfalls eine ältere Frau, die sich nicht gegen den Willen des Onkels würde durchsetzen können. Schließlich sei eine erneute Beschneidung nach der Geburt ihres Sohnes zu befürchten, selbst wenn ihr Ehemann dagegen sei. Denn es könne vermutet werden, dass sich nunmehr alle Familienmitglieder dem Willen des jetzigen Familienoberhauptes - ihres Onkels - beugten. Ihr Ehemann stünde auch nicht zur Verfügung, da ihm der subsidiäre Schutz zuerkannt worden sei.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 4. März 2022 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihr den subsidiären Schutz zuzuerkennen,

weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG mit Blick auf Somalia bestehen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid. Zudem behauptet sie, es komme maßgeblich darauf an, dass der Ehemann der Klägerin gegen eine Beschneidung sei, da es gängiger Praxis entspreche, dass die Beschneidung einer Frau nicht gegen den Willen ihres Ehemannes durchgeführt werde, auch wenn beispielsweise ein Onkel dafür sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die der Berichterstatter nach Übertragung des Rechtsstreits durch die Kammer als Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) entscheidet, ist begründet.

Das Gericht konnte, obwohl die Beklagte der mündlichen Verhandlung ferngeblieben ist, verhandeln und entscheiden, weil in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.

1. Die Klägerin hat in dem für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) auf Grundlage der in diesem Zeitpunkt vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 4. März 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben. Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Zwischen den in den §§ 3 Abs. 1 und 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss, wie § 3a Abs. 3 AsylG klarstellt, eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

Für die Frage, ob dem Asylsuchenden Verfolgung droht, gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit als einheitlicher Maßstab sowohl im Hinblick auf eine etwaige Vorverfolgung als auch für Nachfluchtgründe. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, Rn. 22, juris, m. w. N. und v. 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, Rn. 32, juris; Beschl. v. 15.08.2017 - 1 B 120/17 -, Rn. 8, juris). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, Rn. 32, juris, m. w. N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht (BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 31/18 -, Rn. 16, juris). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urt. v. 04.07.2019, a. a. O.). Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschl. v. 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, Rn. 37, juris).

Ist der Kläger vorverfolgt ausgereist, kommt ihm allerdings die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie)) zugute. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas Anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, streitet also die tatsächliche - allerdings widerlegbare - Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden.

Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich die Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen. Auf Grund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründeten Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.07.1989 - 9 B 239/89 -, juris). Das Asylverfahren ist eine Einheit, so dass ein gegenüber den Angaben vor der Verwaltungsbehörde im gerichtlichen Verfahren vorgetragener neuer Sachverhalt regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens wecken wird. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.11.1985 - 9 C 27/85 -, juris). Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen und plausible, wirklichkeitsnahe Angaben machen. Auch unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstandes und Alters muss der Asylbewerber im Wesentlichen gleichbleibende, möglichst detaillierte und konkrete Angaben zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal machen.

Nach diesen Maßgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Ihr droht zur Überzeugung des Gerichts in Somalia individuelle (geschlechtsspezifische) Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der jungen Frauen (relevantes Verfolgungsmerkmal i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), wegen derer sie auch schon vorverfolgt i. S. v. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ausgereist war.

Der Einzelrichter ist nach dem Vortrag der Klägerin und dem vorgelegten fachärztlichen Attest davon überzeugt, dass bei ihr Alter von ca. sieben Jahren sei bei ihr eine Genitalbeschneidung (Infibulation) Grad II b nach WHO durchgeführt wurde, weshalb sie 2017 Somalia vorverfolgt im o. g. Sinne verlassen hat (vgl. hierzu beispielsweise auch: VG Potsdam, Urt. v. 02.09.2021 - VG 10 K 2419/16.A -, juris; VG Kassel, Urt. v. 01.11.2022 - 4 K 5763/17.KS.A -, Rn. 37ff., juris; VG Wiesbaden, Urt. v. 12.01.2024 - 7 K 1306/20.WI.A -, juris).

Die Genitalverstümmelung stellt ohne Weiteres eine schwerwiegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit i. S. v. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nrn. 1 u. 6 AsylG dar (vgl. z. B.: VG Freiburg [Breisgau], Urt. v. 18.11.2020 - A 1 K 8709/17 -, Rn. 52, juris; VG Dresden, Urt. v. 19.10.2022 - 2 K 404/19.A -, Rn. 35, juris, m. w. N.) und ist durch die Anknüpfung an das Geschlecht eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (Möller in: NK-AuslR, 3. Aufl. 2023, AsylG § 3b Rn. 26). Auch eine drohende Re-Infibulation (erneute Genitalverstümmelung) gehört hierzu (vgl. VG Hannover, Urt. v. 26.09.2023 - 5 A 1427/18 -, Rn. 17, juris).

Obgleich die Verfolgung nicht vom Staat oder seinen Organen, sondern insbesondere von den Familien der betroffenen Frauen ausgeht, sind diese taugliche Verfolgungsakteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG. Denn der somalische Staat war und ist erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, betroffene Frauen vor entsprechenden Verletzungshandlungen Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu bieten (siehe hierzu auch die nachstehende Lage nach den Erkenntnismitteln).

Der Einzelrichter sieht keine stichhaltigen Gründe, die gegen eine erneute derartige Bedrohung in Form einer Re-Infibulation sprechen könnten.

Die Lage hinsichtlich der weiblichen Genitalverstümmelung in Somalia stellt sich nach einem aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia (Stand: Juli 2024) vom 23. August 2024, S. 18) wie folgt dar:

"Somalia ist weiterhin das Land mit der weltweit höchsten Rate an weiblicher Genitalverstümmelung (FGM). Die VN beziffern den Anteil der betroffenen Frauen zwischen 15 und 49 Jahren auf 99%. In der Regel erleiden dabei Mädchen im Alter von zehn bis 13 Jahren FGM in ihrer weitreichendsten Form (Typ III der WHO-Klassifizierung bzw. so genannte pharaonische Beschneidung/Infibulation). Die Praxis ist in Stadt und Land völlig akzeptiert und normalisiert. Es gibt praktisch keine Ausweichmöglichkeiten für Mädchen.

Somalias vorläufige Verfassung von 2012 verbietet FGM. Bemühungen der Zentralregierung zur Verabschiedung eines umfassenden einschlägigen Gesetzes (dem sog. FGM Bill) scheitern aber bislang an der fehlenden Zustimmung des Parlaments. Der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass bestimmte Beschneidungspraktiken verboten werden.

Angesichts der tiefen Verankerung der Praxis in der somalischen Gesellschaft ist zudem noch unklar, ob ein zukünftiger FGM Bill ein totales Verbot oder nur eine abgemilderte Form der Beschneidungspraktiken vorsehen würde. Eine mögliche Orientierungshilfe könnten entsprechende Entwicklungen in Puntland oder aber auch "Somaliland" bieten.

In Puntland wurde zwar ein solches im Kabinett verabschiedet, hatte aber wenig praktische Änderungen zu Folge.

In "Somaliland" wurden Anfang Februar 2018 mit einem religiösen Erlass zwei von drei Formen der weiblichen Genitalverstümmelung verboten. Diese Erlasse haben zu keiner messbaren Veränderung in der Praxis geführt."

Ein entsprechendes Bild ergibt sich aus dem derzeit aktuellsten Länderreport des Bundesamtes (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 71 Somalia: Fact Finding Mission vom 1. Juli 2024, S. 18ff.), worin ausgeführt wird:

FGM wird in Somalia systematisch praktiziert, ist gesellschaftlich tief verankert und größtenteils positiv konnotiert. Dem Somali Health and Demographic Survey zufolge wurde bei insgesamt 99 % der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren in Somalia eine FGM durchgeführt (Stand 2020). Das Land weist damit die höchste FGM-Rate weltweit auf. Die Durchführung von FGM wird feierlich begangen und stellt die Betroffenen in den Mittelpunkt. Mehrheitlich werden Mädchen und junge Frauen zwischen dem 5. und 14. Lebensjahr einer FGM unterzogen. In Somaliland erfolgt der Eingriff hingegen überwiegend bei Drei- bis Fünfjährigen. Der sozial-gesellschaftliche Druck beeinflusst die Entscheidung zur Durchführung einer FGM erheblich. FGM kommt landesweit unterschiedslos vor, das heißt, auch in von al-Shabaab kontrollierten Gebieten. Die Typ III-FGM, die schwerste Form, wird dabei am häufigsten (64 %) praktiziert. In den vergangenen Jahren ist jedoch eine Verschiebung von Typ III hin zu Typ I zu verzeichnen.

Den Vertretenden von UNFPA zufolge seien derzeit keine rückläufigen Tendenzen in Bezug auf FGM ersichtlich, die angespannte humanitäre Lage bedinge ein Fortbestehen der Praxis. Junge Frauen, die ihre Erwerbs- und Lebensgrundlage aufgrund der aktuellen Situation verloren haben, würden daher versuchen, ihren Lebensunterhalt durch eine (frühzeitige) Heirat zu sichern, um der Familie nicht mehr zur Last zu fallen. FGM stellt in vielen Fällen eine Voraussetzung für die Eheschließung dar. Als weiterer Grund für ein Fortbestehen der Praxis wird die fehlende Kommunikation zwischen Männern und Frauen angegeben. Innerhalb vieler Clans sei zudem die Annahme verbreitet, dass FGM notwendig und "nobel" sei. Eine unterlassene Durchführung von FGM würde in den Clans sanktioniert werden, so Beobachtende. Nur wenige Clans erachten FGM als nicht erforderlich.

(...)

Zum Teil droht Mädchen und Frauen die Unterziehung einer erneuten FGM. Eine solche "Re-Exzision" kann erfolgen, um eine umfassendere FGM als die ursprüngliche zu erreichen. Dies wird vorgenommen, wenn die bestehende FGM - meist nach Typ I oder II - nicht für ausreichend erachtet wird. Die Durchführungszeitpunkte variieren dabei, beispielsweise wird eine Re-Exzision kurz nach einer erfolgten FGM, vor einer Heirat oder nach einer Entbindung durchgeführt. Im Falle einer extremen Verengung der Vaginalöffnung, wie sie vor allem bei einer FGM nach Typ III vorliegt, ist häufig die erneute Öffnung bzw. Erweiterung - die sogenannte Deinfibulation - zur Ermöglichung von Geschlechtsverkehr und/oder einer Geburt notwendig. Anschließend kann eine Re-Infibulation, die erneute Verschließung des Genitalgewebes, erfolgen. Auch eine Vergewaltigung kann ein Grund für eine Re-Infibulation sein, da einige Mädchen und Frauen von ihren Familien dazu gezwungen werden, um die Ehre der Betroffenen und der Familie wiederherzustellen. Die wiederholte Öffnung und Schließung erhöhen das Risiko für kurz- und langfristige Folgen. Auf dem Land soll eine Re-Infibulation nach der Entbindung üblicher sein als in städtischen Gebieten. Zur Verbreitung von Re-Exzisionen und Re-Infibulationen in Somalia liegen keine verlässlichen statistischen Daten vor."

Die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) führt in ihren aktuellen Leitlinien zu Somalia (EUAA, Country Guidance: Somalia vom August 2023) aus, die Re-Infibulation sei ein häufiges Phänomen und betreffe alle Teile Somalias. In Somaliland entschieden sich Frauen dafür oft aufgrund des gesellschaftlichen Drucks. Die Quellen berichteten von unterschiedlichen Ansichten über die Prävalenz der Re-Infibulation. Es gebe verschiedene Gründe, aus denen eine Re-Infibulation durchgeführt werde, wobei die Geburt eines Kindes ein häufiger Faktor sei. Frauen würden in der Regel dem Druck der Familie oder des Ehemanns nachgeben, sich einer erneuten Infibulation zu unterziehen, da es da es für sie "sehr schwierig" wäre, selbst zu entscheiden und den Eingriff abzulehnen. Abgesehen davon, dass sie von ihrer Familie gezwungen würden, entschieden sich Frauen auch für eine Re-Infibulation, um für ihren Mann sexuell begehrenswert zu bleiben oder nach der Geburt wieder "hübsch und schön" zu werden. Somalische Frauen könnten auch aus anderen Gründen als einer Geburt einer wiederholten Genitalverstümmelung unterzogen werden, beispielsweise aufgrund eines Unfalls oder nach einer vorehelichen Beziehung. Weibliche Opfer von Vergewaltigung würden von ihren Familien gezwungen, sich einer erneuten Beschneidung zu unterziehen, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Es habe auch Fälle gegeben, in denen Frauen einer wiederholten FGM/C unterzogen wurden, weil man weil man der Meinung gewesen sei, dass die erste Infibulation nicht "richtig" durchgeführt worden war. Die De-Infibulation werde manchmal praktiziert, um den Gesundheitszustand der Frauen zu verbessern.

Laut Lifos, der Datenbank der schwedischen Einwanderungsbehörde, behaupteten mehrere Quellen, dass die Frage der Re-Infibulation nach der Geburt weitgehend von der Frau selbst entschieden werde; einige der Quellen betonten jedoch, dass dies auch variieren könne (Lifos, Somalia - Kvinnlig könsstympning vom 16. April 2019 S. 40f.). Weiter wird dort ausgeführt, generell scheine es so zu sein, dass somalische Frauen das Thema selbst in die Hand nehmen würden und die Möglichkeit hätten, sich gegen eine Re-Infibulation nach der Entbindung auszusprechen. Dies schließe jedoch nicht aus, dass die Frau von ihrem Ehemann, ihrer Familie oder der Gemeinschaft, in der sie lebt, unter Druck gesetzt werde, wenn diese eine andere Meinung zu diesem Thema hätten. Die Entscheidungsfindung der Frau müsse im Kontext des kollektiven Denkmusters und der patriarchalischen Struktur in der somalischen Gesellschaft verstanden werden, die die Entscheidung einer Frau stark beeinflussten. Wenn der potenzielle Ehemann eine infibulierte Frau erwarte, unabhängig davon, ob die Frau oder ihre Familie offen über die De-Infibulation gesprochen habe oder nicht, könnten Probleme bereits in der Hochzeitsnacht auftreten. Die De-Infibulation werde dann damit in Verbindung gebracht, dass die Frau außerehelichen Sex gehabt habe, und die Reaktion des Ehemannes könne von Misstrauen bis hin zur sofortigen Scheidung divergieren. In diesem Zusammenhang könne es zu einer indirekten Stigmatisierung kommen, wenn die Informationen, die zu den Eheproblemen geführt habe, in der Gesellschaft, in der die Frau lebe, Verbreitung fände. Es sei wahrscheinlich, dass man ihr mit Misstrauen begegne und verschiedene Gerüchte über sie in der Gemeinschaft verbreite. Außerdem könne es für sie schwierig werden, wieder zu heiraten. In extremen Fällen könnten betroffene Frauen psychische Schäden erleiden und sogar von zu Hause wegziehen müssen.

Im Hinblick auf Frauen, die bereits einer Genitalverstümmelung unterzogen worden, sind entscheidende Faktoren, die zu einer erneuten Gefährdung führen können, mithin zusammenfassend: das Alter, der Familienstand, die Art der vorgenommenen Genitalverstümmelung/Genitalbeschneidung sowie die Haltung und Traditionen der Familie bezüglich dieser Praxis (vgl. EUAA, Leitfaden: Somalia vom Juni 2022, S. 37).

Danach spricht für die Gefahr einer Re-Infibulation vorliegend insbesondere, dass die Klägerin kürzlich ein Kind bekommen hat und mit 23 Jahren in einem jungen und gebärfähigen (zwischen 15 und 49 Jahren) Alter ist. Auch hat sie glaubhaft vorgetragen, dass ihre Familie in Somalia der Vornahme einer Genitalverstümmelung positiv gegenübersteht. Die Beklagte hat diesen Vortrag - wie auch den übrigen - zurecht nicht bezweifelt. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Vornahme einer Re-Infibulation nicht entgegen, dass sie verheiratet ist und ihr Ehemann solchen Handlungen ablehnend gegenübersteht. Selbst wenn dieser trotz des Umstandes, dass ihm durch die Beklagte der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde, im Sinne einer realistischen Rückkehrprognose mit der Klägerin nach Somalia zurückkehren würde, bestünde aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte es für beachtlich wahrscheinlich erachtet hat, dass diesem bei einer Rückkehr nach Somalia ein ernsthafter Schaden i. S. v. § 4 Abs. 1 AsylG droht, die Gefahr, dass diesem zeitnah nach seiner Rückkehr etwas zustoßen würde, wodurch die Klägerin - als dann alleinstehende Mutter - auf sich selbst gestellt wäre. In diesem Fall kämen ihrem Onkel, der nach deren vollkommen überzeugenden Vortrag das (einzig in Betracht kommende) männliche Familienoberhaupt darstellte, sowie - soweit diese noch lebte - ihrer Großmutter eine entscheidende Rolle zu. Zudem besteht nach dem sehr nachvollziehbaren, schlüssigen und somit glaubhaften Vortrag der Klägerin - unabhängig von der Frage, der von der Beklagten für beachtlich wahrscheinlich erachteten Gefahr des Eintritts eines ernsthaften Schadens in seiner Person im Falle einer Rückkehr - eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, dass der Onkel der Klägerin und/oder der Mann, dem durch diesen die Heirat mit der Klägerin versprochen wurde, dem Ehemann der Klägerin etwas antuen könnten. Letzterer hat durch die von der Klägerin glaubhaft geschilderten Tötung ihres Bruders schon unter Beweis gestellt, dass er nicht vor der Anwendung äußerster körperlicher Gewalt zurückschreckt. Die Klägerin hat nach ihrem überzeugenden Vortrag nicht die Einwilligung ihrer Familie eingeholt (vielmehr besteht zu dieser seit ihrer Ausreise kein Kontakt mehr), als sie ihren Ehemann heiratete. Zudem gehört dieser zu einem Minderheitenclan, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass er von der Familie der Klägerin akzeptiert würde. Insofern bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass es bei einer Rückkehr nach Somalia zu einer erneuten Verheiratung der Klägerin mit einem anderen Mann (ggf. mit demjenigen, dem sie durch den Onkel versprochen war) kommen könnte, auch gegen deren Willen. Letzteres hat ihr Onkel bereits vor ihrer Flucht durchsetzen wollen. Dass die Klägerin selbst geäußert hat, dass sie sich nicht noch einmal einer Genitalverstümmelung unterziehen wolle, reicht aus Sicht des Einzelrichters im Lichte der vorzitierten Erkenntnislage nicht aus, um eine Re-Infibulation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, da sie innerhalb ihrer Familie (und der Gesellschaft, im speziellen ihres Clanes) insofern mit keinerlei Fürsprache rechnen kann. Vielmehr stünde zu befürchten, dass sie sich dem großen Druck beugen müsste und insofern keine freie Entscheidung treffen könnte. In der patriarchalen somalischen Gesellschaft dürfte sie insofern als junge Frau einen sehr schweren Stand haben, ihre eigene Meinung auch tatsächlich zu äußern und durchzusetzen. Soweit sie mit dem Mann verheiratet würde, der ihren Bruder getötet hat, müsste sie auch damit rechnen, dass dieser gewalttätig würde, wenn sie sich seinem Willen widersetzte. Aus Sicht des Einzelrichters ergibt sich aus den in Lifos zitierten Quellen - anders als dies andere Gerichte zu schlussfolgern scheinen - gerade nicht, dass die Frau in Bezug auf die Re-Infibulation eine freie Entscheidung treffen kann. Die Quellenlage ist danach schon nicht eindeutig zu der Frage, ob des auf den geäußerten Willen der Frau ankommt. Wie dort richtigerweise hervorgehoben wird, kann jedenfalls stark bezweifelt werden, dass der Willensbildungsprozess der Frau in der Regel frei ist. Vielmehr wird sie sich in der patriarchalen somalischen Gesellschaft im Zweifel dem Druck beugen müssen, den insbesondere die männlichen Familienoberhäupter ausüben. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund der schlechten Versorgungslage (s. u.), die dazu führt, dass Frauen - gerade Mütter - in der Regel einer starken Abhängigkeit von (männlichen) Versorgern unterliegen dürften.

Eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG besteht nicht, da zum einen nach dem Obenstehenden Genitalverstümmelungen in allen Landesteilen in einem extrem hohen Maße durchgeführt werden und sich die Klägerin in anderen Landesteilen, in die sie einreisen könnte, nicht derart würde versorgen können, dass er seine elementarsten Grundbedürfnisse würde befriedigen können.

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach der vorbezeichneten Norm nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Beim internen Schutz muss die Existenzgrundlage soweit gesichert sein, dass vom Ausländer vernünftiger Weise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des Abschiebungsverbotes beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15/12 -, Rn. 20, juris).

Nach diesem Maßstab steht der Klägerin in Somalia schon versorgungstechnisch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Die Versorgungslage in Somalia stellt sich nach den zutreffenden Ausführungen des hiesigen Verwaltungsgerichts (Urt. v. 14.02.2022 - 4 A 1129/19 -), denen sich der erkennende Einzelrichter anschließt, wie folgt dar:

"Somalia ist spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Autorität der Zentralregierung wird vom nach Unabhängigkeit strebenden "Somaliland" im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen Al-Shabaab-Miliz in Frage gestellt. Das Land zerfällt faktisch in drei Teile, nämlich in das südliche und mittlere Somalia, die Unabhängigkeit beanspruchende "Republik Somaliland" im Nordwesten und die autonome Region Puntland im Nordosten. In Puntland gibt es eine vergleichsweise stabile Regierung; die Region ist von gewaltsamen Auseinandersetzungen deutlich weniger betroffen als Süd-/Zentralsomalia. In "Somaliland" wurde im somaliaweiten Vergleich das bislang größte Maß an Sicherheit, Stabilität und Entwicklung erreicht. In Süd- bzw. Zentralsomalia mit der Hauptstadt Mogadischu kämpfen die somalischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der Militärmission der Afrikanischen Union AMISOM gegen die Al-Shabaab-Miliz. Die Gebiete befinden sich teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der Al-Shabaab-Miliz oder anderer Milizen. Die meisten größeren Städte sind schon seit längerer Zeit in der Hand der Regierung, in den ländlichen Gebieten herrscht oft noch die Al-Shabaab. In den "befreiten" Gebieten finden keine direkten kämpferischen Auseinandersetzungen mehr statt. Die Al-Shabaab verübt jedoch immer wieder Sprengstoffattentate auf bestimmte Objekte und Personen, bei denen auch Unbeteiligte verletzt oder getötet werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Stand: Januar 2018, S. 4 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia vom 12. Januar 2018, S. 12 ff., 17 ff.; Amnesty International, Unsustainable returns of refugees to Somalia, 2017, S. 9 ff.). Zudem kontrolliert Al Shabaab weiterhin wichtige Versorgungsrouten und hält gegen Städte unter Kontrolle von AMISOM und Regierungskräften Blockaden aufrecht. Durch Guerilla-Aktivitäten isoliert Al Shabaab mehrere Städte, die teils als Inseln im Gebiet der Gruppe aufscheinen. AMISOM muss an vielen Einsatzorten von UNSOS (United Nations Support Office in Somalia) aus der Luft versorgt werden, da die Überlandrouten nicht ausreichend abgesichert sind. Auch Regierungstruppen und Clanmilizen geraten regelmäßig aneinander (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia vom 12.01.2018, S. 18 f.).

Der langjährige Bürgerkrieg sowie häufige Dürre- und Flutkatastrophen führen dazu, dass weiterhin ein erheblicher Teil der Bevölkerung unter chronischem Mangel an ausreichender Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser und medizinischer Versorgung leidet. Hilfsaktionen der internationalen Staatengemeinschaft und durch Hilfsorganisationen werden durch die allgemeinen Verhältnisse im Land behindert und sind in den von der Al-Shabaab-Miliz kontrollierten Gebieten unmöglich. In durch AMISOM und die somalische Regierung eroberten Städten hat sich die Versorgungssituation nicht wesentlich verbessert, weil die Al-Shabaab-Miliz Versorgungsrouten bedroht oder sogar kontrolliert. Über die Hälfte der Bevölkerung - 6,7 Millionen Menschen - leiden unter Ernährungsunsicherheit (http://www.fao.org/emergencies/countries/detail/en/c/151690/, abgerufen am 24.06.2020).

Die 2017 ausgebrochene Hungersnot konnte zwar durch humanitäre Hilfen im Umfang von etwa einer Milliarde US-Dollar abgewendet werden, die Ernährungssituation bleibt in weiten Teilen des Landes, gerade in den urbanen Gebieten von Mogadischu, Kismayo und Baidoa, die bereits zahlreiche intern vertriebene Personen aufnehmen mussten, prekär (Norwegien Refugee Council (NRC), Internal Displacement Monitoring Centre; Global Report on Internal Displacement, Mai 2017, S. 65). Für Mogadischu gehen die Vereinten Nationen von einer akuten Unterernährung von derzeit 10-15% der Bevölkerung aus, die sich vorwiegend aus vulnerablen Personen ohne soziales Netz und familiäre Bindung, zusammensetzt und insbesondere die aus ihrer Heimatregion vertriebenen Menschen umfasst, die in informellen Lagern leben müssen (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA), London Conference, High-Level Event for the Humanitarian Situation in Somalia, 06.03.2018, S. 3, 4). Der fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser verschlimmert die völlig mangelhafte Gesundheitssituation der Bevölkerung weiter und führt zu einer Ausbreitung von Cholera und Durchfallerkrankungen und zieht zahlreiche Todesfälle nach sich (UN Security Council, Report of the Secretary General on Somalia, September 2017). Besonders von diesen Umständen bedroht sind die nach Somalia zurückkehrenden Geflüchteten, deren Situation sich von derer intern Vertriebener nicht unterscheidet (Amnesty International, Not Time to go Home: Unsustainable Returns of Refugees to Somalia, Dezember 2017, S. 12ff).

Nach den Rekordregenfällen im März und Mai 2018, der darauffolgenden Flut und anschließenden Dürreperiode drohte die Ernährungssituation sich erneut zu verschlechtern. Etwa 800.000 Menschen in Süd- und Mittelsomalia waren von den Ernteausfällen und Fluten betroffen, über 230.000 mussten ihr Zuhause verlassen, viele davon in Richtung der urbanen Zentren des Landes, sodass die Anzahl der dauerhaft intern vertriebenen Menschen inzwischen bei 2,1 Millionen liegt, von denen sich bereits letztes 2018 etwa 900.000 in Süd- und Mittelsomalia befanden (NRC, a.a.O., S. 64, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Somalia, Mai-Juni 2018, S. 1, 2, Amnesty International, a.a.O., S. 12).

Seit Oktober 2019 ist Somalia auch weiterhin von der schwersten Heuschreckenplage der vergangenen Jahrzehnte betroffen (FAO UN, Desert Locust Bulletin, General Situation during January 2020, 03.02.2020, S.1ff). Die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen rechnet damit, dass die Heuschreckenplage nicht schadlos eingedämmt werden wird und sich im Laufe des Jahres 2020 die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln weiter verschlechtern wird (FAO UN, Desert Locust Bulletin, General Situation during October 2020, Forecast until mid-December 2020 sowie March 2020, Forecast May 2020, S. 4).

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie ab Dezember 2019 auf die humanitäre Lage in Somalia sind in Ermangelung einer ausreichenden Datengrundlage nicht abschätzbar. Die Testrate in Somalia ist nicht bekannt, kann aber aufgrund der wirtschaftlichen Situation und medizinischen Versorgung des Landes als äußert niedrig bis nicht vorhanden eingeschätzt werden. Die nicht erfasste Anzahl der Infektionen ist derzeit nicht abzuschätzen. Unter Berücksichtigung der ohnehin prekären Lebensbedingungen verarmter Bevölkerungsschichten, beengter Wohnverhältnisse in den Armenvierteln der Städte, fehlendem Zugang zu sauberem Wasser, schlechter medizinischer Versorgung und einer hohen Anzahl von durch Erkrankungen wie HIV, Cholera oder Malaria geschwächter Menschen ist ein negativ verlaufendes Infektionsgeschehen in Somalia derzeit erwartbar (AP News: In Somalia, coronavirus goes from fairy tale to nightmare, 29.03.2020, aufgerufen am 11.11.2020 unter https://apnews.com/b23baf8f62dfda03b6ef73777175e8d9). Im gesamten Land gibt es kaum adäquat geschultes medizinisches Personal, wenige Beatmungsgeräte und allenfalls zwei Intensivstationen. Desinfektionsmittel oder Schutzmasken sind in der Regel für die Bevölkerung nicht verfügbar (Corona-Pandemie: Interview mit Ärztin der SOS-Kinderdörfer in Somalia, https://www.sos-kinderdoerfer.de/informieren/aktuelles/sos-geschichten/corona-somalia-interview-aerztin, abgerufen am 11.11.2020). Die Folgen der Pandemie beeinträchtigen zudem die Bekämpfung der mit der Heuschreckenplage einhergehenden humanitären Notlage ("Somalia: Heuschreckenplage und Corona verschärfen Ernährungssituation", https://www.drk.de/hilfe-weltweit/wo-wir-helfen/afrika/somalia/heuschreckenplage/, abgerufen am 11.11.2020).

Auch im Jahre 2021 bildete Somalia infolge dieser Entwicklungen - wie bereits seit über 20 Jahren - das Schlusslicht im Welthungerindex und ist das einzige Land, dessen Hungerschweregrad als gravierend eingestuft wird (WHI: Welthungerindex 2021, Oktober 2021, S. 12, 13, 46). Aktuellen Schätzungen zufolge leiden infolge des dritten Dürrejahres in Folge 1,4 Millionen Kinder in Somalia unter akuter Unterernährung. Die anhaltende Dürre und hohe Anzahl an Binnenvertriebenen insbesondere in Mogadischu und anderen Größstädten führt inzwischen auch zu einer Wasserknappheit, die einen Anstieg der Wasserpreise seit November 2021 um bis zu 72% (UNICEF: Verheerende Trockenheit in Somalia, https://www.unicef.ch/de/ueber-unicef/aktuell/news/2022-02-15/verheerende-trockenheit-somalia-14-millionen-kinder-sind-akut; Save the Children: Somalia: Schlimmste Dürre seit einem Jahrzehnt - Millionen Menschen hungern, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/sci_somalia_drought_assessment_report_-_31jan2022.pdf, beide abgerufen am 24.02.2022).

Eine staatliche Sozialfürsorge existiert in Somalia nicht. Die einzige soziale Absicherung ist - wenn überhaupt - die Familie und der Clan (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 07.03.2018; British Home Office: Country Information and Guidance, Somalia: Security and humanitarian situation in south and central Somalia, Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7. Mai 2015 zu Somalia). Für Rückkehrer fehlt es im Falle einer Notlage weitgehend an funktionierenden staatlichen Stellen, die Hilfe leisten könnten. Der UNHCR geht davon aus, dass es in Mogadischu sehr schwer ist, ohne ein entsprechendes Unterstützungsnetzwerk zu überleben. Wenn der eigene Clan oder die Kernfamilie im Wohnbezirk nicht etabliert sind, werden sich Neuankömmlinge in einer dramatischen Situation wiederfinden. Für den Lebenserhalt im wirtschaftlichen Sinne braucht es in erster Linie die Kernfamilie. Selbst der größere Familienkreis wird den Lebenserhalt nur kurzfristig garantieren. Wenn eine Person nicht aus Mogadischu stammt, wird sie im Falle einer Rückkehr darauf angewiesen sein, sich in einer der unter der kritischen humanitären Lage leidenden informellen Siedlung für intern vertriebene Personen niederzulassen, denn staatliche Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrerinnen und Rückkehrer existieren nicht (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 19; Amnesty International, a.a.O., S. 16); Relief Web Report vom 19. April 2017 "Somalia: Time Running Out to Avoid Mass Starvation"; FAZ, 11. März 2017: "20 Millionen Menschen droht laut UN der Hungertod"; Guardian, 11. März 2017: "World faces worst humanitarian crisis since 1945, says UN official"; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 20. Juni 2017 - 14a K 7056/16.A -, Rn. 103, juris).

Die Lage für (Binnen-)Vertriebene stellt sich als besonders prekär dar. Sie sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen, aber auch staatlichen Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkungen und Diskriminierung aufgrund von Clan- Zugehörigkeiten sind an der Tagesordnung. Rechtswidrige Zwangsräumungen, die Binnenvertriebene und die arme Stadtbevölkerung betrafen, sind nach wie vor ein großes Problem, insbesondere in Mogadischu, wo allein seit November 2016 mehr als 60.000 Menschen betroffen waren. Die Mehrheit der Vertriebenen zog in der Folge in entlegene und unsichere Außenbezirke von Mogadischu, wo es lediglich eine rudimentäre bzw. gar keine soziale Grundversorgung gibt und sie unter äußerst schlechten Bedingungen leben (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Stand Januar 2019, S. 19f; Amnesty International, Unsustainable returns of refugees to Somalia, 2017, S. 12). Rund 14% der Einwohner leiden an akuter Mangelernährung, mit einem höheren Anteil in Regionen mit einem hohen Anteil an Rückkehrern und Binnenvertriebenen: Nur 3% der Rückkehrer gaben bei Studien an, nicht in eine Situation geraten zu sein, in der sie ihre Nahrungsmittelaufnahme haben reduzieren müssen (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Somalia: Mogadischu: Sozio-ökonomische Lage, Stand 31.01.2020, S. 3).

Die Lage in Mogadischu stellt das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht wie folgt dar:

"Mogadischu wird im ostafrikanischen Raum - trotz aller Gefahren und Armutsrisiken - mittlerweile als "Boomtown" angesehen (SpiegelOnline, Warlord City - The Business of Fear in Boomtown Mogadishu, 27.10.2017; The Guardian, Three tales of Mogadishu: violence, a booming economy ... an now famine, 15.5.2017). Der ökonomische Aufschwung und die Zunahme öffentlicher Verwaltung haben zu einer wachsenden Nachfrage nach gelernten und ungelernten Arbeitskräften geführt; insbesondere auf dem Bau und in der Gastronomie werden mittlerweile vermehrt Gastarbeiter aus Kenia und Bangladesch angeworben. Anders als in anderen Landesteilen Somalias besteht vermehrt Bedarf auch an ungelernten Tagelöhnern (Landinfo, Report Somalia: Relevant social and economic conditions upon return to Mogadishu, 1.4.2016, S. 12 f.). Für Mogadischu wird von einer im landesweiten Vergleich besonders niedrigen Jugendarbeitslosigkeit von 6 % ausgegangen; die Chancen für Auslandsrückkehrer auf dem Arbeitsmarkt werden - abhängig von weiteren Umständen - als relativ günstig eingeschätzt (Österreichisches Bundesasylamt, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Somalia, 25.4.2016, S. 88, 92 f.).

Allerdings stimmen die aktuellen Berichte darin überein, dass nach Mogadishu zurückkehrende Somalier über familiäre oder Clan-Verbindungen verfügen sollten, um im wirtschaftlichen Leben Fuß zu fassen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Magdeburg v. 2.11.2015 zum Az. 5 A 288/14 MD); Landinfo, Report Somalia: Relevant social and economic conditions upon return to Mogadishu, 1.4.2016, S. 13 f.; Österreichisches Bundesasylamt, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Somalia, 25.4.2016, S. 87 ff.) [...].

(OVG Lüneburg, Urt. v. 05.12.2017 - 4 LB 50/16 -, Rn. 61ff., juris)

Diese Ausführungen legt der Einzelrichter der Entscheidung zugrunde. Familie und Clan bleiben der wichtigste Faktor, wenn es um Akzeptanz, Sicherheit und Grundbedürfnisse geht. Der UNHCR weist jedoch darauf hin, dass die Sozialstruktur nach 20 Jahren Krieg und Vertreibung dermaßen zerstört ist, dass die erweiterte Familie keinen Schutz mehr bieten kann. Die Unterstützungsnetze beschränken sich nur noch auf die Kernfamilie - wenn überhaupt. Deshalb sind Einzelpersonen bei der Überlebenssicherung auf die Hilfe der Kernfamilie angewiesen. Dies gilt insbesondere für Minderjährige und Jugendliche sowie für ältere Menschen und alleinstehende Frauen und Mütter, die Minderheitenclans angehören (VG Karlsruhe, Urt. v. 25.02.2019 - A 14 K 102/18 -, Rn. 59, juris; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Somalia: Sicherheitssituation in Mogadischu, Auskunft der SFH-Länderanalyse, 25.10.2013, S. 4 f). Rückkehrer seien auf dem Arbeitsmarkt demgegenüber besonders benachteiligt, da die wenigen Arbeitsplätze bevorzugt an ortskundige und vernetzte Einheimische mit relevanten und besser vermarktbaren Fähigkeiten vergeben werden. Etwa die Hälfte der befragten Rückkehrer seien ohne Beschäftigung, in Mogadischu habe die Stichprobe einen Anteil von arbeitslosen Rückkehrern von bis zu 90% ergeben (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Somalia: Mogadischu: Sozio-ökonomische Lage, 31.01.2020, S. 11, 12)."

Die vorstehend beschriebene Lage entspricht auch derjenigen, die aus ganz aktuellen Erkenntnismitteln hervorgeht (vgl. z. B.: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia (Stand: Juli 2024) vom 23. August 2024; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 71 Somalia: Fact Finding Mission vom 01. Juli 2024).

Unter Berücksichtigung der derzeitigen Lage in Somalia und der individuellen Lebensverhältnisse der Klägerin ist hier nach Auffassung des erkennenden Gerichts das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere insofern erreicht, als dass die Klägerin außerhalb des Gebietes, in dem sich ihre Familie befindet, nicht in der Lage wäre, sich derart zu versorgen, dass sie zumindest ein Leben am unteren Rand des Existenzminimums führen könnte.

Die folgenden Gesichtspunkte sind bei der Bewertung, ob sich aus den ausgeführten humanitären Umständen im Einzelfall die Gefahr einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Notlage ergibt, zu berücksichtigen: Die Lebensumstände der Person vor der Abreise, die Dauer der Abwesenheit, die rückgriffsfähigen Clan-Verbindungen, der Zugang zu finanziellen Ressourcen, die Möglichkeiten der Person, sich durch Arbeit oder Selbständigkeit einen Lebensunterhalt zu finanzieren, die Verfügbarkeit von Remissen aus dem Ausland und die Lebensumstände der Person im Gastland (VG Berlin, Urt. v. 07.11.2018 - 28 K 141.17 A -, Rn. 34, juris). Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine - zwar notwendig hypothetische, aber doch - realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen.

Wie oben dargelegt, ist vorliegend davon auszugehen, dass die Klägerin selbst im Falle einer gemeinsamen Rückkehr nach Somalia mit ihrem Ehemann alsbald auf sich alleine gestellt wäre, da diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr ein ernsthafter Schaden drohte. Demnach müsste sie sich und ihr dreijähriges Kind selbst versorgen, obgleich sie in anderen Landesteilen über kein familiäres Netzwerk verfügt und auch nur einen geringen Bildungsstand sowie keine Berufserfahrung vorweisen kann. Mithin ist nicht damit zu rechnen, dass die Klägerin sich (und ihren Sohn) mit dem Elementarsten versorgen könnte, um wenigstens ein Leben im Rahmen des Existenzminimums zu führen. Soweit sie deshalb versuchen sollte, durch Heirat eine Versorgung sicherzustellen, stünde wiederum zu befürchten, dass bei der Klägerin eine Re-Infibulation erfolgte.

2. Mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erübrigt sich eine Entscheidung über die Gewährung des subsidiären Schutzes und das Bestehen von Abschiebungsverboten (Hilfsanträge). Da die Voraussetzungen in Bezug auf diese Hilfsanträge allerdings nach den obigen Ausführungen vorliegen, sind die diesbezüglichen Ziffern im angefochtenen Bescheid ebenfalls aufzuheben. Gleiches gilt für die Abschiebungsandrohung sowie die ausgesprochene Befristung des im Fall einer Abschiebung eintretenden Einreise- und Aufenthaltsverbotes.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.