Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.04.2025, Az.: 2 PA 17/25
Rechtmäßigkeit einer Inobhutnahme eines Kindes
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 01.04.2025
- Aktenzeichen
- 2 PA 17/25
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2025, 12811
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2025:0401.2PA17.25.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 20.02.2025 - AZ: 13 B 713/25
Rechtsgrundlage
- § 42 Abs. 1 Nr. 1, 2 SGB VIII
Fundstelle
- NordÖR 2025, 318
Amtlicher Leitsatz
Liegen die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII vor, kann die Rechtmäßigkeit einer Inobhutnahme bereits allein auf dieser Grundlage zu bejahen sein, selbst wenn der angegriffene Bescheid ausdrücklich nur auf die Rechtsgrundlage des § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII gestützt ist.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichterin der 13. Kammer - vom 20. Februar 2025, soweit darin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das durch beiderseitige Erledigungserklärungen beendete erstinstanzliche Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe setzt nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO voraus, dass die Rechtsverfolgung noch beabsichtigt ist. Eine erfolgversprechende beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung ist allerdings grundsätzlich dann nicht mehr möglich, wenn - wie hier - die Instanz, für die Prozesskostenhilfe begehrt wird, bereits beendet ist (vgl. hierzu Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 45. EL Januar 2024, § 166 Rn. 132). Eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt nur dann ausnahmsweise noch nach Abschluss der Instanz in Betracht, wenn das Gericht sie bereits vor Beendigung des Verfahrens hätte bewilligen müssen und der Prozesskostenhilfeantrag zum Zeitpunkt der Erledigung des Verfahrens im Sinne der Bewilligung entscheidungsreif war (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14. April 2010 - 1 BvR 362/10 -, juris Rn. 13 f.; BVerwG, Beschl. v. 3.3.1998 - 1 PKH 3.98 -, juris Rn. 2; BGH, Beschl. v. 7.3.2012 - XII ZB 391/10 -, juris Rn. 10; BayVGH, Beschl. v. 24.1.2008 - 11 C 07.2133 -, juris Rn. 7 m.w.N.; OVG NRW, Beschl. v. 18.2.2003 - 16 E 89/03 -, juris Rn. 2 f. u. v. 28.8.2023 - 12 E 534/23 -, juris Rn. 3). Der jeweilige Antragsteller muss insbesondere einen ordnungsgemäßen und vollständigen Antrag gestellt haben, was die Vorlage einer vollständigen formularmäßigen Erklärung mit den entsprechenden Belegen nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 ZPO erfordert.
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben liegen die Voraussetzungen für die nachträgliche Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht vor. Zwar hat die Antragstellerin den obigen Maßgaben entsprechende Prozesskostenhilfeunterlagen eingereicht; diese lagen auch spätestens am 10. Februar 2025 vollständig vor, so dass angesichts der bereits unter dem 3. Februar 2025 eingegangenen Antragserwiderung Bewilligungsreife vor dem erledigenden Ereignis am 11. Februar 2025 (Einigung vor dem Familiengericht) gegeben war. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO hatte jedoch im Zeitpunkt der Bewilligungsreife nicht die erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei Prozesskostenhilfe nur zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Anforderungen bei der Prüfung der Erfolgsaussichten dürfen nicht überspannt werden, weil ansonsten unbemittelten Beteiligten die Rechtsverfolgung unverhältnismäßig erschwert würde. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den das Rechtsstaatsprinzip erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, juris Rn. 29 m.w.N.). Es soll also nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen und dient auch nicht dazu, schwierige Rechtsfragen zu beantworten. Ferner darf Prozesskostenhilfe nicht versagt werden, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil dessen ausgehen wird, der um Prozesskostenhilfe nachsucht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 6.3.2008 - 2 BvR 387/07 -, juris Rn. 14, u. v. vom 10.8.2001 - 2 BvR 569/01 -, juris Rn. 18 ff.). Hinreichende Erfolgsaussichten liegen nicht nur vor, wenn der Prozesserfolg gewiss oder überwiegend wahrscheinlich ist. Ein bei summarischer Prüfung offener Ausgang der Rechtsverfolgung genügt (Olbert, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 46. EL Juli 2024, § 166 Rn. 81 m.w.N.).
Hier fehlt es an hinreichenden Erfolgsaussichten des Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Inobhutnahme, weil - wie im Rahmen des gerichtlichen Eilverfahrens entscheidungserheblich gewesen wäre - die Inobhutnahme der Tochter E. der Antragstellerin nach vorläufiger Einschätzung rechtlich nicht zu beanstanden war. Dabei geht der Senat davon aus, dass die Inobhutnahme bereits gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII vorzunehmen war. Nach dieser Regelung ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet. Die Tochter der Antragstellerin hat ausweislich der Verwaltungsvorgänge um ihre Inobhutnahme gebeten (vgl. nur die Seiten 1 [Meldung einer Inobhutnahme], 5 [Dokumentation der Risikoeinschätzung zur Falldarstellung im Jugendsozialdienst A-Stadt], 7 [Antragstellung an das Amtsgericht] und 23 [Aktenvermerk über das Gespräch mit Frau F. über E.] der elektronischen Beiakte). Diese Bitte um Inobhutnahme war ersichtlich von den Sorgen der Tochter der Antragstellerin um ihr Wohlergehen getragen (vgl. hierzu Dürbeck, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 7a; Jan Kepert, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 20), und sie war für den Antragsgegner auch einer der Gründe für die Inobhutnahme. So hat der Antragsgegner in seiner Antragserwiderung vom 3. Februar 2025 nochmals ausdrücklich auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen ("Diese Maßnahme entsprach zudem dem ausdrücklichen Verlangen von E..").
Dass der angefochtene Bescheid ausdrücklich nur auf die Rechtsgrundlage des § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII gestützt ist, ist unschädlich. Geht es um die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts, haben die Verwaltungsgerichte von Amts wegen zu prüfen, ob das materielle Recht die durch einen Verwaltungsakt getroffene Regelung trägt oder nicht. Hierzu gehört - in rechtlicher Hinsicht - die Prüfung, ob ein angegriffener Verwaltungsakt kraft einer anderen als der angegebenen Rechtsgrundlage rechtmäßig ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.8.1988 - 8 C 29.87 - juris Rn. 13; Urt. v. .6.1989 - 4 C 40.88 -, juris Rn. 20; Urt. v. 12.04.1991 - 8 C 92.89 -, juris Rn. 9; OVG SH, Urt. v. 26.5.2009 - 1 LB 38/08 -, juris Rn. 34). Weiter sind - in tatsächlicher Hinsicht - alle Umstände zu berücksichtigen, die die - gesamte oder teilweise - Aufrechterhaltung des angefochtenen Bescheids zu rechtfertigen vermögen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.02.1994 - 8 C 14.92 -, juris Rn. 25). Wird die in einem Bescheid (im "Bescheidtenor") verfügte Regelung auf einer anderen Rechtsgrundlage als der im Bescheid genannten aufrechterhalten, lässt dies die Identität der im Bescheid getroffenen behördlichen Regelung unberührt, wenn sie - wie vorliegend - auf dasselbe Regelungsziel gerichtet bleibt und infolge des "Austauschs" der Rechtsgrundlage keine Wesensänderung erfährt (vgl. BVerwG, Urt. v. 31. 3.2010 - 8 C 12.09 -, juris Rn. 16; Beschl. v. 29.7.2019 - 2 B 19/18 -, juris Rn. 24; OVG SH, Urt. v. 26.5.2009 - 1 LB 38/08 -, juris Rn. 36; OVG SL, Beschl. v. 7.8.2013 - 3 A 295/13 -, juris Rn. 10; HambOVG, Urt. v. 11.4.2013 - 4 Bf 141/11 -, juris Rn. 49; NdsOVG, Beschl. v. 16.5.2023 - 11 LA 279/21 -, juris Rn. 36; OVG NRW, Beschl. v. 18.2. 2025 - 16 B 668/24 -, juris Rn. 7; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, 46. EL August 2024, § 113 Rn. 34). Diese Grenzen sind hier nach den obigen Ausführungen gewahrt. Ermessen war nicht auszuüben, da es sich bei der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII um eine gebundene Entscheidung handelt.
Insofern ist es nicht von Relevanz, ob in dem Bescheid - wie die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde beanstandet - die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII hinreichend nachvollziehbar begründet worden sind. Bei gebundenen Verwaltungsakten schadet eine inhaltlich fehlerhafte Begründung - (auch) zur zugrundeliegenden Rechtsgrundlage - nach den obigen Grundsätzen grundsätzlich nicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.7.2019 - 2 B 19/18 -, juris Rn. 24). Unbeschadet dessen geht der Senat nach Aktenlage davon aus, dass der Antragstellerin - wie der Antragsgegner in seiner Antragserwiderung dargelegt hat - bei dem Gespräch im Jugendamt am 20. Januar 2025 ausführlich erläutert worden ist, aus welchen Gründen die Inobhutnahme erfolgt war. Dementsprechend hatte die Antragstellerin der Maßnahme zunächst auch zugestimmt (vgl. Aktenvermerk über das Gespräch vom 20. Januar 2025, Bl. 24 der elektronischen Beiakte). Das pauschale Bestreiten der von dem Antragsgegner in der Antragserwiderung vorgetragenen Tatsachen vermag dessen Angaben nicht zuletzt in Ansehung der Dokumentation in seinem Verwaltungsvorgang nicht durchgreifend in Frage zu stellen.
Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbsatz 1 gerichtskostenfrei. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO werden die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).