Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.12.2024, Az.: 1 LA 68/24
Bauaufsichtliches Einschreiten bei Nachbarrechtsverletzungen mangels Einhaltung des Grenzabstandes
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 16.12.2024
- Aktenzeichen
- 1 LA 68/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 28587
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2024:1216.1LA68.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 16.04.2024 - AZ: 4 A 945/20
Rechtsgrundlage
Amtlicher Leitsatz
Der Senat lässt offen, ob seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an eine Ermessensreduktion auf Null hin zu bauaufsichtlichem Einschreiten bei Verletzung nachbarschützender Normen (vgl. Senatsurt. v. 16.2.2012 - 1 LB 19/10 -, BauR 2012, 933 = BRS 79 Nr. 206 = juris Rn. 39 m.w.N.) der Überprüfung bedarf.
Tenor:
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer (Einzelrichter) - vom 16. April 2024 wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Streitwert wird für das erstinstanzliche Verfahren unter Änderung der verwaltungsgerichtlichen Streitwertfestsetzung auf 30.000,- EUR und für das Zulassungsverfahren auf 37.500,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Kläger begehren ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen ein Gebäude des Beigeladenen, das den bis zum 30. Juni 2024 geltenden Grenzabstand zu ihrem Grundstück nicht einhielt.
Die Kläger sind Eigentümer des aus dem Aktivrubrum ersichtlichen, mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebauten Grundstücks. Das südlich angrenzende Grundstück war ursprünglich nur im Südosten mit einem Wohnhaus bebaut und steht im Eigentum des Beigeladenen. Im Jahr 2016 erteilte der Beklagte dem Beigeladenen die Baugenehmigung zur Errichtung eines zweieinhalbgeschossigen, L-förmigen Mehrfamilienhauses, dessen Nordflügel parallel zur Südgrenze des Beigeladenengrundstücks angeordnet werden sollte. Rechtsschutzanträge der Kläger gegen die Baugenehmigung blieben erfolglos. Im Jahr 2019 widerrief der Beklagte die Baugenehmigung, da sie infolge einer Grundstücksteilung rechtswidrig geworden sei.
Tatsächlich errichtete der Beigeladene das Vorhaben in einem Abstand zur nördlichen Grundstücksgrenze von 4,42 m im Westen (Messpunkt 1 der Unterlage des Katasteramts A-Stadt v. 10.9.2019) und 4,41 m im Osten (Messpunkt 3). Eine nach Streitigkeiten zwischen den Beteiligten im September 2019 durchgeführte Vermessung ergab, dass die Gebäudehöhe, gemessen ab der gewachsenen Geländeoberfläche zwischen 9,28 m im Westen und 9,16 m im Osten des Gebäudes betrug. Einen Antrag der Kläger auf bauaufsichtliches Einschreiten lehnte der Beklagte unter Berufung auf die Geringfügigkeit der nach der Rundung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 5 NBauO verbleibenden Grenzabstandsunterschreitung ab.
Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage der Kläger hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Vorhaben halte zur gemeinsamen Grundstücksgrenze zwar nicht den Grenzabstand ein; dieser werde im Westen des Gebäudes um 18 cm und im Osten um 9 cm unterschritten. Die Unterschreitung im Osten liege aber im Bagatellbereich von 6-9 cm. Auch im Westen falle sie nicht so erheblich aus, dass die Entscheidung des Beklagten, nicht einzuschreiten, ermessensfehlerhaft sei. Das Wohnhaus der Kläger mit dem Kosmetik- und Massagestudio der Klägerin liege im Osten ihres Grundstücks, die über den Bagatellbereich hinausgehende Grenzabstandsunterschreitung betreffe nur den Garten. Hier sei aber der Gedanke rechtmäßigen Alternativverhaltens zu berücksichtigen, da der rechtswidrige Anteil der Gebäudehöhe im Verhältnis zur Gesamthöhe kaum ins Gewicht falle. Soweit die Kläger die Verletzung von Maßfestsetzungen des für das Vorhabengrundstück geltenden Bebauungsplans sowie der örtlichen Bauvorschrift rügten, seien diese nicht nachbarschützend; sie verstärkten auch nicht das Gewicht der Grenzabstandsverletzung. Das Gebot der Rücksichtnahme sei ebenfalls nicht verletzt. Weder eröffne das Vorhaben unzumutbare Einsichtnahmemöglichkeiten auf das Klägergrundstück, noch entfalte es eine erdrückende Wirkung.
II.
Der dagegen gerichtete, auf den Zulassungsgrund ernstlicher Richtigkeitszweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich am Entscheidungsergebnis etwas ändern könnte. Überwiegende Erfolgsaussichten sind nicht erforderlich; es genügt, wenn sich diese auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens als offen erweisen. Das ist hier nicht der Fall.
Das Zulassungsvorbringen läuft auf die These hinaus, dass bei einer Unterschreitung des gesetzlichen Grenzabstandes, jedenfalls soweit sie über den Bagatellbereich hinausgeht, eine Ermessensreduktion auf Null hin zum bauaufsichtlichen Einschreiten die Regel ist, während das Verwaltungsgericht sie eher als begründungsbedürftige Ausnahme behandelt habe. Die Argumentation der Kläger hat durchaus eine gewisse Berechtigung; sie könnte dem Senat in einem Verfahren, in dem sie erheblich wäre, Anlass geben, seine vom Verwaltungsgericht angewandte abweichende Rechtsprechung (vgl. Senatsurt. v. 16.2.2012 - 1 LB 19/10 -, BauR 2012, 933 = BRS 79 Nr. 206 = juris Rn. 39 m.w.N.) auf den Prüfstand zu stellen. Vorliegend könnte die Argumentation der Kläger, selbst wenn der Senat ihr folgte, jedoch am Entscheidungsergebnis nichts ändern. Denn der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Bauordnung und zur Änderung des Niedersächsischen Gesetzes zur Erleichterung der Schaffung von Wohnraum vom 18. Juni 2024 (Nds. GVBl. 2024 Nr. 51) zum 1. Juli 2024 den Grenzabstand außerhalb von Gewerbe- und Industriegebieten von 0,5 H auf 0,4 H herabgesetzt. Dieser Grenzabstand wird vom Vorhaben nach den nicht mit Zulassungsgründen angegriffenen Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts zu Gebäudehöhe und -abstand zur Grundstücksgrenze an allen Messpunkten sicher eingehalten (9,28 m x 0,4 = 3,71 m, gerundet 3,70 m; 9,16 m x 0,4 = 3,66 m, gerundet 3,60 m).
Die Gesetzesänderung ist dem Zulassungsverfahren zugrunde zu legen. Sie wäre es in jedem Fall in einem - unterstellt - zugelassenen Berufungsverfahren, da maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtslage in der vorliegenden Verpflichtungssituation grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist. Da das Zulassungsverfahren kein Selbstzweck ist, sondern der Identifikation derjenigen Verfahren dient, in denen auf der Grundlage des mit der Zulassungsbegründung dargelegten rechtlichen und tatsächlichen Standpunkts des Rechtsmittelführers eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung ernsthaft in Betracht kommt, sind Rechtsänderungen, die auch bei Fragwürdigkeit eines tragenden Arguments des Verwaltungsgerichts zu einer offenkundigen Richtigkeit des aus diesem Argument abgeleiteten Ergebnisses führen, im Zulassungsverfahren zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.12.2003 - 7 AV 2.03 -, NVwZ 2004, 744 = juris Rn. 10).
Gegen die neben der Würdigung, der Grenzabstandsverstoß als solcher rechtfertige ein bauaufsichtliches Einschreiten nicht, kumulativ tragenden Begründungselemente des erstinstanzlichen Urteils - die Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung und die Vorgaben der örtlichen Bauvorschrift seien nicht nachbarschützend und das Vorhaben verletze auch nicht das Gebot der Rücksichtnahme - haben sich die Kläger nicht mit fristgemäßem Zulassungsvorbringen gewandt. Diese Möglichkeit wurde ihnen auch nicht dadurch abgeschnitten, dass bei Ablauf der Frist zur Begründung des Zulassungsantrags am 24. Juni 2024 noch das alte Grenzabstandsrecht galt; dies gilt schon deshalb, weil die Gesetzesänderung zu diesem Zeitpunkt bereits verkündet war und ihr Inkrafttreten unmittelbar bevorstand. Nur ergänzend weist der Senat deshalb darauf hin, dass angesichts der Rechtsprechung, nach der die Einhaltung der Grenzabstände die Wahrung des Gebots der Rücksichtnahme in tatsächlicher Hinsicht indiziert (vgl. Senatsbeschl. v. 6.4.2021 - 1 ME 58/20 -, juris Rn. 16 m.w.N.), ein derartiger Angriff nach der Gesetzesänderung noch weniger Erfolg versprochen hätte als zuvor.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht für das erstinstanzliche Verfahren auf § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 8 a, d der Streitwertannahmen der Bausenate des Gerichts nach dem 1. Januar 2002 und für das Zulassungsverfahren auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 7 a, e, 1 a, 3 der Streitwertannahmen der Bau- und Immissionsschutzsenate für nach dem 30. Juni 2021 eingegangene Verfahren (beide Streitwertkataloge abrufbar auf der Internetseite des Gerichts). Abweichend vom Verwaltungsgericht berücksichtigt der Senat, dass die Kläger sich neben der Beeinträchtigung ihres Wohnhauses auch auf die Beeinträchtigung des diesem angegliederten Kosmetikstudios wenden. Um dem offenbar verhältnismäßig geringen Umfang dieses Betriebs Rechnung zu tragen, legt er der Streitwertfestsetzung insgesamt nur den Wert für die Beeinträchtigung einer Nutzungseinheit zugrunde, belegt diese aber mit einem Gewerbezuschlag von 50 %. Die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts passt der Senat gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG an.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).