Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 31.01.2025, Az.: 14 SLa 607/24
Anspruch eines Arbeitnehmers auf Nachteilsausgleich nach Massenentlassungen
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 31.01.2025
- Aktenzeichen
- 14 SLa 607/24
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2025, 13661
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2025:0131.14SLa607.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Celle - 28.06.2024 - AZ: 1 Ca 170/23
Rechtsgrundlagen
- § 113 BetrVG
- § 112a BetrVG
Amtlicher Leitsatz
Einzelfallentscheidung. Kein Interessenausgleich auf Vorrat. Anforderungen an den arbeitgeberseitigen Versuch eines Interessenausgleichs. Kurzzeitige Verlängerung des Arbeitsverhältnisses einzelner Mitarbeiter nach vorheriger Massenentlassung.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Celle vom 28.06.2024 - 1 Ca 170/23 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 14.055,12 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Parteien streiten noch über einen Nachteilsausgleichsanspruch des Klägers.
Der Kläger war seit Mai 2017 bei der Beklagten als Sicherheitsmitarbeiter und Schichtführer am Standort O. in dem dort auf dem Gelände der Bundeswehr von der Beklagten bewachten Gebäudekomplex einer Asylbewerberunterkunft beschäftigt. Das durchschnittliche Bruttomonatsentgelt des Klägers betrug zuletzt 4.164,48 Euro bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von ca. 55 Stunden in der Woche. Am Standort O. waren etwa 100 Mitarbeiter eingesetzt, insgesamt beschäftigte die Beklagte zwischen 1.089 und 1.200 Mitarbeiter.
Nachdem die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit Schreiben vom 30.06.2023 zum 31.12.2023 gekündigt und sich der Kläger gegen diese Kündigung mit der am 20.07.2023 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage zur Wehr gesetzt hatte, schlossen die Parteien unter dem 15.11.2023 einen Änderungsvertrag. Darin heißt es:
"wird auf Grund des Arbeitsvertrages vom 01.05.2017 mit Wirksamkeit ab dem 01.01.2024 nachfolgender Änderungsvertrag geschlossen und ersetzt den ursprünglichen Vertrag.
...
§ 1 Dauer des Arbeitsverhältnisses
Das Arbeitsverhältnis ist befristet bis 31.01.2024."
Wegen des weiteren Inhalts dieses Vertrages wird auf die Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 28.06.2024 verwiesen.
Gegen die Wirksamkeit der Befristung aus diesem Änderungsvertrag hat der Kläger keine Klage erhoben.
Unter dem 13.06.2023 erstattete die Beklagte eine Massenentlassungsanzeige, ausweislich derer geplant war, im Zeitraum vom 31.10. bis zum 31.12.2023 100 Arbeitnehmer zu entlassen. Der Grund bestand darin, dass der Bewachungsauftrag für den Standort O. von der Bundeswehr zum 31.12.2023 gekündigt worden war. Mit Schreiben vom 25.06.2023 unterrichtete die Beklagte den Betriebsrat über die beabsichtigte ordentliche Kündigung des Klägers und begründete dies mit der Schließung des Ankunftszentrums und der damit verbundenen Auftragskündigung zum 31.12.2023, sodass die weitere Beschäftigung der Mitarbeiter am Standort N. nicht mehr möglich sei. Die Reduzierung der Mitarbeiter von 100 Stellen auf sieben Stellen erfolge im Zeitraum vom 31.10.2023 bis zum 30.11.2023 und die Reduzierung von sieben Stellen auf null Stellen erfolge zum 31.12.2023. Der Betriebsrat teilte der Beklagten mit Schreiben vom 29.06.2023 mit, dass er der Kündigungsanhörung nicht zustimmen werde, weil kein Interessenausgleich stattgefunden habe.
In der Zeit vom 01.11. bis zum 31.12.2023 und anschließend bis zum 31.01.2024 wurde eine sogenannte Leerstandsbewachung mit stark reduzierter Mitarbeiterzahl durchgeführt. Aufgrund einer kurzfristigen Auftragserweiterung wurde das Arbeitsverhältnis des Klägers und einiger seiner Kollegen bis zum 31.01.2024 verlängert.
Der Kläger hat behauptet, bei der Beklagten seien 150 Mitarbeiter beschäftigt gewesen.
Er hat, soweit für die Berufung noch von Bedeutung, beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine angemessene Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes gemäß §§ 113 BetrVG, 10 KSchG zu zahlen, die einen Betrag von 13.534,56 Euro brutto nicht unterschreiten sollte.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat behauptet, es seien lediglich 78 Mitarbeiter zum 31.10. bzw. 31.12.2023 entlassen worden, bis zum 30.06.2023 seien befristete Arbeitsverträge ausgelaufen. Der damalige Betriebsrat habe eine zu hohe Abfindungszahlung vorgeschlagen. Für die turnusmäßige Betriebsratssitzung am 15.02.2023 sei der Bevollmächtigte der Beklagten eingeladen worden, um über die Sozialauswahl sowie einen Interessenausgleich zu diskutieren. Er habe den Betriebsratsmitgliedern die Tragweite eines Abfindungsbetrages sowie weitere finanziell belastende Vorschläge vor Augen geführt und zugleich über die Abläufe und den Sachstand der geplanten Massenentlassung und den weiteren Werdegang der geplanten Kündigungen aufgeklärt. Die Betriebsratsmitglieder hätten jedoch an ihrer Ansicht festgehalten. Es sei vereinbart worden, dass hierzu noch weitere Gespräche notwendig seien, letztlich sei eine Betriebsvereinbarung nicht zustande gekommen. Mitnichten sei daher ein Versuch unterblieben, einen Interessenausgleich auszuhandeln. O. habe im Übrigen keinen wesentlichen Betriebsteil dargestellt, da es keine betriebswirtschaftlich oder technisch abgrenzbare Organisation innerhalb des Betriebes der Beklagten gewesen sei. Die Entlassung des Klägers beruhe nicht auf einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses oder der Umsetzung einer Betriebsstilllegungsentscheidung, sondern vielmehr auf dem Abschluss des Änderungsvertrages und der darin enthaltenen Befristung.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat unter Abweisung der Klage im Übrigen die Beklagte zur Zahlung eines Nachteilsausgleichs in Höhe von 14.055,12 Euro brutto verurteilt. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte ihr erstinstanzliches Klagabweisungsbegehren im Hinblick auf den Nachteilsausgleich weiter: Die Beklagte habe sich um Regelungen für einen Interessenausgleich bemüht, die Verhandlungen mit dem Betriebsrat seien jedoch gescheitert, weil die Abfindungsforderungen unverhältnismäßig hoch gewesen seien. Die Voraussetzungen für einen Nachteilsausgleich lägen nicht vor, weil die Beklagte weder den ganzen Betrieb noch wesentliche Betriebsteile eingeschränkt und stillgelegt habe. Im Standort O. sei schon kein Betriebsteil zu sehen gewesen. Jedenfalls wäre dieser zum Ende des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger nicht mehr wesentlich gewesen. Die zahlenmäßigen Schwellenwerte könnten allenfalls in den Monaten bis Oktober des Jahres 2023 erreicht worden sein, nicht aber mehr im Januar 2024. Die Beklagte habe den Kläger auch nicht entlassen, vielmehr hätten die Parteien stattdessen den Arbeitsvertrag geändert, es sei um die Modifizierung der Vertragsbedingungen bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gegangen.
Mit Schriftsatz vom 25.11.2024 legte die Beklagte die Kopie einer vom Kläger anschließend bestrittenen Betriebsvereinbarung vom 22.07.2016 vor, die nach Auffassung der Beklagten einen Interessenausgleich nach §§ 111, 112 BetrVG für den Fall einer Auftragsbeendigung und den damit einhergehenden Stellenverlust von über fünf Prozent der Arbeitnehmerschaft darstellten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Celle vom 28.06.2024 - 1 Ca 170/23 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil im Hinblick auf den Nachteilsausgleich nach Maßgabe der Berufungserwiderung vom 11.10.2024 und des Schriftsatzes vom 16.12.2024.
Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Das Gericht folgt den zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts im angefochtenen Urteil, § 69 Abs. 2 ArbGG. Die Berufung gibt Anlass zu folgender weiterer Begründung:
Auf die Ausführungen der Beklagten zum Betriebsbegriff kommt es bereits deshalb nicht an, weil nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und nunmehr auch nach § 112a Abs. 1 BetrVG eine geplante Betriebsänderung iSd § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG allein in der Entlassung von Arbeitnehmern bestehen kann. Der Schwellenwert für die gesamte Maßnahme, der Schließung des Standorts O. und der abgestuften Entlassung der dort beschäftigten Arbeitnehmer war gemäß § 17 KSchG und des Überschreitens der 5%-Grenze erreicht.
Der Kläger war trotz seines kurzzeitig später erfolgten Austritts von der Maßnahme betroffen. Er wurde im Sinne des § 113 Abs. 3 BetrVG entlassen und nicht, wie die Beklagte ausgeführt hat, weiterbeschäftigt.
Beruht der sukzessive Personalabbau auf einer einheitlichen unternehmerischen Planung, sind die Abbaumaßnahmen grundsätzlich zusammen zu betrachten. Eine enge zeitliche Nähe der Entlassungswellen ist dabei nicht zwingend vorausgesetzt, kann aber eine einheitliche Planung indizieren. Eine spätere Entlassungswelle kann auch das Ergebnis einer neuen Planung sein. Dies gilt insbesondere, wenn nach der ersten Entlassungswelle neue, vom Arbeitgeber ursprünglich nicht vorhergesehene und eingeplante Umstände eingetreten sind. In solchen Fällen sind die aufgrund neuer Planung ergriffenen Maßnahmen grundsätzlich unabhängig von einem bis dahin durchgeführten Personalabbau zu betrachten, auch wenn sie möglicherweise auf derselben wirtschaftlichen Entwicklung beruhen (BAG 17.03.2016 - 2 AZR 182/15 - Rn. 30).
Es ist in diesem Sinne von einer einheitlichen unternehmerischen Planung auszugesehen. Dem Kläger gegenüber wurde aufgrund der geplanten Standortschließung und der geplanten Entlassung sämtlicher Beschäftigter zunächst die Kündigung zum 31.12.2023 ausgesprochen und er war dementsprechend in der Massenentlassungsanzeige aufgeführt. Damit war er zuletzt der kleine Teil der übriggebliebenen Arbeitnehmer, die noch zum Jahresende die sog. Leerstandsüberwachung durchführten. Mit dem Änderungsvertrag vom 15.11.2023, der ausdrücklich auf den vorherigen Arbeitsvertrag vom 01.05.2017 Bezug nahm, verlängerten die Parteien ihr gekündigtes Arbeitsverhältnis lediglich um einen Monat bis zum 31.01.2024, um die Leerstandsüberwachung über einen kurzen weiteren Zeitraum zu gewährleisten. Die Entlassung des Klägers stellte sich damit als Teil des Gesamtplanes der vollständigen Einstellung der Bewachungstätigkeit am Standort O. dar. Der Kläger sollte gerade nicht in dem Sinn weiterbeschäftigt werden, dass er nicht mehr Teil der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer war.
Die Beklagte hat auch nicht in ausreichender Weise einen Interessenausgleich versucht.
Um einen Anspruch nach § 113 Abs. 3 BetrVG zu vermeiden, muss der Unternehmer vor der tatsächlichen Durchführung der Betriebsänderung alle Möglichkeiten einer Einigung über den Interessenausgleich ausschöpfen (BAG 20.11.2001 - 1 AZR 97/01 -; BAG 26.10.2004 - 1 AZR 493/03 -; BAG 16.5.2007 - 8 AZR 693/06 -). Er muss im Zusammenhang mit einem Interessenausgleichsversuch grundsätzlich die Einigungsstelle anrufen. Das folgt aus dem Schutzzweck des § 113 Abs. 3 BetrVG. Die Vorschrift schützt das Interesse der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer mittelbar durch die Sicherung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats. Dieser umfasst nach § 112 Abs. 2 BetrVG auch die Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens. Ob die Anrufung der Einigungsstelle gegebenenfalls dann unterbleiben kann, wenn die Betriebsparteien einvernehmlich hiervon Abstand nehmen und der Betriebsrat eindeutig ausdrückt, seinen Informations- und Beratungsanspruch des § 111 S. 1 BetrVG auch ohne Durchführung des Verfahrens nach § 112 Abs. 2 BetrVG als erfüllt anzusehen, muss nicht entschieden werden. Eine solche Fallgestaltung liegt hier nicht vor (vgl. BAG 07.11.2017 - 1 AZR 186/16 -Rn. 30).
Die Ausführungen der Beklagten zu den Gesprächen mit dem Betriebsrat und insbesondere zum Inhalt der Betriebsratssitzung vom 15.02.2023 genügen nicht diesen Anforderungen des Bundesarbeitsgerichts an einen Versuch eines Interessenausgleichs, wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat. Die Beklagte, die im Wesentlichen über Gespräche zu Abfindungszahlungen berichtet, führt selbst aus, es sei vereinbart worden, dass noch weitere Gespräche notwendig seien. Letztlich sei eine Betriebsvereinbarung nicht zustande gekommen. Dementsprechend rügte der Betriebsrat in seiner Stellungnahme zur beabsichtigten Kündigung des Klägers, dass kein Interessenausgleich stattgefunden habe. Soweit sich die Beklagte nunmehr auf eine überraschend aufgetauchte streitige Betriebsvereinbarung vom 22.07.2016 beruft, handelt es sich nicht um eine rechtzeitige und umfassende Unterrichtung und Beratung über die konkrete geplante Betriebsänderung im Jahre 2023.
Die Ausführungen des Arbeitsgerichts zur Höhe des Nachteilsausgleichs sind überzeugend und von der Beklagten nicht angegriffen worden.
Eines weiteren Schriftsatznachlasses für die Beklagte bedurfte es nicht. Der Hinweis vom 29.01.2025 enthielt Rechtsausführungen, die im Rahmen der mündlichen Verhandlung erörtert werden konnten.
Auch eine Würdigung des weiteren Sachvortrags der Parteien, von deren Darstellung im Einzelnen Abstand genommen wird, führt zu keinem abweichenden Ergebnis.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich. Gegen diese Entscheidung ist daher kein Rechtsmittel gegeben.