Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 06.11.2024, Az.: L 2/1 R 253/23

Klage gegen die Verrechnung von Altersrentenbezügen mit rückständigen Beitragsforderungen der zuständigen Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
06.11.2024
Aktenzeichen
L 2/1 R 253/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 29367
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2024:1106.2R253.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 11.10.2023 - AZ: S 14 R 566/21

Amtlicher Leitsatz

Von dem durch §§ 52, 51 Abs. 2 SGB I eingeräumten Ermessen zur Verrechnung von Sozialleistungsansrpüchen mit Beitragsrückständen darf der Sozialleistungsträger nur unter angemessener Berücksichtigung auch der berechtigten Interssen des Leistungsempfängers Gebrauch machen.

In dem Rechtsstreit
B.
- Kläger und Berufungskläger -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte C.
gegen
Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover,
vertreten durch die Geschäftsführung,
Lange Weihe 6, 30880 Laatzen
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
beigeladen:
Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft Region Nord,
vertreten durch die Geschäftsführung,
Hildesheimer Straße 309, 30519 Hannover
hat der 2. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 6. November 2024 in Celle durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. D., die Richterin am Landessozialgericht Dr. E. und den Richter am Landessozialgericht Dr. F. sowie die ehrenamtlichen Richter G. und H. für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts vom 11. Oktober 2023 und der Bescheid der Beklagten vom 24. September 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. September 2021 aufgehoben.

Die Beklagte und die Beigeladene tragen die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers aus beiden Rechtszügen jeweils zur Hälfte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der 1945 geborene Kläger wendet sich gegen eine Verrechnung von Altersrentenbezügen mit rückständigen Beitragsforderungen der beigeladenen Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft, welche an ein Insolvenzereignis im Frühjahr 2008 anknüpfen.

Der seinerzeit 62jährige Kläger war bis Frühjahr 2008 Inhaber eines Bauunternehmens. Seinerzeit sollte das Unternehmen des Klägers einen Großauftrag für die I. GmbH erledigen, wobei es sich bei diesem Auftraggeber nach Angaben des Klägers um ein Tochterunternehmen öffentlich-rechtlicher Auftraggeber gehandelt hat. Jedenfalls wurden, soweit sich dies nach Aktenlage erschließt, Anfang 2008 die Forderungen des Klägers von Seiten der I. GmbH nicht zeitgerecht erfüllt, so dass der Kläger seinerzeit zahlungsunfähig wurde (vgl. auch insbesondere Schreiben des Klägers vom 31. Mai 2024, Bl. 262 ff. GA).

Die Löhne für die Monate ab Januar 2008 konnte der Kläger den Beschäftigten nicht mehr zahlen; alle Mitarbeiter wurden im Februar 2008 freigestellt (vgl. insbesondere Schreiben des Klägers vom 28. Juli 2008)

Ein förmliches Insolvenzverfahren ist nicht eröffnet worden. Von Seiten der Bundesagentur für Arbeit sind aber jedenfalls Zahlungen aufgrund eines Insolvenzereignisses im Sinne des § 183 SGB III (also aufgrund der Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse gemäß § 183 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a.F. oder aufgrund vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt gemäß § 183 Abs. 1 Nr. 3 SGB III a.F.) erbracht worden (vgl. insbesondere das Schreiben der Bundesagentur vom 21. Januar 2009, Bl. 270 GA).

Der beigeladenen Berufsgenossenschaft schuldete der Kläger zum einen Beiträge aufgrund der Beschäftigung von Arbeitnehmern. Für das Jahr 2007 hat die Beigeladene unter diesem Gesichtspunkt Vorschüsse in Höhe von 16.176 € erhoben, welche von Seiten des Klägers vollständig bezahlt worden sind (vgl. die Aufstellung der Beigeladenen auf Bl. 153 GA, welche per 31. Dezember 2007 einen Saldo von 0 € ausweist). Ferner hat der Kläger noch am 15. Januar 2008 einen (ersten Teil-)Vorschuss für die Beitragsforderung im Jahr 2008 in Höhe von 2.632 € gezahlt.

Ferner war der Kläger als Unternehmer freiwillig bei der Berufsgenossenschaft versichert. Auch dieses Konto wies zum 31. Dezember 2007 einen Saldo von 0 € auf, nachdem der Kläger den für dieses Jahr geforderten Vorschuss in Höhe von 707 € entrichtet hatte.

Mit Bescheid vom 25. April 2008 setzte die Beigeladene den von Seiten des Klägers für die Beschäftigten des Unternehmens abzuführenden Beitrag auf 18.890,43 € fest. Nach Verrechnung der für das Jahr 2007 erbrachten Vorschusszahlungen in Höhe von 16.176 € und der im Januar 2008 erbrachten weiteren Vorschusszahlung in Höhe von 2.632 € verblieb ein offener Restbetrag von 204,43 €.

Von der Erhebung eines entsprechenden Umlagebetrages für die ersten Wochen des Jahres 2008, während derer nach Angaben des Klägers noch Beschäftigungsverhältnisse bestanden hatten, hat die Beigeladene abgesehen (S. 2 des Schriftsatzes vom 2. Juli 2024, Bl. 285 GA).

Mit Schreiben vom 28. Juli 2008 sprach der Kläger die "Kündigung" der Versicherungen bei der Beigeladenen aus und legte zur Begründung dar, dass er den Betrieb im Februar 2008 unter Freistellung aller Mitarbeiter aufgrund der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit habe einstellen müssen.

Daraufhin beendete die Beigeladene mit Bescheid vom 30. Juli 2008 mit Wirkung zum 1. August 2008 die freiwillige Versicherung des Klägers und reduzierte daran anknüpfend die Beitragsforderungen für diese freiwillige Versicherung im Jahr 2008 (d.h. bezogen auf die verbleibenden Monate Januar bis Juli 2008) auf 390,90 €.

Mit weiterem "Löschungsbescheid" vom 5. Februar 2009 (Bl. 286 ihrer Verwaltungsvorgänge) sprach die Beigeladene die Beendigung ihrer Zuständigkeit zum 8. Juli 2008 aus.

Bezüglich des Betrages von 204,43 € zuzüglich Säumniszuschläge unternahm die Beigeladene 2011 einen Vollstreckungsversuch. Das Hauptzollamt Osnabrück reichte die Vollstreckungsanordnung mit Schreiben vom 30. Dezember 2011 unter Hinweis auf vorausgegangene fruchtlose Pfändungsversuche zurück (Bl. 236 GA).

Bezüglich des Betrages von 390,90 € gab es keine entsprechenden Vollstreckungsversuche.

Ausweislich ihrer Darstellung im Schriftsatz vom 27. Mai 2024 (Bl. 254 GA) hat die Beigeladene seinerzeit die streitbetroffenen Beitragsforderungen "befristet niedergeschlagen". Diese - gegenüber dem Kläger nicht kundgemachte - "befristete Niederschlagung" ging mit einem erstmals Anfang 2012 geltend gemachten Verrechnungsersuchen an den beklagten Rentenversicherungsträger einher.

Dieser gewährte dem Kläger seit dem 1. Oktober 2010 die Regelaltersrente, wobei von den Rentenzahlungen seit Ende 2010 Teilbeträge zur Tilgung von Forderungen anderer Sozialleistungsträger im Zusammenhang mit dem Insolvenzereignis von Anfang 2008 fortlaufend einbehalten worden sind. Diese von den Rentenzahlungen bereits einbehaltenen Beträge haben sich nach Angaben des Klägers (vgl. 265 GA) auf insgesamt mehr als 31.000 € belaufen. Die diesbezüglich um Stellungnahme gebetene Beklagte hat sich mit Schriftsatz vom 13. Juni 2024 auf den Hinweis zurückgezogen, dass die entsprechenden Einbehalte "im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften" erfolgt seien.

Mit Schreiben vom 18. August 2020 konkretisierte die Beigeladene ihr Verrechnungsersuchen auf einen Gesamtbetrag von 817,33 €. Dieser setzte sich aus den vorstehend aufgeführten Beträgen von 204,43 € und 390,90 € sowie Säumniszuschlägen für die Jahre 2009 bis 2011 (vgl. wegen der Einzelheiten das o.g. Schreiben) zusammen.

Nach vorheriger Anhörung des Klägers sprach die Beklagte mit Bescheid vom 24. September 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. September 2021 die Verrechnung des von der Beigeladenen geltend gemachten Betrages von 817,33 € in Höhe eines Teilbetrages von 225,87 € mit einem dem Kläger (in Ausführung eines Urteils des Sozialgerichts Hannover vom 26. Februar 2020 - S 14 R 405/18 -) zustehenden Rentennachzahlungsanspruchs in Höhe von 225,87 € und im Übrigen (d.h. hinsichtlich des weiteren Betrages von 591,46 €) in Höhe monatlicher Verrechnungsbeträge von 300 € mit den laufenden (sich auf einen monatlichen Zahlbetrag von 625,14 € belaufenden) Rentenansprüchen des Klägers aus. Dies entsprach einem Einbehalt von 300 € im ersten Verrechnungsmonat und einer Einbehaltung des Restbetrages von 291,46 € im zweiten Verrechnungsmonat.

Diese Verrechnungen hat die Beklagte nachfolgend durchgeführt.

Mit der am 26. Oktober 2021 erhobenen Klage hat der Kläger insbesondere geltend gemacht, dass die Beklagte und die Beigeladene die rechtlichen Vorgaben missachten und sich rechtsmissbräuchlich verhalten würden.

Mit Urteil vom 11. Oktober 2023, dem Kläger zugestellt am 26. Oktober 2023, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die streitbetroffenen Verrechnungen fänden die erforderliche Rechtsgrundlage in §§ 51, 52 SGB I.

Mit der am Montag, den 27. November 2023, eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er sei 2008 unverschuldet zahlungsunfähig geworden. Die von öffentlichen Körperschaften beherrschte I. GmbH habe bedingt durch ihre Unterfinanzierung seine berechtigten Vergütungsansprüche in sechsstelliger Höhe nicht ausgeglichen. Deshalb habe er bereits im August 2008 die Eidesstattliche Versicherung abgeben müssen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 11. Oktober 2023 und den Bescheid der Beklagten vom 24. September 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. September 2021 aufzuheben.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Beigeladenen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1. Die zulässige Berufung ist begründet. Der angefochtene Verrechnungsbescheid vom 24. September 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. September 2021 ist rechtswidrig.

Das Rechtsschutzbedürfnis für Anfechtungsklagen gegen Bescheide über eine Aufrechnung entfällt nicht allein dadurch, dass der Leistungsträger bereits den Gesamtbetrag der zur Aufrechnung gestellten Gegenforderung von den laufenden Geldleistungen einbehalten hat (BSG, Urteil vom 14. März 2013 - B 13 R 5/11 R -, juris).

Nach § 51 Abs. 2 SGB I kann der zuständige Leistungsträger insbesondere mit Beitragsansprüchen nach dem Sozialgesetzbuch gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch wird. Der für eine Geldleistung zuständige Leistungsträger kann mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers dessen Ansprüche gegen den Berechtigten mit der ihm obliegenden Geldleistung verrechnen, soweit nach § 51 die Aufrechnung zulässig ist (§ 52 SGB I).

Im vorliegenden Zusammenhang macht der anwaltlich vertretene Kläger selbst nicht geltend, dass er durch die streitbetroffene Verrechnung mit dem Gesamtbetrag von 817,33 € bedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch geworden sei. Auch wenn zugunsten der betroffenen Sozialleistungsträger die materielle Berechtigung der von Seiten der Beigeladenen zur Verrechnung gestellten Forderungen in Höhe von insgesamt 817,33 € unterstellt wird, ist der zur Überprüfung gestellte Bescheid im Ergebnis jedoch jedenfalls aufgrund durchgreifender Ermessensfehler aufzuheben.

Die einseitig durch Verwaltungsakt geregelte Verrechnung steht - ebenso wie die Aufrechnung - im pflichtgemäßen Ermessen des sie durchführenden Leistungsträgers; insoweit handelt es sich bei dem "Kann" in § 52 Halbs. 1 und § 51 Abs. 1 Halbs 1, Abs. 2 Halbs. 1 SGB I um ein sog "Ermessens-Kann". Mit der Einräumung "echten Ermessens" steht dem die Verrechnung durch Verwaltungsakt regelnden Leistungsträger eine breite Handlungsmöglichkeit hinsichtlich des Ob und des Umfangs einer Verrechnung zur Verfügung, um so die Besonderheiten des Einzelfalls und insbesondere die wirtschaftliche Situation des Leistungsempfängers angemessen berücksichtigen zu können (BSG, U.v. 7. Februar 2012 - B 13 R 85/09 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 5 mwN).

Dabei ist das Verrechnungsermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben; die gesetzlichen Grenzen des Ermessens sind einzuhalten (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Damit korrespondierend hat der Leistungsempfänger einen Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). In diesem (eingeschränkten) Umfang unterliegt die Ermessensentscheidung der richterlichen Kontrolle, insbesondere auf Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung oder Ermessensfehlgebrauch (vgl § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG und BSG, U.v. 7. Februar 2012, aaO mwN).

Die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens setzt nicht nur voraus, dass die Behörde von ihrem Ermessen überhaupt Gebrauch macht, erforderlich ist darüber hinaus auch, dass das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt wird. Demgemäß muss die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht nur ergeben, dass die Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung treffen wollte. Sie muss vielmehr diejenigen Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Beklagte bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (vgl § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X und BSG, U.v. 26. Februar 1991 - 10 RAr 4/90 - SozR 3-2400 § 24 Nr 1 mwN).

Die Beklagte hat jedoch mit der zur Überprüfung gestellten Verrechnungsentscheidung bereits im Ausgangspunkt die Reichweite der "breiten Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich des Ob und des Umfangs einer Verrechnung" verkannt, die ihr von den gesetzlichen Vorgaben nach Maßgabe der erläuterten höchstrichterlichen Rechtsprechung eingeräumt werden. Sie interpretiert im Ergebnis § 51 Abs. 2 SGB I i.V.m. § 52 SGB I im Sinne einer Soll-Vorschrift. Diese Norm wird von der Beklagten im Ergebnis so angewandt, als ob sie lauten würde, dass der zuständige Leistungsträger mit Ansprüchen auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen und mit Beitragsansprüchen gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen "soll" (solange der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch wird).

Der Gesetzgeber hat aber gerade davon abgesehen, eine solche Soll-Vorschrift zu normieren. Er hat sich vielmehr damit begnügt, diesbezüglich der Behörde ein Ermessen einzuräumen, ohne zunächst dessen konkrete Ausübung abstrakt vorzugeben. Sachgrund für diese Einräumung eines weiten - in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls sachgerecht zu konkretisierenden - Ermessens war die Erkenntnis des Gesetzgebers, dass § 51 Abs. 2 SGB I im Alltag der Sozialversicherung eine Vielzahl von Sachverhalten erfasst, bei denen je nach Ausprägung ganz unterschiedliche Ausgestaltungen des Ermessens sachgerecht erscheinen und dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit angemessen zu entsprechen vermögen.

Bei Verabschiedung des § 51 SGB I hat der Gesetzgeber selbst die mit dieser Vorschrift im Ergebnis zum Ausdruck gebrachte Privilegierung der Leistungsträger vor anderen Gläubigern als rechtspolitisch wenig überzeugend eingeschätzt. In den Materialien hat er hervorgehoben, dass eine Kürzung des Leistungsanspruchs unter die Pfändungsgrenzen vielfach "sozialpolitisch bedenklich" erscheine (vgl. BT-Drs. 7/868, S. 32). Die damit verbundene Privilegierung von Sozialleistungsträgern sei überdies auch "rechtspolitisch" nicht befriedigend (aaO).

Gleichwohl hat sich der Gesetzgeber zu der ihren tatbestandlichen Voraussetzungen nach weit gefassten Regelung des § 51 Abs. 2 SGB I entschlossen. Anknüpfend an die erläuterten von ihm in den Materialien selbst festgehaltenen Bedenken hat er sich damit im Ergebnis von der Erwartung leiten lassen, dass die Sozialleistungsträger im Rahmen der gebotenen - auch in der Gesetzesbegründung (aaO) ausdrücklich hervorgehobenen - Ermessensausübung Kriterien für sachgerechte Ergebnisse finden. Auf diesem Wege sollen die sonst zu besorgenden rechts- und sozialpolitischen Bedenken vermieden und zugleich unverhältnismäßige Härten für die Versicherten ausgeschlossen werden.

Im Ergebnis hat der Gesetzgeber in § 51 Abs. 2 SGB I nur den Höchstrahmen vorgegeben, bis zu dem eine Aufrechnung (bzw. im Rahmen von § 52 SGB I: Verrechnung) kommen darf. Diese recht offen gehaltene gesetzliche Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die Frage nach einer Auf- bzw. Verrechnung in der Verwaltungspraxis in ganz unterschiedlichen Fallkonstellationen stellen kann, so dass in Abhängigkeit von der Ausgestaltung des betroffenen Sachverhalts sehr unterschiedliche Gewichtungen der betroffenen Interessen angemessen erscheinen.

In Bezug auf Beitragsrückstände kommen beispielsweise einerseits Fallgestaltungen einer unverschuldeten letztlich schicksalhaften Zahlungsunfähigkeit des betroffenen Beitragspflichtigen in Betracht. Andererseits gibt es natürlich auch Konstellationen in denen ein beitragspflichtiger Arbeitgeber die vom Arbeitslohn einbehaltenen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung aus grobem Eigennutz veruntreut. Je nach Ausgestaltung des Sachverhalts ist die Angemessenheit einer Auf- bzw. Verrechnung der Beitragsrückstände mit laufenden Sozialleistungsansprüchen insbesondere ihrer Höhe und ihrer Dauer nach sehr unterschiedlich zu bewerten. Dies gilt in besonderem Maße, wenn die betroffenen Sozialleistungsansprüche - wie auch die streitbetroffenen Altersrentenansprüche des Klägers - ansonsten von den Pfändungsschutzvorschriften nach §§ 51 Abs. 1, 54 Abs. 2 bis 4 SGB I erfasst werden.

Der Gesetzgeber hat auch für solche an sich pfändungsfreien Sozialleistungsansprüche mit den Vorgaben der §§ 51, 52 SGB I (in den erläuterten dort normierten Grenzen) die Möglichkeit ihrer Auf- bzw. Verrechnung mit rückständigen Beitragsforderungen der Sozialleistungsträger eröffnet; er hat die Wahrnehmung dieser Möglichkeit aber zugleich in das - sachgerecht auszuübende - Ermessen des leistenden Trägers gestellt. Damit hat der Gesetzgeber den Sozialleistungsträgern insbesondere eine sachgerechte Abwägung der wechselseitigen Interessen aufgegeben, also einerseits der Interessen der betroffenen Sozialleistungsträger an der Durchsetzung rückständiger Beitragsforderungen und andererseits der Interessen der Sozialleistungsempfänger an einem möglichst ungeschmälerten Bezug der ihnen gesetzlich zugesprochenen Sozialleistungen.

Bezeichnenderweise hat der Gesetzgeber den Sozialleistungsträger mit der Gesetzesbegründung vorgegeben, auch den "Zweck der Sozialleistung" (angemessen) zu berücksichtigen (BT-Drs. 7/868, S. 32). Sozialleistungsträger wie die Beklagte müssen daher bei der Ausübung von Ermessen darauf achten, dass einem angemessenen sozialen Schutz des Versicherten auch im vorliegenden Zusammenhang hinreichend Rechnung getragen wird. Dies korrespondiert mit ihrer in § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I ausdrücklich normierten Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass der (hier: Renten-)Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen und damit namentlich auch die durch langjährige Beitragszahlungen erarbeitete Altersrente "umfassend" erhält (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I).

Diesen gesetzgeberischen Wertentscheidungen haben die Sozialleistungsträger bei der Ausübung des ihnen durch § 51 Abs. 2 SGB I eingeräumten Ermessens vollinhaltlich Rechnung zu tragen und in ihre Abwägung der betroffenen Interessen einzustellen. Diese Interessen sind wechselseitig - und damit insbesondere auch auf Seiten des Beitragsschuldners - vollständig zu erfassen und sachgerecht zu gewichten.

Die vom Gesetzgeber geforderte sachgerechte Abwägung wird jedoch schon im Ausgangspunkt versäumt, wenn ohne Darlegung dies rechtfertigender besonderer aus dem konkreten Sachverhalt sich ergebender Umstände die gesetzlichen Höchstgrenzen einer Auf- bzw. Verrechnung über längere Zeiträume maximal ausgeschöpft werden. Damit unterbleibt - wie auch im vorliegenden Fall - eine angemessene Erfassung und Gewichtung der auf Seiten des Leistungsempfängers ebenfalls zu konstatierenden berechtigten Interessen.

Darüber hinaus muss eine sachgerechte Abwägung auch den insolvenzrechtlichen Wertentscheidungen des Gesetzgebers angemessen Rechnung tragen. Mit den insolvenzrechtlichen Vorgaben wollen der nationale und der europäische Gesetzgeber insbesondere in Fallgestaltung einer nicht grob verschuldeten Zahlungsunfähigkeit im Ergebnis eine sachgerechte zeitliche Befristung einer Heranziehung des Zahlungspflichtigen zur Schuldentilgung gewährleisten. Eine sachgerechte Umsetzung dieser gesetzgeberischen Wertentscheidungen bei der Ermessensausübung nach §§ 51, 52 SGB I hat zur Folge, dass mit zunehmendem Zeitablauf die Interessen des Beitragsschuldners an einer Verschonung von weiteren Einbehalten zur Schuldentilgung an Gewicht im Rahmen der Interessenabwägung gewinnen. Dies gilt in besonderem Maße, wenn die Schuldnerinteressen ohnehin schon angesichts eines geringen oder fehlenden Verschuldens an der Zahlungsunfähigkeit tendenziell höher zu gewichten sind.

Die insolvenzrechtlichen Möglichkeiten zu einer Restschuldbefreiung sind ohnehin auch als Ausdruck eines solidarischen Ausgleichs zu verstehen, weshalb etwa die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte maßgeblich auf zugrundeliegende "alltägliche Risiken" abstellt (BT-Drs. 17,11268, S. 13). Im heutigen Wirtschaftsleben sieht sich ein Großteil der Bevölkerung der Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit insbesondere für den Fall der meistens schicksalhaften Kumulation mehrerer Risiken ausgesetzt. Gerade auch vor diesem Hintergrund sieht sich der Gesetzgeber mit den insolvenzrechtlichen Vorgaben veranlasst, den Schuldner zwar angemessen, zugleich aber auch namentlich in zeitlicher Hinsicht nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Gerade ein Sozialleistungsträger sollte sich nicht dem vom Gesetzgeber befürworteten Ansatz einer solidarischen Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen verschließen können.

Soweit der nationale (BT-Drs. 17,11268, S. 13) und der europäische Gesetzgeber (vgl. insbesondere die eingehende Begründung in der Präambel zur Richtlinie (EU) 2019/1023 vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 - Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz -) mit den insolvenzrechtlichen Reformen den Bürgern auch mehr Mut zur Eingehung (natürlich nur angemessener) wirtschaftlicher Risiken und insbesondere zur Gründung selbständiger Unternehmen machen (die o.a. Gesetzesbegründung will ausdrücklich "Mut zum Aufbruch in die Selbständigkeit" bewirken) und damit die Wirtschaft fördern wollen, entspricht dieser Ansatz ohnehin auch den eigenen wohlverstandenen Interessen der Sozialleistungsträger. Auch vor diesem Hintergrund haben diese den gesetzgeberischen Zielvorgaben insbesondere auch bei der Ausübung von Ermessen in Fällen der vorliegenden Art angemessen Rechnung zu tragen. Eine Belebung der Wirtschaft pflegt regelmäßig mit steigenden Beitragseinnahmen der Sozialleistungsträger einherzugehen.

Bei Ausübung des durch §§ 51, 52 SGB I eingeräumten Ermessens ist mithin von Seiten der Sozialleistungsträger bezüglich der Durchsetzung von Forderungen, die in lange zurückliegenden Zeiträumen (im vorliegenden Fall mehr als zehn Jahre vor Erlass des streitbetroffenen Verrechnungsbescheides) einmal begründet worden sind, besonders sorgfältig zu prüfen, ob überhaupt noch eine Auf- bzw. Verrechnung angezeigt und inwieweit dabei auch eine Unterschreitung der bei sonstigen Forderungen zu beachtenden Pfändungsfreigrenzen ungeachtet des erheblichen Zeitablaufs noch angemessen und nicht mit unzumutbaren Härten verbunden ist. Damit wird zugleich dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen, welcher insbesondere verlangt, dass Eingriffszweck und Eingriffsintensität in einem angemessenen Verhältnis stehen müssen (vgl. etwa BVerfG, B.v. 12. Dezember 2006 - 1 BvR 2576/04 -, BVerfGE 117, 163, Rn. 60).

Der nationale und der europäische Gesetzgeber haben in den letzten Jahren mit wiederholten Reformen zum Insolvenzrecht zum Ausdruck gebracht, dass sie es unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen gerade nicht für angezeigt erachtet haben, einen Bürger für einmal eingegangene Verpflichtungen über Jahrzehnte hinweg uneingeschränkt bis zur Grenze seiner pfändbaren Einkünfte (oder gar bis zur Grenze der Unterschreitung des sozialhilferechtlichen notwendigen Bedarfs) haftbar zu machen.

Der Gesetzgeber geht vielmehr ausdrücklich davon aus, dass ein wirtschaftliches Scheitern für den Schuldner - unabhängig davon, ob er selbständig (und damit häufig auch Arbeitgeber) oder angestellt war - kein Stigma mehr sein soll, zumal eine Vielzahl der von einer Insolvenz Betroffenen als "Opfer moderner biographischer Risiken" in dem Sinne anzusehen sind, dass sie nur durch gewissermaßen alltägliche - letztlich von kaum einem Bürger von vornherein ganz zu vermeidende - Risiken wie Arbeitslosigkeit, gescheiterte Selbständigkeit, Krankheit oder Scheidung bzw. Trennung in die Überschuldung geraten. Die Möglichkeit einer "schnellen Entschuldung" wird vom Gesetzgeber für alle natürlichen Personen sowohl in sozialpolitischer als auch volkswirtschaftlicher Hinsicht für sinnvoll eingeschätzt (vgl. etwa die Begründung in BT-Drs. 17/11268 des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte, S. 13).

Dies gilt umso mehr, als diese insolvenzrechtlichen Zielvorgaben wie auch andere Schuldnerschutzvorschriften durchaus Elemente eines sozialen Schutzes aufweisen (BVerfG, B.v. 14. Januar 2004 - 1 BvL 8/03 - NJW 2004, 1233).

Im vorliegenden Fall stand der damals 75jährige Kläger bereits im Zeitpunkt der streitbetroffenen Verrechnungen seit mehr als zehn Jahren im Altersrentenbezug. Obwohl die Rentenleistungen von vornherein der Höhe nach sehr bescheiden waren, hatte die Beklagte bereits vor der streitbetroffenen weiteren Verrechnungsentscheidung über mehr als zehn Jahre hinweg bereits ganz erhebliche Teile der Rentenzahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 30.000 € zur Tilgung von Verbindlichkeiten des Klägers bei anderen Sozialleistungsträgern einbehalten. Dabei wird auch von Seiten der beteiligten Sozialleistungsträger gar nicht in Abrede gestellt, dass der Kläger Anfang 2008 aufgrund des finanziellen Ausfalls eines Großkunden seines damaligen Bauunternehmens ohne greifbares Verschulden und damit letztlich schicksalhaft in die Zahlungsunfähigkeit geraten war, aus der die entsprechenden Forderungen der Sozialleistungsträger resultieren.

Bei dieser Ausgangslage stellt es im vorliegenden Fall eine besondere und im Ergebnis unzumutbare weitere nachhaltige Härte dar, dass mit der zur Überprüfung gestellten Entscheidung eine Verrechnung von erheblichen Teilen der Altersrentenansprüche ungeachtet der bereits vorausgegangenen über viele Jahre hinweg fortgesetzten entsprechenden Verrechnungen weiter fortgeführt worden ist.

Mit diesen besonderen Umständen hat sich die Beklagte bei der Begründung ihrer Ermessensentscheidung nicht in einer inhaltlich nachvollziehbaren Weise auseinandergesetzt. Sie hat in den Ermessenserwägungen nicht einmal ausgewiesen, dass zuvor bereits über viele Jahre hinweg ganz erhebliche Teile der ohnehin bescheidenen Rentenzahlungen zur Tilgung schicksalhaft entstandener Zahlungsrückstände bei anderen Sozialleistungsträgern einbehalten worden waren.

Die Formulierung in dem für die Ermessensüberprüfung maßgeblichen Widerspruchsbescheid, wonach im vorliegenden Fall keine "besonderen Gründe" vorliegen würden, welche die Beklagte ausnahmsweise "zwingen" würden, von der Verrechnung abzusehen, bringt im Ergebnis den Willen der Beklagten zur Nichtausschöpfung des erläuterten gesetzlichen Ermessensspielraums zum Ausdruck. Die Beklagte hat im Sinne eines Ermessensfehlgebrauchs verkannt, dass gerade in Fallgestaltungen der vorliegenden Art der Gesetzgeber mit der erläuterten Einräumung von Ermessen Raum für eine ungekürzte oder jedenfalls für eine deutlich mehr als nur hälftige Auszahlung der Rentenbezüge eröffnen wollte.

Im Ergebnis weist der Sachverhalt insbesondere unter Berücksichtigung der bereits vorausgegangenen langjährigen Verrechnungen erheblicher Rentenzahlbeträge mit Forderungen anderer Sozialleistungsträger eine so außergewöhnliche Härte für den Kläger auf, dass das Ermessen der Beklagten bei Erlass des angefochtenen Verrechnungsbescheides im Ergebnis im Sinne eines gänzlichen Absehens von weiteren Verrechnungen mit Forderungen von Sozialleistungsträgern im Zusammenhang mit dem Insolvenzereignis von 2008 reduziert war und ist.

2. Bei der beschriebenen Ausgangslage ist nur ergänzend darauf hinzuweisen, dass die freiwillige Versicherung eines Unternehmers in der gesetzlichen Unfallversicherung kraft Natur der Sache bereits mit dem Verlust der zugrunde liegenden persönlichen Eigenschaft insbesondere in Form eines Verlustes der Unternehmereigenschaft nach endgültiger Unternehmenseinstellung endet (BeckOGK/Lilienfeld in Beck-Online-Großkommentar, Stand: 1.7.2017, SGB VII § 6 Rn. 14). Nach Aktenlage ist dieser Verlust spätestens Ende März 2008 (entsprechend auch dem vom Kläger in der rückwirkenden Gewerbeabmeldung benannten Datum) festzustellen, so dass schon im Ausgangspunkt keine Beitragsforderungen für eine solche freiwillige Versicherung auch noch für die Monate April bis August 2008 entstehen konnten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.