Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.01.2025, Az.: 2 LA 2/24

Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr nach Syrien wegen Verbreitung von Kritik über das Regime Assad in Chatgruppen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.01.2025
Aktenzeichen
2 LA 2/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2025, 10216
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2025:0124.2LA2.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 04.12.2023 - AZ: 3 A 1599/21

Fundstelle

  • DÖV 2025, 403

Amtlicher Leitsatz

Der Klärung von Tatsachen, die sich inzwischen verändert haben, kommt - wie der Auslegung ausgelaufenen Rechts - regelmäßig keine grundsätzliche, zukunftsgerichtete Bedeutung zu.

Tenor:

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren und Beiordnung von Rechtsanwalt B. aus B-Stadt wird abgelehnt.

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichterin der 3. Kammer - vom 4. Dezember 2023 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens betreffend die Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden nicht erstattet.

Gründe

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist unbegründet. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet aus den nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

II. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen des allein geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.

Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 AufenthG Nr. 58 = juris Rn. 5 zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; siehe auch GK-AsylG, Stand: Januar 2022, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Oktober 2021, § 78 AsylG Rn. 21 ff. m.w.N.; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 78 AsylG Rn. 11). Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der Rechts- bzw. Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht (GK-AsylG, Stand: Januar 2022, § 78 Rn. 591 ff.).

1. Gemessen an diesen Darlegungsanforderungen rechtfertigt die vom Kläger zunächst für grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,

"ob syrische Flüchtlinge - wie der Kläger - die über Social Media regelmäßig Kritik gegen das Regime Assad verbreiten, im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit asylrechtsrelevanter Verfolgung einhergehend mit ernsthafter Gefahr für Leib und Leben zu rechnen haben",

nicht die begehrte Zulassung der Berufung.

An einer grundsätzlichen Bedeutung fehlt es schon deshalb, weil die aufgeworfene Frage für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich war. Das Verwaltungsgericht hat den Vortrag des Klägers, er habe sich in Chatgruppen kritisch über das Regime Assad geäußert, bereits nicht für glaubhaft erachtet und dies detailliert begründet (vgl. UA S. 7 ff.). Dem ist der Kläger auch nicht substantiiert entgegen getreten. Die Grundsatzrüge steht im Übrigen auch nicht dafür zur Verfügung, diese gerichtliche Würdigung in Frage zu stellen.

Davon abgesehen legt der Kläger auch nicht dar, dass diese Frage eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung hat. Dies wird von ihm lediglich behauptet.

Schließlich hat sich die Situation in Syrien grundlegend geändert. Das Regime Assad, das der Kläger auf Social-Media-Kanälen kritisiert haben will, wurde im Dezember 2024 durch eine Rebellenoffensive gestürzt, die Herrschaft Assads ist beendet, die Regierungsgeschäfte hat zunächst das Bündnis Hai'at Tahrir asch-Scham übernommen. Die Frage, ob sich aus einer auf Social-Media-Kanälen geäußerten Kritik an dem Regime Assad eine Verfolgungsgefahr durch das Regime Assad ergeben könnte, wird sich daher in einem Berufungsverfahren nicht mehr stellen. Der Klärung von Tatsachen, die sich inzwischen verändert haben, kommt - wie der Auslegung ausgelaufenen Rechts - regelmäßig keine grundsätzliche, zukunftsgerichtete Bedeutung zu (vgl. Seibert, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 148 m.w.N.).

2. Auch die weiter vom Kläger aufgeworfene Frage,

"ob Entscheidungen des EuGH geeignet sein können, eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 VwVfG in Verbindung mit § 71 Asylgesetz darzustellen",

führt nicht auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

Es ist höchstrichterlich bereits geklärt, dass selbst eine Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage darstellt. Gerichtliche Entscheidungsfindung bleibt rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung. Sie ist nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv zu verändern (vgl. zuletzt BVerwG, Beschl. v. 12.11.2020 - 2 B 1.20, juris Rn. 8).

Von dem genannten Grundsatz mögen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, soweit sie nach § 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht besondere Bindungskraft genießen, nicht erfasst sein (vgl. Bergmann, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 71 AsylG, Rn. 25). Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hat eine solche verbindliche Außenwirkung jedenfalls nicht und kann daher nicht als Änderung der Rechtslage angesehen werden (BVerwG, Urt. v. 22.10.2009 - 1 C 26.08 -, juris Rn. 16; Urt. v. 22.10.2009 - 1 C 15.08 -, juris Rn. 21; Bergmann, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 71 AsylG, Rn. 25).

Zwar hat der Gerichtshof der Europäischen Union die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs als neue Erkenntnis im Sinne des Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/21/EU eingestuft (EuGH, Urt. v. 14.05.2020 - C-924/19 -, juris Rn. 194) mit der Folge, dass ein Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung abgelehnt werden könne. Allerdings hat der Gerichtshof dies auf den Fall beschränkt, dass das Urteil die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit Unionsrecht festgestellt hat, die auch für die dem Folgeantrag zugrunde liegende Erstentscheidung entscheidungserheblich war. Es muss sich mit anderen Worten die Unionsrechtswidrigkeit der Erstentscheidung unmittelbar aus dem EuGH-Urteil ergeben. Dies ist hier nicht der Fall:

Das EuGH-Urteil vom 19. November 2020 (C-238/19, juris) hat lediglich zur Auslegung des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (= § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) ausgeführt, dass eine Militärdienstverweigerung weder in einem bestimmten Verfahren formalisiert werden noch sich der Asylbewerber der Militärverwaltung zur Verfügung gestellt haben müsse, dass der Asylbewerber seinen künftigen militärischen Einsatzbereich unter bestimmten Voraussetzungen nicht kennen müsse und dass unter bestimmten Bedingungen eine starke Vermutung dafür spreche, dass eine Militärdienstverweigerung mit einem der Gründe des Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (= § 3b AsylG) in Zusammenhang stehe. Es handelt sich also lediglich um sehr punktuelle, überwiegend mit der bisherigen Auslegung der Richtlinie übereinstimmende Ausführungen, die weder für jedes Asylbegehren eines syrischen Asylbewerbers von Bedeutung sind noch im Falle einer Bedeutung das Ergebnis präjudizieren. Das gilt namentlich für die genannte "starke Vermutung". Sie ist von einer Vielzahl von Voraussetzungen abhängig (Vorliegen einer Militärdienstverweigerung, Vorliegen eines Konflikts, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der Richtlinie 2011/95/EU (= § 3 Abs. 2 AsylG) fällt, drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Militärdienstverweigerung). Selbst wenn die Vermutung eingreift, hängt ein Erfolg des Asylbegehrens von einer Prüfung der Plausibilität einer Verknüpfung von Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände ab (Rn. 61 des Urteils). Angesichts dessen trägt das Urteil nicht erheblich zu der Wahrscheinlichkeit bei, dass der Kläger als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen wäre. Es klärt lediglich in begrenztem Umfang die Auslegung der genannten Normen. Erst recht hat es nicht die Unionsrechtswidrigkeit einer hier entscheidungserheblichen Norm festgestellt (vgl. zum Vorstehenden bereits Senatsbeschl. v. 20.7.2023 - 2 LA 68/22 -, v.n.b.; OVG Bremen, Beschl. v. 6.8.2021 - 1 LA 294/21 -, juris Rn. 8 ff.; OVG NRW, Urt. v. 12.04.2021 - 14 A 818/19.A -, juris, Rn. 60 ff. m.w.N.).

Davon abgesehen legt der Kläger nicht dar, dass sich aus der von ihm zitierten Entscheidung des EuGH für seinen Fall eine Verfolgungsgefahr ergeben könnte. Der beschließende Senat hat bereits entschieden, dass eine unmittelbar drohende Einziehung zum Militär- bzw. Reservedienst für sich genommen auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 (C-238/19 -, juris) noch nicht den Tatbestand des Regelbeispiels des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG /Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU erfüllt (vgl. NdsOVG, Urt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 -, juris Rn. 32 ff., insbesondere Rn. 36):

"Nichts anderes ergibt sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 (- C-238/19 -, juris Rn. 26 ff.). Zwar kann danach in dem Fall, dass das Recht des Heimatstaates die Möglichkeit, den Militärdienst zu verweigern, nicht vorsieht und es dementsprechend kein Verfahren zu diesem Zweck gibt, von dem Kriegsdienstverweigerer nicht verlangt werden, seine Verweigerung in einem bestimmten verfahren zu formalisieren; die Verweigerung kann dementsprechend auch darin gesehen werden, dass der Betroffene aus seinem Heimatland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen. Damit ist aber lediglich klargestellt, dass die Erfüllung des Tatbestandes des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kein förmliches Verfahren voraussetzt, nicht jedoch, dass es überhaupt keiner Manifestation der Verweigerung bedarf; vielmehr bleibt dies auch nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zu prüfen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, juris Rn. 31). Im Übrigen sind die Ausführungen des Gerichtshofs ohne Aussagegehalt zu der im Rahmen der Prüfung einer möglichen Vorverfolgung relevanten Frage, in welchen Fällen bereits vor der Ausreise eine Verweigerung des Militärdienstes erkennbar war, so dass eine Strafverfolgung oder Bestrafung gerade deswegen vor der Ausreise überhaupt schon unmittelbar drohen konnte."

Auch hier legt der Kläger im Übrigen eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm aufgeworfenen Frage nicht dar, sondern behauptet wiederum lediglich, dass die Frage eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle betreffe.

Schließlich würde sich aufgrund des Sturzes des Regimes Assad in Syrien die Frage in einem durchzuführenden Berufungsverfahren nicht mehr stellen. Die Frage, ob bzw. unter welchen konkreten Umständen das Regime Assad Wehrdienstentzieher als Regimegegner betrachtet, ist mit seinem Sturz obsolet geworden.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG)

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).