Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 25.11.2024, Az.: 2 ORs 127/24
Anforderungen an die Begründung der Verfahrensrüge einer Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist; Dokumentation des Eingangs der vollständigen Urteilsgründe durch den Vermerk der Geschäftsstelle auf der Urteilsurschrift
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 25.11.2024
- Aktenzeichen
- 2 ORs 127/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 27872
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2024:1125.2ORS127.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Lüneburg - 11.12.2023
- LG Lüneburg - AZ: 39 NBs 15/24
Rechtsgrundlagen
- § 338 Nr. 7 StPO
- § 275 Abs. 1 S. 2 StPO
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 Abs. 1 S. 2 StPO ist in der Regel zulässig erhoben, wenn der Beschwerdeführer das Datum der Urteilsverkündung, die Zahl der Hauptverhandlungstage, den Fristablauf und den Eingang der schriftlichen Urteilsurkunde bei der Geschäftsstelle mitteilt.
- 2.
Solange die Akten noch in Papierform geführt werden, geschieht die von § 275 Abs. 1 S. 5 StPO verlangte Dokumentation des Eingangs der vollständigen Urteilsgründe üblicherweise durch den Vermerk der Geschäftsstelle auf der Urteilsurschrift; angesichts dessen bedarf es für eine den Anforderungen gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügende Verfahrensrüge der Verletzung der Urteilsabsetzungsfrist über die Benennung des Eingangsvermerks der Geschäftsstelle hinaus nur dann der Mitteilung eines aktenkundigen richterlichen Vermerks, wenn dieser sich zu dem Umstand verhält, dass das unterschriebene Urteil "auf den Weg zur Geschäftsstelle" verbracht wurde und insoweit einen vom Eingangsvermerk abweichenden, früheren Zeitpunkt benennt.
In der Strafsache
gegen 1.) S. M.,
geboren am ...,
z.Zt. JVA V., Abteilung H.,
- Verteidiger: Rechtsanwalt B., H. -
2.) P. M.,
geboren am ...,
z. Zt. JVA U., Abteilung L.,
- Verteidiger: Rechtsanwalt W., L. -
wegen bandenmäßigen Betruges
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Revision der Angeklagten gegen das Urteil der 9. kleinen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg vom 15. Juli 2024 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht XXX, den Richter am Oberlandesgericht XXX und den Richter am Landgericht XXX am 25. November 2024 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Lüneburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Lüneburg - Schöffengericht - hat die Angeklagten mit Urteil vom 11. Dezember 2023 wegen "gemeinschaftlicher Erpressung" zu Freiheitsstrafen von 3 Jahren und 2 Monaten (Angeklagter P. M.) sowie 3 Jahren und 6 Monaten (Angeklagte S. M.) verurteilt und Bargeld sowie zahlreiche weitere Gegenstände eingezogen.
Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft und unter Verwerfung der Berufungen der beiden Angeklagten hat die 9. kleine Strafkammer das Urteil des Amtsgerichts Lüneburg vom 12. Dezember 2023 teilweise aufgehoben und dahingehend neu gefasst, dass der Angeklagte P. M. wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten und die Angeklagte S. M. wegen bandenmäßigen und gewerbsmäßigen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt wird. Zudem hat die Kammer die Einziehung von 590 € Bargeld sowie weiterer Gegenstände angeordnet.
Hiergegen wenden sich die Angeklagten jeweils mit ihrer Revision. Sie erheben die allgemeine Sachrüge und beanstanden zudem jeweils eine Verletzung von § 275 Abs. 1 S. 2 StPO.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revisionen der Angeklagten gem. § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
II.
Die zulässigen Revisionen haben in der Sache zumindest vorläufigen Erfolg.
Sie dringen mit der Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO durch, so dass es des Eingehens auf die ebenfalls erhobene allgemeine Sachrüge nicht mehr bedarf.
1.) Die Verfahrensrügen sind jeweils in einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Weise erhoben worden.
Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 Abs. 1 S. 2 StPO in der Regel zulässig erhoben, wenn der Beschwerdeführer das Datum der Urteilsverkündung, die Zahl der Hauptverhandlungstage, den Fristablauf und den Eingang der schriftlichen Urteilsurkunde bei der Geschäftsstelle mitteilt (BGH, Beschluss vom 21. Oktober 1998 - 3 StR 473/98 -, juris).
Diesen Anforderungen wird das Vorbringen in den Revisionsbegründungsschriften jeweils gerecht, denn diese teilen mit, dass die Strafkammer das Urteil am 15. Juli 2024, dem 10. Hauptverhandlungstag, verkündet hat, so dass die Urteilabsetzungsfrist gem. § 275 Abs. 1 S. 2 StPO 7 Wochen betrug, am 2. September 2024 um 24 Uhr ablief und die schriftlichen Urteilsgründe ausweislich des mitgeteilten Eingangsvermerks der Geschäftsstelle gem. § 275 Abs. 1 S. 5 StPO erst am 16. September 2024 zur Geschäftsstelle gelangten.
Entgegen der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 8. November 2024 bedurfte es der Mitteilung des Vermerks des Vorsitzenden vom 16. September 2024 auf Bl. 375 Band IV Rückseite "Urteil unterschrieben zur Geschäftsstelle am 16. September 2024" nicht, um den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO zu entsprechen.
Insoweit weist die Generalstaatsanwaltschaft zwar im Ausgangspunkt zutreffend darauf hin, dass es zur Wahrung der Urteilsabsetzungsfrist genügt, wenn der zuletzt unterschreibende Richter das Urteil bis zum Ablauf des letzten Tages der Frist in die Akten einlegt und diese durch entsprechende Ablage in seinem Dienstzimmer auf den Weg zur Geschäftsstelle bringt (BGH, Urteil vom 5. Juli 1979 - 4 StR 272/79 -, BGHSt 29, 43-47; BGH, Urteil vom 12. Dezember 1991 - 4 StR 436/91 -, juris). Vor diesem Hintergrund muss der Beschwerdeführer für eine zulässige Verfahrensrüge der verspäteten Urteilsabsetzung auch vortragen, zu welchem Zeitpunkt das von allen Richtern unterschriebene Urteil auf den Weg zur Geschäftsstelle gebracht wurde, wenn sich dieser Umstand aus den Verfahrensakten ergibt (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2019 - 2 StR 413/18 -, juris).
Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Denn der von der Generalstaatsanwaltschaft in den Revisionsbegründungsschriften vermisste Vermerk vom 16. September 2024 enthält keinerlei Informationen dazu, dass der Vorsitzende Richter der Strafkammer das Urteil bereits vor dem aus dem Eingangsvermerk gem. § 275 Abs. 1 S. 5 StPO ersichtlichen Datum, dem 16. September 2024, auf den Weg zur Geschäftsstelle gebracht hätte. Vielmehr bestätigt der Inhalt des Vermerkes die in den Revisionsbegründungen aus dem Eingangsvermerk gezogene Schlussfolgerung, dass das Urteil erst am 16. September 2024 zu den Akten gebracht wurde. Vor diesem Hintergrund war eine Mitteilung des Vermerks entbehrlich. Solange die Akten noch in Papierform geführt werden, geschieht die von § 275 Abs. 1 S. 5 StPO verlangte Dokumentation des Eingangs der vollständigen Urteilsgründe üblicherweise durch den Vermerk der Geschäftsstelle auf der Urteilsurschrift (vgl. BGH, Beschluss vom 10.02.2021 - 6 StR 13/21, BeckRS 2021, 15678; BeckOK StPO/Peglau, 53. Ed. 1.10.2024, StPO § 275 Rn. 6). Angesichts dessen bedarf es für eine den Anforderungen gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügende Verfahrensrüge der Verletzung der Urteilsabsetzungsfrist über die Benennung des Eingangsvermerks der Geschäftsstelle hinaus nur dann der Mitteilung eines aktenkundigen richterlichen Vermerks, wenn dieser sich zu dem Umstand verhält, dass das unterschriebene Urteil "auf den Weg zur Geschäftsstelle" verbracht wurde und insoweit einen vom Eingangsvermerk abweichenden, früheren Zeitpunkt benennt.
2.) Die nach alledem zulässige Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Strafkammer ist offenkundig aufgrund einer fehlerhaften Fristberechnung davon ausgegangen, die schriftlichen Urteilsgründe erst am 16. September 2024 zu den Akten bringen zu müssen. Mit Blick auf den Inhalt des Vermerks vom selben Tage kann der Senat ausschließen, dass die unterschriebenen Urteilsgründe fristgerecht, d.h. spätestens am 2. September 2024 unterschrieben und auf den Weg zur Geschäftsstelle gebracht wurden. Der Einholung einer dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden bedurfte es mithin nicht. Nach alledem liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO vor, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.
3.) Eine Aufhebung der Haftbefehle gegen die Angeklagten gem. § 126 Abs. 3 StPO kam nicht in Betracht, weil sich nicht "ohne weiteres", d.h. ohne weitere Ermittlungen ergibt, dass die Voraussetzungen des § 120 Abs. 1 StPO vorliegen. Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine erneute Verurteilung der Angeklagten nicht mehr zu erwarten ist oder die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre. Denn die Urteilsaufhebung und Zurückverweisung aufgrund eines Verfahrensfehlers in einer Haftsache führt nicht ohne weiteres zur Annahme einer der Justiz anzulastenden rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, die eine Fortdauer der Untersuchungshaft wegen erheblicher Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen verbieten würde (Senat, Beschluss vom 23. April 2024, 2 Ws 83/24; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 327/02 -, juris; OLG München, Beschluss vom 4. April 2006 - 2 Ws 289/06 -, juris; OLG Köln, Beschluss vom 22.04.2005 - 2 Ws 151/05, BeckRS 2005, 151031; Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 120 Aufhebung des Haftbefehls, Rn. 32).
Die neu zur Entscheidung berufene Kammer wird angesichts der Tatsache, dass der auf das gesamte Revisionsverfahren entfallende Zeitraum als durch eine ausschließlich der Justiz zuzurechnende, vermeidbare Verfahrensverzögerung verursacht anzusehen ist und sich die Angeklagten inzwischen deutlich mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft befinden, weshalb an ihre Aufrechterhaltung besondere Anforderungen zu stellen sind (BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, juris), eine sehr zeitnahe erneute Durchführung der Hauptverhandlung vorzunehmen haben.