Finanzgericht Niedersachsen
v. 16.08.2022, Az.: 3 K 113/22
Amtshilfe; Auftragsverhältnis; Erlass; Familienkasse Inkasso; Gesamtzuständigkeit; Inkasso-Service; Kindergeld; Organleihe; Verwaltungshilfe; Verwaltungsorganisation; Verwaltungszuständigkeit; Zuständigkeit
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 16.08.2022
- Aktenzeichen
- 3 K 113/22
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2022, 59812
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs 1 S 1 Nr 11 FVG
Fundstelle
- GK 2022, 386-391
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Das Demokratieprinzig erfordert eine klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten und verbietet das Tätigwerden einer anderen Behörde (Agentur für Arbeit Recklinghausen mit seinem Inkasso-Personal) unter dem Briefkopf einer anderen Behörde (nämlich der materiell zuständigen Behörde). Gleichwohl in dieser Weise erlassene Bescheide stammen von der unzuständigen Behörde und sind aufzuheben.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die zuständige Behörde den Stundungsantrag der Klägerin zutreffend als unbegründet abgelehnt hat.
Die Klägerin hatte u.a. in den Jahren 2008/2009 Kindergeld für ihren Sohn erhalten. Dieser hatte seine Ausbildung abgebrochen. Die Klägerin, die mit ihrem Sohn in häuslicher Gemeinschaft lebte, will dies nicht mitbekommen haben. Der Abbruch der Ausbildung wurde der Familienkasse nicht mitgeteilt. Dadurch kam es zu einer Überzahlung von Kindergeld. Die Höhe der Rückforderung betrug zuletzt 2.266,00 € zzgl. Säumniszuschläge in Höhe von 337,50 € (Stand: 8. Oktober 2019). Die Klägerin beantragte Stundung der Rückforderung. Der Inkasso-Service der Familienkasse Recklinghausen lehnte die Stundung ab. Dagegen richtete sich nach erfolglosem Einspruch zunächst die Klage im Verfahren 15 K 17/19. Dieses Verfahren ruhte zunächst im Hinblick auf die Frage, ob der Inkasso-Service hat tätig werden dürfen. Nach dem Bekanntwerden der BFH-Entscheidungen zu dieser Frage (BFH-Urteile vom 25. Februar 2021 III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; ebenfalls vom 25. Februar 2021 III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100; vom 7. Juli 2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457) hob das Gericht im Verfahren 15 K 17/19 den Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung durch Urteil vom 14. September 2021 auf.
Die Agentur für Arbeit Recklinghausen – Familienkasse Inkasso Service forderte die Klägerin im Oktober 2021 (unmittelbar) auf, aktuelle Angaben zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zu machen. Unter dem 29. Dezember 2021 fragte die gleiche Behörde bei der Familienkasse Niedersachsen-Bremen nach, ob dort der ausgefüllte Fragebogen vorliege und bat darum, diesen umgehend an den Inkasso-Service weiterzuleiten.
Mit Bescheid vom 3. Februar 2022 wurde der Stundungsantrag der Klägerin erneut abgelehnt. Der Bescheid enthielt folgende Angaben zu der Behörde, die die Entscheidung getroffen hatte (Auszug):
[Briefkopf:] | |||
---|---|---|---|
Familienkasse | |||
Familienkasse – Inkasso | |||
Mein Zeichen: | ... | ||
Name: | Frau A | ||
E-Mail: | Familienkasse-Inkasso | ||
[Absender für Fensterumschlag:] | |||
Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse Niedersachsen-Bremen | |||
[Fußzeile der ersten Seite (Auszug):] | |||
Postanschrift | |||
[Rechtsbehelfsbelehrung (Auszug):] | |||
… Der Einspruch ist bei der im Briefkopf angegebenen Familienkasse – Rechtsangelegenheiten schriftlich einzureichen oder dort zur Niederschrift zu erklären oder an Familienkasse-Inkasso-Rechtsbehelf@arbeitsagentur.de elektronisch zu übermitteln. … | |||
[Unterschrift:] | |||
A |
Die Inkasso-Fachkraft A ist bei der Familienkasse Recklinghausen in der Inkasso-Abteilung beschäftigt und zu keinem Zeitpunkt an eine andere Behörde abgeordnet oder versetzt worden.
Mit Schriftsatz vom 21. April 2022 übersandte der jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin den angeforderten Fragebogen mit Nachweisen an die Familienkasse Niedersachsen-Bremen. Diese leitete die Unterlagen unverzüglich am 27. April 2022 auf dem Postweg an die Familienkasse Inkasso in Recklinghausen weiter. Auch weiteren Schriftverkehr leitete sie auf dem Postweg nach Recklinghausen weiter. Dort wurde (offenbar) die Einspruchsentscheidung unter dem Briefkopf „Familienkasse Niedersachsen-Bremen“ aber im Rubrum mit dem vorangestellten Geschäftszeichen des Inkasso-Services („68050000036235 - …“) gefertigt. In der übersandten Kindergeldakte der Familienkasse Niedersachsen-Bremen sind die Bescheide aus Recklinghausen nicht enthalten. Gegen diese Einspruchsentscheidung richtet sich die Klage.
Der Beklagte räumte inzwischen auf richterliche Nachfrage mit Schriftsatz vom 9. August 2022 ein, dass die im Streitfall tätig gewordenen Inkasso-Fachkräfte der Familienkasse Recklinghausen nicht an die Familienkasse Niedersachsen-Bremen abgeordnet worden seien. Wörtlich: „Es genüge vielmehr eine virtuelle Zu-/Abordnung unter Nutzung der technischen Möglichkeiten zur gesamtzuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen. Durch mittlerweile digital unterstützte Geschäftsprozesse wird sichergestellt, dass Verwaltungstätigkeiten unabhängig von der physischen Anwesenheit einzelner Mitarbeiter in einer bestimmten Liegenschaft ausgeübt werden.“ Beigefügt war die elektronische Kindergeldakte. Ein Ausdruck der Inkasso-Akte 680500 00036235 werde auf dem Postweg übersandt, da eine Übermittlung auf elektronischem Weg leider nicht möglich sei. Das Rubrum des Klageverfahrens sei wie folgt zu verstehen:
„gegen
Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit, vertreten durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit, vertreten durch deren Leiterin“
Die Klageerwiderung ist demgemäß von der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit erstellt und von dort dem Gericht unter Hinweis auf die Vertretung übermittelt worden.
Die Klägerin bestreitet weiterhin die Zuständigkeit der handelnden Behörde und verweist auf die dazu ergangene BFH-Rechtsprechung. Gehandelt hätten im Streitfall tatsächlich Bedienstete der Familienkasse Recklinghausen unter fremdem Briefkopf (Familienkasse Niedersachsen-Bremen). Dies sei nicht zulässig gewesen.
Im Übrigen seien hinreichende Gründe für eine Stundung des Rückforderungsbetrages vorgetragen worden.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2022 und die Einspruchsentscheidung vom 5. Mai 2022 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
und räumt ein, dass die Bescheide im Auftrag der Familienkasse Niedersachsen-Bremen von der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit bzw. der Familienkasse Inkasso in Recklinghausen stammten, auch wenn dies durch die Verwendung des Briefkopfes „Familienkasse Niedersachsen-Bremen“ nicht kenntlich gemacht worden sei. Die nur virtuelle Zu-/Abordnung der dortigen Inkasso-Fachkräfte in Recklinghausen zur Bearbeitung für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen sei zulässig gewesen.
Ein Anspruch auf Stundung habe schon deshalb nicht bestanden, da die Klägerin nicht stundungswürdig gewesen sei, denn sie habe ihre Mitwirkungspflichten verletzt, indem sie den Abbruch der Ausbildung durch ihren Sohn im Jahre 2008 nicht mitgeteilt habe. Sie sei auch nicht stundungsbedürftig, da sie voraussichtlich dauerhaft gar nicht leistungsfähig sei um die Forderung in absehbarer Frist zu tilgen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 3. Februar 2022 und die Einspruchsentscheidung vom 5. Mai 2022 zum Stundungsantrag der Klägerin sind (abermals) von der sachlich unzuständigen Behörde, nämlich der Agentur für Arbeit Recklinghausen – Familienkasse Inkasso, erlassen worden und sind daher als rechtswidrige Bescheide aufzuheben. Die Bescheide verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
1. Die Familienkasse Inkasso war – wie insbesondere auch der BFH mehrfach entschieden hat (BFH-Urteile vom 25. Februar 2021 III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; ebenfalls vom 25. Februar 2021 III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100; vom 7. Juli 2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457 und vom 7. April 2022 III R 33/20, BFH/NV 2022, 824) – nicht die sachlich zuständige Behörde.
a) Nach § 222 der Abgabenordnung (AO) können die Finanzbehörden zwar Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil stunden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Stundung bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst.
Der BFH hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens – insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen – bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse NRW Nord rechtswidrig ist (BFH-Urteile, aaO.). In diesen Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der BFH dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit (§§ 16 ff. AO) der Grundsatz der Gesamtzuständigkeit gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der Gesamtzuständigkeit für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus. Der BFH hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der Gesamtzuständigkeit, wonach für Entscheidungen des Festsetzungsverfahrens weiterhin die Wohnsitz-Familienkasse, für Entscheidungen des „Inkasso-Bereichs“ hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.
b) Im Streitfall hat ausschließlich die frühere „Familienkasse Inkasso-Service“, jetzt im Ablehnungsbescheid als „Familienkasse Inkasso“ benannt, den Stundungsantrag bearbeitet, diesen abgelehnt und durch sein Personal oder das Personal der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord den Einspruchsbescheid – wie vor der entgegenstehenden BFH-Rechtsprechung – bearbeitet. Die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord hat schriftsätzlich in der Klageerwiderung eingeräumt, dass die Sachbearbeiterin bei der Familienkasse Inkasso in Recklinghausen, Frau A, zu keinem Zeitpunkt an die Familienkasse Niedersachsen-Bremen abgeordnet oder versetzt worden war. Sie hat auch eingeräumt, „in Vertretung“ für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen den Einspruchsbescheid gefertigt zu haben und daher darauf hingewiesen, dass sie in diesem Verfahren im Passivrubrum als „Vertreterin“ der Familienkasse Niedersachsen-Bremen zu führen sei. Dies wird durch die Art der Aktenführung bestätigt. Zwar hat die Familienkasse Inkasso offenbar elektronisch Zugriff auf die Kindergeldakte und konnte diese deshalb dem Gericht für dieses Verfahren übersenden. Die „Inkasso-Akte“ wird zugleich nicht in gleicher Weise elektronisch geführt. Diese wird vielmehr zwar elektronisch und nicht als Papierakte aber nicht in einem kompatiblen System geführt. Deshalb konnte die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord dem Gericht auch nur eine Kopie der Papierakte übersenden. Dies bedeutet aber zugleich, dass die in Recklinghausen elektronisch geführte Inkasso-Akte für die Familienkasse Niedersachsen-Bremen möglicherweise gar nicht einsehbar oder erreichbar war. Jedenfalls ist der Bereich Inkasso nach wie vor kein integrativer Teil der Kindergeldakte. Die Bearbeitung in Recklinghausen geschah ohne Einflussmöglichkeit der nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG umfassend zuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen. Dies wird unterstrichen durch die in der KiG-Akte aktenkundigen zahlreichen Übersendungsschreiben der Familienkasse Niedersachsen-Bremen – quasi zuständigkeitshalber – an die Familienkasse Inkasso zu deren eigenem Aktenzeichen (6805000036235). Dies belegt die verwaltungsintern (fortbestehende) Zuständigkeit der Familienkasse Inkasso. Die Bundesagentur hat infolge der BFH-Rechtsprechung keine organisatorischen Änderungen veranlasst. Von der Familienkasse Inkasso wird lediglich zum Schein nach außen der Briefkopf „Familienkasse Niedersachsen-Bremen“ verwendet. Tatsächlich sind diese Entscheidungen weiterhin der Familienkasse Niedersachsen-Bremen trotz ihrer Gesamtzuständigkeit entzogen. Die Verwendung eines der Behörde nicht zustehenden Briefkopfes eines anderen Verwaltungsträgers begründet natürlich keine Zuständigkeit für diese Verwaltungsaufgabe.
Die Familienkasse Inkasso hat sich weiterhin die Zuständigkeit für den „Inkasso-Bereich“ nur angemaßt und als sachlich unzuständige Behörde die angefochtenen Bescheide ausgebracht.
c) Das Tätigwerden der Familienkasse Inkasso ist zugleich nicht als Amtshilfe oder nach der (unscharfen) Rechtsfigur der Organleihe zulässig gewesen.
Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Aus Sicht des Bürgers bedeutet rechtsstaatliche Verwaltungsorganisation ebenfalls zuallererst Klarheit der Kompetenzordnung; denn nur so wird die Verwaltung in ihren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für den einzelnen „greifbar“.
Eine hinreichend klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten ist vor allem im Hinblick auf das Demokratieprinzip erforderlich, das eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern fordert und auf diese Weise demokratische Verantwortlichkeit ermöglicht (vgl. BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (130); 77, 1 (40); 83, 60 (72 f.); 93, 37 (66 f.)). Demokratische Legitimation kann in einem föderal verfassten Staat grundsätzlich nur durch das Bundes- oder Landesvolk für seinen jeweiligen Bereich vermittelt werden (vgl. Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 1. Aufl. 2006, Bd. 1, § 6 Rn. 5). Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist zwar nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns entscheidend, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau (vgl. BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (66 f.)). Daran fehlt es aber, wenn die Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine klare Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen. Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann.
Der Verwaltungsträger, dem durch eine Kompetenznorm des Grundgesetzes Verwaltungsaufgaben zugewiesen worden sind, hat diese Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen. Der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung schließt zwar die Inanspruchnahme der „Hilfe“ – auch soweit sie sich nicht auf eine bloße Amtshilfe im Einzelfall beschränkt – nicht zuständiger Verwaltungsträger durch den zuständigen Verwaltungsträger nicht schlechthin aus, setzt ihr aber Grenzen: Von dem Gebot, die Aufgaben eigenverantwortlich wahrzunehmen, darf nur wegen eines besonderen sachlichen Grundes abgewichen werden. Daher kann die Heranziehung an sich unzuständiger Verwaltungseinrichtungen nur hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie in Betracht kommen (vgl. BVerfGE 63, 1 [BVerfG 12.01.1983 - 2 BvL 23/81] (41)) und ist an besondere Voraussetzungen gebunden (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. Dezember 2007 2 BvR 2433/04, BVerfGE 119, 331, Rn. 157 - 160).
Im Streitfall steht bereits nach der BFH-Rechtsprechung fest, dass eine sachliche Zuständigkeit der Familienkasse Inkasso ohne eine gesetzliche Regelung in § 5 FVG durch den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nicht getroffen werden durfte. Ebenso darf keine verschleierte oder faktische „Hilfe“ unter dem Behördennamen einer fremden Behörde erfolgen. Dies würde die klare Zuordnung der rechtsstaatlichen Verwaltungszuständigkeiten untergraben. Der Bürger hätte gar keinen Überblick mehr, wer ihm gegenüber tatsächlich tätig wird. Dafür fehlt der Behörde die Legitimation. Dies ist hier aber geschehen, da das Personal der Agentur für Arbeit Recklinghausen ohne diese Legitimation tätig geworden ist. Die Familienkasse Niedersachsen-Bremen wäre aber verpflichtet gewesen, auch diese Verwaltungsaufgabe (Inkasso) durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation zu erbringen. Tatsächlich handelte eine andere Behörde und die Familienkasse Niedersachsen-Bremen hatte nicht einmal Einfluss auf die Entscheidungen.
Auch wenn die zugrundeliegenden Dienstanweisungen der Bundesagentur für Arbeit dem Gericht nicht zugänglich gemacht worden sind, steht jedenfalls fest, dass eine derartige umfassende Verwaltungshilfe (Organleihe) ohne gesetzliche Grundlage und ohne Offenbarung der Organisationsentscheidungen dem Bürger gegenüber schlicht rechtswidrig ist. Der Bürger sieht sich einer Vielzahl von Verwaltungsträgern gegenüber, ohne erkennen zu können, wer für die Entscheidung zuständig ist/war und tatsächlich entschieden hat. Als Briefkopf wird in beiden Bescheiden die „Familienkasse Niedersachsen-Bremen“ verwendet. Im Ablehnungsbescheid erscheint zusätzlich die „Familienkasse Inkasso“ im Kopf mit ihrer Anschrift in Recklinghausen, das bekanntermaßen nicht in Niedersachsen belegen ist. Die Sachbearbeiterin ist ausschließlich bei der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord beschäftigt. Der Einspruchsbescheid scheint vordergründig von der „Familienkasse Niedersachsen-Bremen“ – so die Bezeichnung im Kopf des Bescheides – zu stammen. Tatsächlich stammt er aber insgeheim von der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord, die nunmehr auch den Prozess als Passivpartei zu führen beabsichtigt.
Entgegen der Rechtsansicht der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord erfüllt eine nur (temporäre und fallbezogene) virtuelle Zu-/Abordnung von Personalressourcen einer Behörde an eine andere Behörde unter Nutzung der technischen Möglichkeiten zu der eigentlich gesamtzuständigen Familienkasse Niedersachsen-Bremen nicht die Maßstäbe einer rechtsstaatlichen Verwaltungsorganisation. Zwar können mittlerweile durch digital unterstützte Geschäftsprozesse Verwaltungstätigkeiten unabhängig von der physischen Anwesenheit einzelner Mitarbeiter in einer bestimmten Liegenschaft oder Dienststelle ausgeübt werden. Diese technischen Möglichkeiten können aber das Erfordernis einer rechtsstaatlichen Organisation nicht ersetzen. Immer noch muss – in aller Regel – der zuständige Verwaltungsträger mit eigenem Personal tätig werden, auch wenn der Wohnsitz (Homeoffice) oder der Tätigkeitsort sich in einem größeren Umfeld befinden kann.
d) Zuletzt besteht im Rahmen des Verwaltungsrechts keine Befugnis einer Behörde, eine andere Behörde generell für ein Tätigkeitsfeld – wie etwa im Zivilrecht – „zu beauftragen“ und im Außenverhältnis für sie als „Vertreter“ tätig zu werden. Dies scheint die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord hier annehmen zu wollen, wenn sie in der Klageerwiderung angibt, als Vertreterin („vertreten durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord der Bundesagentur für Arbeit“) gehandelt zu haben. Eine gesetzliche Vertretungsbefugnis besteht indes nicht. Eine rechtsgeschäftliche Vertretung, die die Zuständigkeit nach der rechtsstaatlich definierten Verwaltungsorganisation des hier einschlägigen § 5 FVG untergraben würde, ist verfassungsrechtlich nicht legitimiert.
Auch eine evtl. durch die Bundesagentur für Arbeit behördenintern angeordnete Vertretung einer nachgeordneten Bundesbehörde durch eine andere nachgeordnete Bundesbehörde wäre nicht ausreichend, um die gesetzlichen Zuordnungen der Gesamtzuständigkeit (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG) zu verändern, und damit unwirksam.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
3. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassen. Klärungsbedürftig ist, ob die Familienkasse durch eine im Einzelnen nicht offengelegte „Vertretungsregelung“ zwischen den Familienkassen die Rechtsprechung des BFH zu § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) (BFH-Urteile vom 25. Februar 2021 III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; ebenfalls vom 25. Februar 2021 III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100; vom 7. Juli 2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457 und vom 7. April 2022 III R 33/20, BFH/NV 2022, 824) unterlaufen kann und Entscheidungen im Bereich „Inkasso“ weiterhin faktisch ausschließlich durch die Agentur für Arbeit Recklinghausen – Familienkasse Inkasso getroffen werden dürfen.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).