Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 20.08.2025, Az.: L 13 SB 31/24
Merkzeichen G; erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr; Adipositas permagna
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 20.08.2025
- Aktenzeichen
- L 13 SB 31/24
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2025, 21505
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2025:0820.13SB31.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 18.04.2024 - AZ: S 2 SB 49/21
Rechtsgrundlagen
- SGB IX § 152
- SGB IX § 228
- SGB IX § 229
Fundstelle
- NZS 2025, 758
Amtlicher Leitsatz
Zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens G, wenn zwar die zumutbare Wegstrecke auf unter 2 km abgesunken ist, dies aber im Wesentlichen allein auf ein massives Übergewicht zurückzuführen ist.
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 18. April 2024 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Stade, mit welchem er verurteilt worden ist, beim Kläger ab dem 31. August 2022 das Merkzeichen G festzustellen.
Der Grad der Behinderung (GdB) des 1955 geborenen, erheblich adipösen, seinerzeit im Bundesland H. wohnhaften Klägers war im Jahr 2014 mit insgesamt 40 aufgrund einer depressiven Verstimmung mit Somatisierungsstörung mit einem Einzel-GdB von 30 sowie eines Schlafapnoesyndroms bei Adipositas mit einem Einzel-GdB von 20 festgestellt worden. Im Jahr 2018 erfolgte der Umzug des Klägers nach I.. Hier stellte er im Januar 2020 einen Neufeststellungsantrag, der zur Feststellung des GdB mit 50 gemäß Bescheid des Beklagten vom 25. Mai 2020 und folglich der Schwerbehinderteneigenschaft führte. Der Ärztliche Dienst des Beklagten nahm nach Durchführung medizinischer Ermittlungen nunmehr drei weitere Einzel-GdB von 20 an, nämlich aufgrund von erstens "Herzkreislaufschaden, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörung", zweitens "Restbeschwerden nach Prostataoperation mit Harninkontinenz" und drittens einer Kniegelenksarthrose rechts.
Im Juni 2020 stellte der Kläger einen weiteren Neufeststellungsantrag und beantragte nunmehr insbesondere aufgrund seiner Kniebeschwerden die Feststellung des Merkzeichens G. Er legte den Bericht über eine Magnetresonanztomographie (MRT) des rechten Kniegelenks vor, durchgeführt von Dr. J. am 14. November 2019. Auf Anforderung des Beklagten erstellte der Orthopäde K. unter dem 20. Juli 2020 einen Befundbericht. Der Beklagte lehnte den Antrag ab, das nachfolgende Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Am 23. November 2020 stellte der Kläger den Neufeststellungsantrag, der den Ausgangspunkt des hier anhängigen Rechtsstreits darstellt, und beantragte erneut die Feststellung des Merkzeichens G. Der Beklagte holte nochmals einen Befundbericht des Orthopäden K. ein, erstellt unter dem 10. Januar 2021. Er teilte mit, nach anamnestischen Angaben des Klägers vom 19. November 2020 könne dieser nur noch ca. 20 Meter ohne Gehhilfen laufen, mit diesen ca. 50 Meter. Der Kläger stellte sich am 7. Dezember 2020 zudem in der Sprechstunde des L. -Klinikums M. vor, wo eine klinisch und radiologisch fortgeschrittene Gonarthrose rechts bestätigt wurde. Die Durchführung einer Operation wurde besprochen, zunächst sollte aber die damalige Pandemiesituation abgewartet werden. Zudem bestätigte die Psychiaterin Dr. N. unter dem 7. Januar 2021 das Vorliegen einer schweren depressiven Erkrankung. Der Ärztliche Dienst des Beklagten bewertete die Kniegelenksarthrose rechts nunmehr mit einem Einzel-GdB von 30, der Gesamt-GdB wurde dementsprechend gemäß Bescheid vom 5. Februar 2021 auf 60 angehoben. Zugleich wurde festgestellt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des beantragten Merkzeichens G lägen nicht vor. Den nachfolgenden Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2021 zurück.
Der Kläger hat am 3. März 2021 Klage erhoben. Er hat sich auf bestehende Funktionsbehinderungen der Hüftgelenke sowie der Wirbelsäule mit einer Spinalkanalstenose sowie der Kniegelenke berufen, wo eine paarige Funktionsbeeinträchtigung bestehe, die besonders zu berücksichtigen sei. Die Adipositas per magna habe sich nicht nur nachteilig auf das rechte Kniegelenk mit einer Innenmeniskusläsion, sondern auch nachteilig auch auf das linke Kniegelenk ausgewirkt.
Daraufhin hat das Sozialgericht (SG) Stade Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Orthopäden Dr. O., das dieser unter dem 10. Dezember 2021 erstattet hat. Der bei einer Körpergröße von 172 cm zu dieser Zeit 137 kg wiegende Kläger hat dort vorgebracht, im Vordergrund stünden die Knieschmerzen und zur Entlastung benutze er außerhalb der Wohnung eine in der rechten Hand geführte Gehstütze oder einen Rollator. Damit könne er 200 bis 300 Meter gehen, müsse sich aber bereits nach 100 Metern hinsetzen. Gleichzeitig bestünden Lendenkreuzschmerzen, in das rechte Bein bis zur Wade ausstrahlend. Der Sachverständige hat nach Untersuchung des Klägers ausgeführt, im Vordergrund stehe beim Kläger das massive Übergewicht. Dies störe die Funktion des gesamten Bewegungsapparates, da dieser für eine derartige Belastung nicht ausgelegt sei. Insoweit ergäben sich allgemeine Funktionsstörungen im Sinne einer Schwergängigkeit des Bewegungsapparates, ohne dass sich an den Gelenken einzelne eingeschränkte Beweglichkeiten dokumentieren ließen. Hinzu komme eine Atemnot. Der Verschleiß des rechten Kniegelenkes sei bei unwesentlicher Bewegungseinschränkung und fehlenden anhaltenden Reizerscheinungen mit einem GdB von 30 zu hoch bewertet, hier sei ein GdB von 20 als maximal anzusehen. Auch eine Spinalkanalstenose liege nicht vor. Die Rückenschmerzen des Klägers seien die Folge der Überbelastung der Wirbelsäule. Auf das Gehvermögen wirkten sich der rechtsseitige Kniegelenksverschleiß und die Atemnot, auch die Belastung der Wirbelsäule, aus. Der zusammenfassende GdB hierzu wäre mit 30, maximal 40, einzuschätzen. Eine "ortsübliche Wegstrecke" von etwa 2 km, die in einer halben Stunde bewältigt wird, könne der Kläger aufgrund seines Übergewichts nicht leisten. Er habe indes keine sich auf das Gehvermögen auswirkenden Behinderungen in einem Ausmaß, wonach diese zusammengenommen einen GdB von wenigstens 50 bedingen würden.
Anschließend hat der Orthopäde Dr. P. in Anwendung des § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf entsprechenden Antrag des Klägers unter dem 12. September 2022 ein weiteres Sachverständigengutachten erstattet. Nach Untersuchung des Klägers hat er ein insgesamt kleinschrittiges Gangbild mit deutlichem Abstützen am Rollator dargelegt. An Funktionsbeeinträchtigungen bestünden eine deutlich herabgesetzte Belastbarkeit mit erheblicher Einschränkung der Gehstrecke und eine allgemeine Schwergängigkeit des Bewegungsapparates. Aufgrund der bestehenden Beschwerden sei das dauerhafte Tragen einer Kniegelenksorthese rechts zur Schmerzreduktion erforderlich. Das Gehvermögen des Klägers sei deutlich reduziert. Er sei auf den Gebrauch einer Unterarmgehstütze bzw. für längere Strecken eines Rollators angewiesen. Übergewicht und Herzschwäche sowie die Schmerzen vor allem im rechten Kniegelenk und der unteren Lendenwirbelsäule (LWS) bedingten eine deutliche Reduktion der Gehstrecke und Belastbarkeit. Die Voraussetzungen des Merkzeichens G würden aus seiner Sicht eindeutig erfüllt, allerdings sei der GdB für die Kniegelenksarthrose mit zuletzt 30 bereits im oberen Bereich der Ermessensspanne angesetzt worden und auch unter Berücksichtigung der Beeinträchtigung der LWS, der Hüftgelenke sowie der Füße werde kein Teil-GdB von mindestens 50 erreicht.
Nachfolgend hat das SG Stade einen weiteren Arztbericht des Orthopäden Dr. K. vom 16. Mai 2023 eingeholt, der eine Schmerzhaftigkeit und Limitierung beim Gehen erneut bestätigt hat, ebenso eine Verschlechterung im gesamten Zeitablauf.
Mit Urteil vom 18. April 2024 hat das SG Stade den Bescheid vom 5. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2021 teilweise aufgehoben und den Beklagten verurteilt, beim Kläger ab dem 31. August 2022 (Tag der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. P.) das Merkzeichen G festzustellen. Das SG ist hierbei den Ausführungen des Sachverständigen Dr. P. in seinem Gutachten vom 12. September 2022 gefolgt, nach denen das Gehvermögen des Klägers multifaktoriell eingeschränkt sei und die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G erfüllt seien, wobei sich auch die Adipositas unstrittig auf das Gehvermögen des Klägers auswirke.
Gegen das ihm am 24. April 2024 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 26. April 2024 Berufung eingelegt und hat auf eine Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes vom 25. April 2024 -Q. - verwiesen. Es liege eine Adipositas per magna mit weitgehend konstantem BMI um 47 vor, zudem eine rechtsbetonte Funktionseinschränkung der Kniegelenke, wobei einhellig bezüglich der unteren Extremitäten ein maximaler GdB von 30 (eher 20) als formal zutreffend angesehen werde. Objektive Belege für eine Lungenfunktionseinschränkung bestünden nicht, eine letzte kardiologische Befunderhebung sei im Jahr 2020 unauffällig verlaufen. Insofern bedeute das Urteil nach Sachlage faktisch, dass weitgehend allein durch die vorliegende Adipositas eine Berechtigung des Merkzeichens G begründet werde, während plausible Begleit- und Folgeschäden in weitester Auslegung allenfalls einen schwachen GdB von 30 rechtfertigen würden. Eine Erhöhung eines solchen GdB sei bei gravierendem Übergewicht zwar möglich, allerdings erschließe sich das Merkzeichen G angesichts der objektiv geringen kardialen und orthopädischen Beeinträchtigungen hier nicht. Die Adipositas allein bedinge keinen GdB, die durch sie ausgelösten Funktionsstörungen seien allerdings bei der Beurteilung des GdB und der Feststellung von Merkzeichen zu berücksichtigen. Die objektiv belegten Funktionsstörungen begründeten im vorliegenden Fall nicht die Anerkennung des Merkzeichens G.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Stade vom 18. April 2024 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des SG Stade vom 18. April 2024 sowie das Sachverständigengutachten des Dr. P. vom 12. September 2022 für zutreffend.
Der Senat hat einen weiteren Befundbericht des Orthopäden Dr. K. vom 9. August 2024 eingeholt, der in Ergänzung zu seinem Bericht vom 16. Mai 2023 mitgeteilt hat, es bestehe seither keine Befundveränderung und eine Verbesserung des Gesundheitszustandes sei nicht zu erwarten.
Unter dem 18. Februar 2025 hat der Hausarzt R. einen weiteren Befundbericht erstattet. Er ist insbesondere gefragt worden, ob sich Gesundheitsstörungen des Klägers, die Einfluss auf dessen Gehvermögen haben könnten, seit Jahresbeginn 2022 verändert haben oder hinzugetreten sind, und ob der Kläger auf ständige Benutzung von Hilfsmitteln angewiesen ist. Laut seinem Bericht leidet der Kläger unter anhaltenden Schmerzen, die aus der Leiste in den Oberschenkel ausstrahlen. Es bestünden zusätzlich Rückenschmerzen, die auch in den Oberschenkel und in den Hoden ausstrahlten. Verschlechtert habe sich in den letzten Jahren die kardiale Belastbarkeit, diese bereite mittlerweile schon bei kleinsten Belastungen des Alltags Probleme. In seine Praxis komme der Kläger mit einer, manchmal auch mit zwei Gehhilfen. Den Rollator nutze er zu Hause, er komme schlecht mit dem Ein-/Ausladen und dem Verstauen im PKW zurecht. Empfohlenes Bewegungstraining könne er aufgrund der kardialen Einschränkungen nur zum Teil umsetzen. Der Hausarzt R. hat weitere Befundberichte von Fachärzten beigefügt. Eine kardiologische Untersuchung hat im Sommer 2022 im Wesentlichen unauffällige Befunde ergeben. Am 16. August 2024 hat sich der Kläger in der Schmerzambulanz des L. Klinikums S. in T. - Dr. U. - erstvorgestellt. Er habe über Schmerzen im Übergangsbereich zwischen Brust- und Lendenwirbelsäule geklagt, diese seien in den letzten sechs Monaten deutlich stärker geworden und bestünden seit ca. drei bis vier Jahren, insbesondere beim Gehen. Die Bewegungsmaße haben im Wesentlichen Normalwerte aufgewiesen. Es handle sich um eine chronifizierte "bio-psycho-soziale" Schmerzerkrankung.
Der Kläger erlebe die Schmerzen nur unter bestimmten Zuständen, wie beim Gehen und nachts beim Umdrehen. Eine Wiedervorstellung sei für Oktober 2024 vereinbart worden.
Auf Anforderung des Senats hat der Schmerztherapeut Dr. U. am 31. März 2025 seine weiteren Befunde mitgeteilt. Der Kläger sei am 18. Oktober 2024 nochmals erschienen und habe "deutlichst" geringere Beschwerden geäußert, er mache intensiv Physiotherapie, auch häusliche Übungen, und sei "auf dem richtigen Weg". Er, der Behandler, habe dem Kläger eine Gewichtsreduktion ans Herz gelegt. Ein zweites vom Kläger beschriebenes Schmerzproblem - er habe ein bis zwei Stunden nach dem Geschlechtsverkehr Schmerzen, welche nach der Beschreibung dem Ausbreitungsgebiet des Nervus genitofemoralis entsprächen - solle der Kläger nochmal neurologisch abklären lassen.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten -Q. - hat in einer Stellungnahme vom 28. Oktober 2024 seine Auffassung beibehalten und seine Einschätzung unter dem 2. Juni 2025 - Ossadnik-Freger - nochmals ergänzt, ohne von seiner bisherigen Beurteilung abzuweichen.
Unter dem 6. Juni 2025 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, die gesundheitliche Situation des Klägers habe sich erheblich verschlechtert, ohne dies im Schriftsatz oder auf erfolgte Nachfrage in der mündlichen Verhandlung näher zu konkretisieren.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Feststellung des Merkzeichens G. Das anderslautende Urteil des SG Stade ist aufzuheben.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G sind §§ 228 Abs. 1 S. 1, 229 Abs. 1 S 1 i. V. m. § 152 Abs. 1 und 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG, BGBl. I 2016, 3234 ff.). Gemäß § 228 Abs. 1 S. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr i. S. des § 230 Abs. 1 SGB IX. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 152 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 229 Abs. 1 S 1 SGB IX n. F. ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Maßstäbe für die Bestimmung des Personenkreises schwerbehinderter Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr enthält die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene und zwischenzeitlich mehrfach geänderte Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Die zum 15. Januar 2015 in Kraft getretene Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX (jetzt: § 241 Abs. 5 SGB IX) sieht ausdrücklich vor, dass bis zum Inkrafttreten einer eigenständigen Rechtsverordnung für das Schwerbehindertenrecht aufgrund von § 70 Abs. 2 SGB IX (jetzt: § 153 Abs. 2 SGB IX), in der u. a. die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen aufgestellt werden sollen, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Damit hat der Gesetzgeber u. a. die Anwendung der Regelungen angeordnet, die in Teil D Nr. 1 der als Anlage zu § 2 VersMedV erlassenen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) vorgesehen sind. Die darin enthaltenen Konkretisierungen sind auch deshalb verbindlich, weil die VMG antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Rechtsnormen anzuwenden sind (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl. Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R - Rn. 12 m. w. N.).
Gemäß den in den VMG niedergelegten Grundsätzen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G (Teil D Nr. 1 b) ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d. h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird. Nach Teil D Nr. 1 d VMG sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z. B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen.
Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat über die genannten Regelbeispiele hinausgehend auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R - Rn. 19).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die Entscheidung des Beklagten entgegen der im angefochtenen Urteil des SG Stade geäußerten Auffassung nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat vielmehr zu Recht die Feststellung des Merkzeichens G abgelehnt.
Keine der in Teil D Nr. 1 VMG aufgeführten Fallgruppen ist beim Kläger gegeben. Der Kläger gehört nicht zum Kreis der hilflosen oder gehörlosen behinderten Menschen, welche stets einen Anspruch auf unentgeltliche Beförderung haben (vgl. Teil D Nr. 1 a VMG). Auch leidet er nicht an den in den VMG unter Abschnitt D Nr. 1 d) bis f) enthaltenen Regelbeispielen genannten internistischen Funktionseinschränkungen, hirnorganischen Anfällen bzw. an Störungen der Orientierungsfähigkeit infolge extremer Seh- oder Hörbehinderung bzw. geistiger Behinderung in einer Ausprägung, welche die Feststellung des Merkzeichens G rechtfertigen würde.
Auch liegen aufgrund der medizinischen Erkenntnisse keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, der Kläger wäre gehindert, infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen (vgl. Teil D Nr. 1 b, d VMG).
Hierfür sind nach Teil D Nr. 1 d VMG auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der LWS erforderlich, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen oder die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. die Versteifung eines Hüft-, Knie- oder Fußgelenks, ggf. in ungünstiger Stellung.
Zwar handelt sich hierbei nicht um eine abschließende Aufzählung des anspruchsberechtigten Personenkreises, sondern lediglich um Regelbeispiele ("Regelfälle", so BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R - juris Rn. 12), die für andere behinderte Menschen als Vergleichsmaßstab dienen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Dezember 2008 - L 11 SB 193/08 - juris Rn. 29). Aber das Vorliegen eines hiermit vergleichbaren Sachverhalts muss ggf. positiv mit dem hinreichenden Überzeugungsgrad festgestellt werden, um die Berechtigung des Merkzeichens G im Einzelfall jenseits des Anwendungsbereichs der Regelbeispiele festzustellen.
Der Senat folgt hierbei den Feststellungen im orthopädischen Sachverständigengutachten des Dr. O. vom 10. Dezember 2021. Demnach steht unter Berücksichtigung der weiteren Sachverhaltsermittlungen zur Überzeugung des Senats fest, dass die Gehstrecke des Klägers aufgrund erheblicher Adipositas sowie Knie- und Kreuzschmerzen bei Benutzung einer Gehstütze oder eines Rollators stark eingeschränkt ist. Der Sachverständige hat allerdings überzeugend ausgeführt, der Grund hierfür sei im Wesentlichen das massive Übergewicht des Klägers, das die Funktion des gesamten Bewegungsapparates störe, der für eine derartige Belastung nicht ausgelegt und deswegen schwergängig sei. An den Gelenken ließen sich einzelne eingeschränkte Beweglichkeiten erheblicher Ausprägung nicht dokumentieren und auch eine Spinalkanalstenose liege nicht vor.
Die Schwierigkeiten und Schmerzen beruhen demzufolge auf gewichtsbedingter Überlastung, die zwar in der weiteren Folge zu Behinderungen führen kann, aber nicht bereits selbst mit diesen gleichzusetzen ist. Dies ergibt sich aus Teil B Nr. 15.3 VMG. Die Adipositas selbst bedingt demnach keinen GdB. Nur Folge- und Begleitschäden insbesondere am kardiopulmonalen System oder am Stütz- und Bewegungsapparat können demnach die Annahme eines GdB begründen. Für die Feststellung des Merkzeichens G aufgrund einer Einschränkung der Wegstrecke gilt Entsprechendes zwar nach dem Wortlaut der in Teil D Nr. 1 d VMG genannten Kriterien, jedoch ist die Adipositas hier als Faktor mit Bezug zu einer Behinderung zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R - juris Rn. 14).
Insoweit ist der Senat aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. O. davon überzeugt, dass die Ursache des Umstands, dass der Kläger eine "ortsübliche Wegstrecke" von etwa 2 km, die in einer halben Stunde bewältigt wird, aktuell nicht leisten kann, im Wesentlichen allein das Übergewicht des Klägers ist. Demgegenüber bestehen sich auf das Gehvermögen in nennenswertem Umfang auswirkende Funktionseinschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparats nicht. Der Sachverständige Dr. P. hat diese Zusammenhänge in seinem Gutachten vom 12. September 2022 ebenfalls bestätigt, auch wenn er unter Einschluss eines metabolischen Syndroms mit Übergewicht zu einer anderen rechtlichen Schlussfolgerung gelangt ist. Auch die nachfolgenden Befundberichte des Orthopäden Dr. K. vom 16. Mai 2023 und vom 9. August 2024 sowie der Bericht des Hausarztes R. vom 18. Februar 2025 nebst weiteren Anlagen und der Bericht des Schmerztherapeuten Dr. U. vom 31. März 2025 stehen hiermit in Übereinstimmung.
Der Begründung im Gerichtsbescheid des SG Stade vom 18. April 2024 folgt der Senat demzufolge im dort gefundenen Ergebnis nicht. Zwar gehört nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R - juris Rn. 14) erhebliches Übergewicht zu den Faktoren, die einen Bezug zu einer Behinderung haben und daher bei der Beurteilung des Gehvermögens zu berücksichtigen sind, und zwar konkret die funktionellen Auswirkungen einer Adipositas per magna. Soweit diese zu einer Einbuße der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, kommt die Zuerkennung des Merkzeichens G bei einem stark übergewichtigen Kläger in Betracht. Allerdings kann dies stets nur im Einzelfall beurteilt werden (BSG, Beschluss vom 30. April 2019 - B 9 SB 76/18 B - juris Rn. 10). Dies hat Dr. O. mit dem vorstehend wiedergegebenen Ergebnis getan, dass im Einzelfall des Klägers die Berechtigung zur Feststellung des Merkzeichens nicht besteht. Die Einzelfallprüfung hat demnach hier ein überzeugendes negatives Ergebnis insbesondere aufgrund des Umstandes, dass die Funktionalität der Gelenke des Klägers als solche nicht beeinträchtigt ist. Der Sachverständige Dr. O. hat insoweit ausdrücklich ausgeführt, dass sich an den Gelenken sowie der Wirbelsäule des Klägers einzelne, jedenfalls mehr als unwesentlich eingeschränkte Beweglichkeiten nicht dokumentieren ließen und bestehende Schmerzen allein auf eine gewichtsbedingte Überbelastung zurückzuführen seien.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Der Senat erachtet die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob die mangelnde Fähigkeit eines schwerbehinderten Menschen, eine "ortsübliche Wegstrecke" von etwa 2 km in angemessener Zeit zu bewältigen, auch dann zur Berechtigung des Merkzeichens G führt, wenn der Grund hierfür im Wesentlichen allein ein übergewichtiger Körperzustand des schwerbehinderten Menschen ist und weitere sich auf das Gehvermögen auswirkende Behinderungen der grundsätzlichen körperlichen Funktionalität, insbesondere solche des Stütz- und Bewegungsapparats sowie aus dem internistischen Spektrum, nicht in nennenswertem Ausmaß feststellbar sind.