Vergabekammer Lüneburg
Beschl. v. 02.10.2024, Az.: VgK-21/2024

Zuschlagserteilung auf das wirtschaftlichste Angebot i.R.e. Rahmenvertrags über die Bereitstellung eines zentralen georedundanten SIP-Trunks

Bibliographie

Gericht
VK Lüneburg
Datum
02.10.2024
Aktenzeichen
VgK-21/2024
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 32395
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

  1. 1.

    Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt ist. Der Antragsgegner wird verpflichtet, das Vergabeverfahren in den Stand vor Aufforderung zur finalen Angebotsabgabe (BAFO) zurückzuversetzen und dabei die aus den Gründen ersichtliche Auffassung der Vergabekammer zu beachten.

  2. 2.

    Die Kosten werden auf xxxxxx € festgesetzt.

  3. 3.

    Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen. Der Antragsgegner ist jedoch von der Entrichtung der Kosten befreit.

  4. 4.

    Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten war für die Antragstellerin notwendig.

Gründe

I.

1

Der Antragsgegner hat mit EU-Bekanntmachung vom xxxxxx.2024 unter der Bezeichnung "xxxxxx" einen Rahmenvertrag über die Bereitstellung eines zentralen georedundanten SIP-Trunks und die Bereitstellung von dezentralen Sprach- und Internetzugängen sowie die darüber geführten Telefonverbindungen für Dienststellen und Telearbeiter und weitere Nutzungsberechtigte im Verhandlungsverfahren ausgeschrieben.

2

Nach Ziffer II.2.7) der Bekanntmachung beträgt die Laufzeit 84 Monate. Nach Ziffer 11.2.10) sind Varianten und Alternativangebote nicht zulässig.

3

Nach Ziffer 31.1. des Rahmenvertrages gilt zudem für die Laufzeit:

4

Dieser Vertrag tritt mit Zuschlagserteilung in Kraft und hat eine Laufzeit von 7 Jahren. Die Dauer von sieben Jahren ergibt sich aus der avisierten Planungs- und Migrationsphase vom Bestandsprovider auf den Auftragnehmer von zwei Jahren sowie der regulären Betriebslaufzeit von fünf Jahren.

5

Der derzeit noch laufende Bestandsvertrag wurde für xxxxxx durch xxxxxx und der xxxxxx, geschlossen. Mit Schreiben vom 05.06.2020 informiert die xxxxxx den Antragsgegner über die Gründung der xxxxxx und über die Absicht, mit Wirkung zum 01.07.2020 alle bestehenden Verträge zwischen dem Antragsgegner und der xxxxxx umwandlungsrechtlich auf die xxxxxx zu übertragen. Eine Reaktion oder eine Zustimmung des Antragsgegners erfolgte nicht.

6

Nach der Leistungsbeschreibung (Datei: xxxxxx) wurde der Projektverlauf wie folgt dargestellt:

vk_lu_neburg_20241002_vgk212024_beschluss_as1
7

Gemäß Ziffer 11.2.5) der Bekanntmachung ist der Preis nicht das einzige Zuschlagkriterium. Alle Kriterien sind nur in den Beschaffungsunterlagen aufgeführt.

8

Nach Ziffer 2.23 der Unterlagen zum Teilnahmewettbewerb (Datei: xxxxxx) gilt, dass mit Ausnahme der Mindestbedingungen grundsätzlich das gesamte Angebot verhandelbar ist. Den besten drei Bietern, nach Auswertung des Erstangebots, wird die Möglichkeit gegeben, an den Verhandlungsrunden teilzunehmen.

9

Nach Ziffer 1.4 der Vergabeunterlagen (Datei: xxxxxx) wird das Verhandlungsverfahren nach der Aufforderung zur verbindlichen Erstangebotsabgabe wie folgt strukturiert:

10

1.4.1 Erste Phase

11

Mit der Aufforderung zur Abgabe des Erstangebots erhält der Bieter die Gelegenheit, für den ausgeschriebenen Beschaffungsgegenstand ein indikatives (unverbindliches) Angebot einzureichen. Dabei hat der Bieter die Möglichkeit, mit seinem Erstangebot Verhandlungsvorschläge (Änderungs-/Ergänzungswünsche, Verbesserungs-/Optimierungsvorschläge, etc.) zu den Vergabeunterlagen, insbesondere der Leistungsbeschreibung, dem Preisblatt, und den Bestimmungen des Vertrages - mit Ausnahme der in der Bewertungsmatrix/dem Lastenheft angegebenen Ausschlusskriterien (Mindestanforderungen) sowie den definierten Zuschlagskriterien - einzureichen.

12

[...]

13

Die abgegebenen Erstangebote werden zunächst auf formale Richtigkeit geprüft. Eine weitergehende Prüfung und Wertung der Erstangebote findet sodann wie folgt statt: Unter Verzicht auf die zweite Wertungsstufe (Angemessenheit der Preise) werden die Erstangebote auf der dritten Wertungsstufe nur anhand des Zuschlagskriteriums "Leistung" bewertet; eine Wertung des Preises der Erstangebote anhand des zweiten Zuschlagskriteriums "Preis" findet nicht statt. Die Wertung des Zuschlagskriteriums "Leistung" erfolgt dabei nicht anhand der für die Wertung der verbindlichen Folgeangebote bzw. finalen Angebote (BAFO) vorgesehenen erweiterten Richtwertmethode, sondern allein anhand der gemäß aller Bewertungskriterien (Unterkriterien des Zuschlagskriteriums "Leistung") der Bewertungsmatrix vom Bieter mit seinem Erstangebot jeweils erreichten Anzahl an Leistungspunkten.

14

Die Vergabestelle hat geplant mit allen Bietern die erste Runde der Verhandlungsgespräche über das jeweilige unverbindliche Erstangebot sowie die Vergabeunterlagen und den Beschaffungsgegenstand durchzuführen. [...] Gegenstand der Verhandlungen können die jeweils vom Bieter mit seinem Erstangebot eingereichten Verhandlungsvorschläge sein sowie Verhandlungswünsche der Vergabestelle und/oder weitere, nicht mit dem Angebot eingereichte Verhandlungswünsche des Bieters, mit Ausnahme der Ausschlusskriterien sowie der Zuschlagskriterien. Der Vergabestelle steht es frei, Verhandlungsvorschläge der Bieter ganz oder teilweise zum Gegenstand der Verhandlungen zu machen. Der Bieter hat keinen Anspruch darauf, dass seine eingereichten Verhandlungsvorschläge verhandelt oder gar angenommen werden.

15

Die Vergabestelle behält sich vor, im Anschluss an eine erste Verhandlungsrunde bei Bedarf eine oder mehrere weitere Verhandlungsrunden durchzuführen und hierzu auch ggf. die Anzahl der Teilnehmer an weiteren Verhandlungsrunden zu reduzieren. Die Bieter haben keinen Anspruch auf Teilnahme an dieser/n Verhandlungsrunde/n.

16

1.4.2 Zweite Phase

17

Die Vergabestelle beabsichtigt, die Vergabeunterlagen gemäß seinem durch die Verhandlungsgespräche konkretisierten, aktualisierten Beschaffungsbedarf anzupassen und danach zur Abgabe verbindlicher Folgeangebote (BAFO) aufzufordern, welche geprüft und bewertet werden.

18

Weitere Verhandlungen mit den verbleibenden Bietern bleiben dabei vorbehalten. Die Vergabestelle behält sich weiterhin vor, dass das Verhandlungsverfahren nach Aufforderung zur Abgabe verbindlicher Angebote weiter in verschiedenen aufeinanderfolgenden Phasen abgewickelt wird, um so die Zahl der Angebote, über die verhandelt wird, anhand der angegebenen Zuschlagskriterien zu verringern.

19

Die Vergabestelle behält sich vor, den Ablauf des Vergabeverfahrens aus sachlichen Gründen erforderlichenfalls zu ändern. Die Bieter werden jeweils rechtzeitig informiert.

20

Im Rahmen der Beantwortung der Bieterfragen in der indikativen Angebotsphase wurde den Bietern mitgeteilt, dass gemäß UfAB 2018 die erweiterte Richtwertmethode zur Anwendung gelangt (Datei: xxxxxx).

21

In der Gesamtauswertung der unverbindlichen Erstangebote (Datei: xxxxxx) wird nach dem Ergebnis der Leistungsbewertung im Tabellenblatt "UfAB" ein Mindesterfüllungsgrad von 70 % dargestellt. Dieser ist versehen mit dem Hinweis "bisher nicht festgelegt". Das Nichterreichen des Mindesterfüllungsgrades führt laut der vorläufigen Wertung dazu, dass das betroffene Angebot bei der Zusammenführung des Leistungs-Preis-Verhältnisses (Z) nicht mehr berücksichtigt wird.

22

Die Bieter reichen mit ihren indikativen Angeboten jeweils Verhandlungsvorschläge ein. Die Beigeladene zu 1 schlägt dabei vor, dass eine kaufmännische Migration zugelassen werden soll.

23

Mit der Aufforderung zur Abgabe eines verbindlichen Angebotes (BAFO) wird in den Vergabeunterlagen (Datei: xxxxxx; Stand: 28.08.2024) unter Ziffer 1.25.3 ausgeführt, dass der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt wird:

24

Dieses wird nach der so genannten erweiterte Richtwertmethode gemäß der Unterlage für die Ausschreibung und Bewertung von IT-Leistungen (UfAB 2018) des Beauftragten der Bundesregierung für Informationstechnik (http//www.cio.bund.de) gebildet. Danach wird in einem ersten Schritt nach der gesamten Leistungsbewertung und der Feststellung der Preise die Kennzahl für das Leistungs-Preis-Verhältnis ermittelt:

25
vk_lu_neburg_20241002_vgk212024_beschluss_as2
26

Dabei sind die vorstehenden Parameter wie folgt definiert:

27

Z: Kennzahl für Leistungs-Preis-Verhältnis

28

L: Gesamtsumme der Leistungspunkte (Bewertungspunkte * Gewichtung)

29

P: Gesamtpreis (Euro) der Leistung gemäß Preisblatt

30

Mit der erweiterten Richtwertmethode kann für die Bestimmung des wirtschaftlichsten Angebotes neben dem Leistungs-Preis-Verhältnis der verschiedenen Angebote für nah beieinanderliegende Angebote ein weiteres Entscheidungskriterium (EK) herangezogen werden.

31

Daher werden in einem zweiten Schritt alle Angebote innerhalb des zuvor definierten Schwankungsbereichs (in %) zum führenden Angebot durch eine Vorauswahl selektiert. Der Schwankungsbereich ist auf 10 % festgelegt.

32

Schließlich werden die Angebote, die innerhalb des Schwankungsbereichs zum führenden Angebot liegen, anhand eines zuvor festgelegten Entscheidungskriteriums für die Wirtschaftlichkeit miteinander verglichen und so das wirtschaftlichste Angebot ermittelt. Als Entscheidungskriterium wird für die o. g. Ausschreibung die Gesamt-Leistungspunkte (L) herangezogen.

33

Das Angebot innerhalb des Schwankungsbereichs mit den Gesamt-Leistungspunkte (L) ist das führende Angebot und somit auch das wirtschaftlichste Angebot.

34

Zudem wird nach Ziffer 1.25.3.1.3 festgelegt:

35

Über die Summe aller als Leistungsanforderungen zum Angebot gekennzeichneten B-Kriterien wird eine zu erreichende Mindestleistungspunktzahl von 75 % der maximal zu erreichenden Leistungspunktzahl festgelegt.

36

Bei Unterschreitung der Mindestleistungspunktzahl wird das betreffende Angebot aus der weiteren Wertung ausgeschlossen.

37

Des Weiteren wurde den Bietern mit der Aufforderung zur Abgabe eines verbindlichen Angebotes (BAFO) vom xxxxx.2024 ein überarbeitetes Preisblatt als Exceldatei zur Verfügung gestellt. Dafür wurden unter anderem folgende Änderungen in den Arbeitsblättern "Titelblatt" und "Preiskennzahl" vorgenommen, bei der die Stellung als Bestandsbieter abgefragt wurde und daraus resultierend geringere Migrationskosten berücksichtigt werden konnten.

38

Version unverbindliches Angebot:

vk_lu_neburg_20241002_vgk212024_beschluss_as3
39

Version verbindliches Angebot:

vk_lu_neburg_20241002_vgk212024_beschluss_as4
40

Zudem wurde das Arbeitsblatt "Hinweise" um folgende Ausführungen ergänzt:

41

[...] Sofern es sich beim Bieter um den Bestandsbieter handelt, muss er dies im Titelblatt angeben und die aktuellen Kosten für den Monat xxxxxx 2024 im Register "Preiskennzahl" entsprechend angeben. Es wird dann automatisch ein Vorteil durch eine kaufmännische Migration vom Angebotspreis abgezogen (bei Annahme lineares Abschmelzen über die Vorbereitungs- und Migrationszeit).

42

Ferner wurde das Leistungsverzeichnis zum finalen Angebot unter Ziffer 4.3 Migration wie folgt ergänzt:

43

Wenn keine Anschlüsse von Dritten zu übernehmen sind (also wenn der AN der Bestandsanbieter ist), dann werden die Anschlüsse innerhalb eines Zeitraums von max. 4 Wochen nach Vertragsbeginn auf die neuen Konditionen dieser Rahmenvereinbarung umgestellt (kaufmännische Migration).

44

Mit Schreiben vom 09.08.2024 erfragte die Antragstellerin die ihr unklar gebliebenen Hintergründe der Änderungen am Preisblatt und der hinterlegten Berechnungsformeln. Dabei formulierte die Antragstellerin zudem:

45

Der Bestandanbieter erhält somit in Bezug auf die Bewertung des Preises einen Vorteil gegenüber den anderen Wettbewerbern. Daher verstößt das neue Preisblatt aus Sicht des Bieters gegen den Wettbewerbsgrundsatz. Damit der Wettbewerbsgrundsatz jedoch gewährleistet ist, bittet der Bieter daher um Streichung der Felder "Ermittlung kaufmännische Migration" in dem Register "Preiskennzahl".

46

Dies beantwortete der Antragsgegner am 19.08.2024 wie folgt:

47

Im Rahmen der Verhandlungen hat sich herausgestellt, dass bei einem Tarifwechsel Einsparpotential gegenüber dem Bestandstarif besteht. Dieses Potential realisiert sich bei dem Bestandsauftragnehmer mangels technischer Migration nahezu unmittelbar und wird für die Dauer der Migration bei einem Auftragnehmerwechsel berücksichtigt. Nach Auffassung des Auftraggebers handelt es sich bei einem möglichen Kostenvorteil durch einen frühen Tarifwechsel um sog. "switching costs", die im Rahmen der Angebotswertung berücksichtigt werden können. Dies verstößt nicht gegen den Wettbewerbsgrundsatz (vgl. Anlage 2).

48

In der finalen Angebotsphase erläutert der Antragsgegner mit der Antwort vom 29.08.2024 (Dateiname: xxxxxx) unter der lfd. Nr. 5 den Formelfaktor "9" für den SIP-Trunk (xxxxxx "= WENN (xxxxxx!!21<>"Ja";"";(C8-C18)*9)"). Demnach resultiert dieser aus der Annahme, dass Nicht-Bestandsanbieter für die Migration zehn Monate benötigen, beim Bestandsanbieter die Migration indes nach einem Monat abgeschlossen ist. Für den Antragsgegner besteht somit bei einem Verbleib beim Bestandsanbieter bereits neun Monate früher ein wirtschaftlicher Vorteil.

49

Mit der Antwort auf die Bitte um Erklärung der Formel aus xxxxxx

50

("= WENN(xxxxxx!!21 <>"Ja";""; (SUMME(C9:C12)-C19)*3+(SUMME(C9:C12)-C19)*2012)") unter der lfd. Nr. 6 führt der Antragsgegner aus:

51

Es wird angenommen, dass bei einem Auftragnehmerwechsel die vollständige Migration der dezentralen Anschlüsse innerhalb von 24 Monaten umgesetzt ist, eine rein kaufmännische Migration ist nach einem Monat abgeschlossen. Da die Migration der dezentralen Anschlüsse sukzessive erfolgt und die ersten Anschlüsse bereits nach ca. 4 Monaten umgestellt sein dürften, wird die volle Kostendifferenz nur für einen Zeitraum von 3 Monaten berücksichtigt und in den weiteren 20 Monaten nur noch anteilig, da sich sukzessive auch bei einem Auftragnehmerwechsel der wirtschaftliche Vorteil aus dem Tarifwechsel realisiert.

52

Mit Schreiben vom 28.08.2024 rügte die Antragstellerin die unzulässige Ungleichbehandlung der Bieter durch die Berücksichtigung des Kostenvorteils der weniger umfangreichen kaufmännischen Migration beim Bestandsanbieter zu dessen Gunsten. Zudem rügte sie

53
  • den unzulässigen Informationsvorsprung des Bestandsanbieters hinsichtlich seines Kostenvorteils gegenüber den anderen Bietern;

54
  • die Annahme einer pauschalen, langen Migrationszeit bei der Berechnung der Migrationskosten für die übrigen Bieter;

55
  • die Änderung der Zuschlagskriterien im Nachgang zur Verhandlungsrunde.

56

Nachdem der Antragsgegner mit Schreiben vom 30.08.2024 mitgeteilt hatte, dass eine Reaktion auf die Rüge nicht innerhalb der gesetzten Frist bis zum 02.09.2024 beantwortet werden könne, reichte die Antragstellerin am 03.09.2024 einen Nachprüfungsantrag ein.

57

Der Antrag sei sowohl zulässig als auch begründet.

58

Die von dem Antragsgegner mit der Angebotsaufforderung für das verbindliche Zweitangebot mit Schreiben vom xxxxxx.2024 vorgenommenen Änderungen an den Vergabeunterlagen würden gegen Vergaberecht verstoßen. Durch die Berücksichtigung der Migrationskosten bei der Angebotsbewertung verstoße der Antragsgegner gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, der es verbiete, Vorteile des Bestandsanbieters, die ausschließlich auf dem Vorauftrag beruhen, zu dessen Gunsten zu berücksichtigen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn wie hier solche Vorteile zu einer Zementierung der Stellung des Bestandsanbieters führen und den Wettbewerb damit faktisch ausschließen würden.

59

Da die Kostenersparnis bei Annahme des Angebots des Bestandsanbieters nicht auf allgemeinen Wettbewerbsvorteilen beruht, sondern aus einer Sonderstellung zum Auftraggeber, dürfe dies aus Gründen der Gleichbehandlung bei der Wertung nicht berücksichtigt werden. Zwar seien öffentliche Auftraggeber nicht verpflichtet, eine unterschiedliche Marktstellung, die "von außen" vorgegeben und damit gleichsam "vorgefunden" werde, auszugleichen, allerdings dürfen Vorteile, die ein Bieter aufgrund einer vorherigen Tätigkeit für den öffentlichen Auftraggeber hätte, bei der Bewertung nicht berücksichtigt werden. Denn der Wettbewerbsvorteil resultiere nicht aus einer im freien Wettbewerb errungenen Marktstellung, sondern ganz spezifisch aus der Ausgestaltung und Durchführung des Vorauftrages. Der Vorauftrag ermögliche es der Beigeladenen lediglich, eine kaufmännische Migration durch Tarifanpassung und damit deutlich günstigere technische Migration durchzuführen, was bei der Wertung nicht berücksichtigt werden dürfe. Dies gelte gerade dann, wenn die Vorteile im konkreten Fall so hoch seien, dass um den Auftrag kein Wettbewerb mehr stattfinden könne. Nach obergerichtlicher Rechtsprechung können durch einen Auftragnehmerwechsel entstehende Kosten zu einer vergaberechtswidrigen Ungleichbehandlung führen. Der dem Bestandsanbieter nach Schätzung der Antragstellerin gewährte Preisvorteil von 30 % bis 50 % führe zu einer Zementierung dessen Auftragnehmerstellung.

60

Zudem verstoße der Antragsgegner durch die pauschale Bestimmung von Migrationszeiten gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Den ihm eröffneten Beurteilungsspielraum habe der Antragsgegner überschritten. Die Formel zur Bestimmung der Migrationskosten würde bei Nicht-Bestandsanbietern, aufgrund einer unterstellten längeren Migrationsdauer, dafür neun Monate unterstellen. Insgesamt würde angenommen, dass Nicht-Bestandsanbieter für die Migration 23 Monate länger benötigen würden als der Bestandsanbieter. Dies sei schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil der Antragsgegner ausweislich der Ziffer 4 der Leistungsbeschreibung davon ausgehe, dass Bestands- und Nicht-Bestandsanbieter zwar unterschiedlich lange für den Abschluss der Phase "Rollout-Migration" benötigen, nicht aber hinsichtlich der Phase "Vorbereitungszeit". In der Aufforderung zur Abgabe des verbindlichen Angebotes habe der Antragsgegner darauf hingewiesen, dass er davon ausgehe, dass beim Bestandsanbieter diese Phase innerhalb eines Monats abgeschlossen sei. Wenn die Vorbereitungszeit bei Bestandsanbieter und Nicht-Bestandsanbieter jeweils gleich sein sollen, dann dürfte diese Zeit nicht bei der Berechnung der Migrationskosten berücksichtigt werden und der Faktor für den SIP-Trunk von Nicht-Bestandsanbietern müsste aufgrund einer vom Antragsgegner angenommenen Vorbereitungszeit von sechs Monaten "3" und nicht "9" lauten. Pauschal würde auch zugunsten des Bestandsanbieters für dessen Migration das Bestcase-Szenario von einem Monat, jedoch bei den Nicht-Bestandsbietern für deren Migration zu deren Ungunsten das Worst-case-Szenario eines sehr langen Migrationszeitraums angenommen. Der Wertungspreis beruhe damit nicht mehr auf der autonomen Preisbildung durch die Nicht-Bestandsanbieter, sondern auf einer pauschalen Annahme des Auftraggebers. Damit könnten tatsächliche Kostenvorteile ganz erheblich vom Wertungspreis abweichen.

61

Die Bewertungsmethode sei auch daher unzulässig, da der berücksichtigte Kostenvorteil aufgrund der kaufmännischen Migrationskosten nur dem Bestandsanbieter bekannt sei. Wertungsaufschläge müssten klar definiert sein und vom Auftraggeber genau ausgewiesen werden. Sonst würden die Nicht-Bestandsanbieter unzulässig benachteiligt. Hier könne der Bestandsbieter seinen Preis so kalkulieren, dass er unter Berücksichtigung des Kostenvorteils gerade noch günstiger ist als die anderen Bieter, für die es erheblich schwerer werde, ihr Angebot so zu kalkulieren, dass es das wirtschaftlichste sein könne. Bei diesem Informationsvorsprung handele es sich auch nicht um einen grundsätzlich hinnehmbaren Wettbewerbsvorteil, denn die Informationsasymmetrie würde erst durch die vom Antragsgegner vorgegebenen Parameter des Preisblatts entstehen. Sollte es sich um einen legitimen Informationsvorsprung handeln, wäre dieser Vorteil durch den Antragsgegner auszugleichen gewesen, indem z.B. die bisherige Kostenstruktur mitzuteilen wäre. Der Bestandsanbieter könne sich auch nicht mehr auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen berufen, da dessen Vertrag bereits seit 15 Jahren bestehe und somit ein Nachweis, dass die Preisinformationen unverändert wesentlich seien, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen würde. Insofern wäre dies mit dem GeschGehG vereinbar.

62

Zudem verstoße die Gestaltung des Preisblatts gegen den Transparenzgrundsatz, da die Nicht-Bestandsanbieter nicht darüber aufgeklärt worden seien, wie sich der Kostenvorteil aufgrund der kaufmännischen Migrationskosten berechne und welche möglichen Nachteile dadurch bei der Berechnung der Gesamtkosten entstehen können.

63

Schließlich sei auch die Änderung der Zuschlagskriterien unzulässig, denn für das Verhandlungsverfahren gelte, dass die Zuschlagskriterien spätestens mit der Aufforderung zur Abgabe des ersten Angebots zu benennen seien. Für Verhandlungsverfahren sei es zwar charakteristisch, dass der Auftraggeber mit den Bietern über die von ihnen eingereichten Erst- und Folgeangebote verhandelt, jedoch habe der EU-Gesetzgeber ausdrücklich festgestellt, dass die Zuschlagskriterien nicht verhandelbar seien. Dagegen habe der Antragsgegner durch die nachträgliche Änderung der Zuschlagskriterien verstoßen, indem er festgelegt habe, dass das wirtschaftlichste Angebot nunmehr mittels der erweiterten Richtwertmethode und unter Heranziehung eines weiteren Entscheidungskriteriums - den Gesamt-Leistungspunkten - ermittelt werde und nicht mehr anhand der höchsten Gesamtleistungspunkte. Eine dem entgegenstehende Spruchpraxis der Vergabekammern und Vergabesenate würde nicht überzeugen oder sei nicht zutreffend. Zudem habe der Antragsgegner die Zuschlagskriterien aufgrund der Verhandlungen - höchstwahrscheinlich mit dem Bestandsanbieter - geändert.

64

Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten sei wegen der Komplexität der vergaberechtlichen Fragestellungen für die Antragstellerin zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig.

65

Mit Schriftsatz vom 19.09.2024 trägt die Antragstellerin ergänzend vor, dass Vorteile bei der Migration, die sich aus der Stellung als Bestandsanbieter ergeben würden, nicht berücksichtigt werden dürfen, wenn die Auftragnehmerstellung des Bestandanbieters dadurch zementiert werde. Eine solche Zementierung ergebe sich, unter Berücksichtigung der Marktpreise, hier aus einem Kostenvorteil in Höhe von mindestens 30 % des Auftragswerts für den Bestandsbieter. Sollten die Preise sich im finalen Angebot verringern, würde sich der Kostenvorteil sogar noch erhöhen. Da sich durch die Verhandlungen die Risiken für die Bieter verringert hätten, seien geringere finale Angebotspreise zu erwarten. Der vom Antragsgegner angenommene Kostenvorteil von lediglich 5 % sei somit fernliegend und zudem nicht nachprüfbar.

66

Um Nachteile aus einer nur eingeschränkten Akteneinsicht zu kompensieren, seien Informationen, die der Antragstellerin nicht zur Verfügung gestellt werden können, von der Vergabekammer im Rahmen eines sogenannten In-camera-Verfahrens bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen. Dafür werde angeregt die angesetzten aktuellen Kosten durch Einsicht in die Rechnungen für den nach dem Preisblatt maßgeblichen Monat xxxxxx 2024 zu plausibilisieren und eine Berechnung auch auf Grundlage der indikativen Angebote der anderen Bieter durchzuführen, obwohl davon auszugehen sei, dass die finalen Angebotspreise im Vergleich zu den indikativen Angebotspreisen erheblich reduziert würden.

67

Nach der aktuellen Rechtsprechung des Kammergerichts Berlin komme es auf die Höhe des Kostenvorteils aber ohnehin nicht maßgeblich an. Aus bisherigen Leistungsbeziehungen gewonnene Ausstattungsvorteile des Bestandsanbieters seien ausgleichspflichtig. Eine Erheblichkeitsschwelle sei dafür nicht festgelegt. Hier liege die Dauer der Migration im Einfluss- und Verantwortungsbereich des Auftraggebers und es würde sich zulasten der Nicht-Bestandsanbieter auswirken, dass der Antragsgegner die für eine schnellere Migration erforderlichen internen Ressourcen nicht bereitstellen könne oder wolle. Die durch den Antragsgegner ferner angeführte Rechtslage sei nicht nachvollziehbar. Auch § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB sei nur für Auftragsänderungen heranzuziehen und nicht für die Vergabe eines neuen Auftrags an den Bestandsanbieter. Zudem lasse sich ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nicht mit Migrationskosten auf Seiten des Auftraggebers rechtfertigen.

68

Nur durch das Verhandlungsverbot der Zuschlagskriterien könne sichergestellt werden, dass der Auftraggeber das Vergabeverfahren nicht zugunsten einzelner Bieter nachträglich manipulieren könne. Der Antragsgegner irre sich in der Annahme, dass die Verhandlungen über Zuschlagskriterien dann unzulässig seien, wenn die Änderung der Zuschlagskriterien "auf Druck des Bieters" erfolge. Damit würde vielmehr ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal aufgestellt, auf das es nicht ankommen könne. Zudem würde den Mitbietern der Nachweis eines Vergaberechtsverstoßes unmöglich gemacht.

69

Es sei nicht relevant, ob es sich bei den Änderungen am Preisblatt um eine zulässige Präzisierung oder Konkretisierung der Zuschlagskriterien handele, denn darauf komme es bei einem Verstoß gegen das Verhandlungsverbot nicht an. Der Gefahr einer Bieterdiskriminierung könne durch eine vage Unterscheidung zwischen Konkretisierung und Änderung nicht begegnet werden.

70

Zudem handele es sich bei den am Preisblatt vorgenommenen Änderungen nicht um eine bloße Konkretisierung der Zuschlagskriterien. Schon dem Begriff nach könne eine zusätzliche Berechnungsgrundlage keine Konkretisierung sein. Der erst mit der finalen Angebotsaufforderung vorgesehene Kostenabzug zugunsten des Bestandsanbieters wirke sich wesentlich auf die Ermittlung des Wertungspreises, somit auf das Zuschlagskriterium "Preis" aus und begünstige den Bestandsbieter einseitig.

71

Die Antragstellerin beantragt,

72
  1. 1.

    den Antragsgegner zu verpflichten, das Vergabeverfahren in den Stand vor Aufforderung zur Abgabe der finalen Angebote zurückzuversetzen und bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer fortzuführen;

73
  1. 2.

    der Antragstellerin Einsicht in die Vergabeakte gemäß § 165 Abs. 1 GWB zu gewähren;

74
  1. 3.

    die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin für notwendig zu erklären, und

75
  1. 4.

    dem Antragsgegner die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen.

76

Der Antragsgegner beantragt,

77
  1. 1.

    den Nachprüfungsantrag vom 3. September 2024 zurückzuweisen;

78
  1. 2.

    der Antragstellerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Antragsgegners aufzuerlegen;

79
  1. 3.

    festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung für den Antragsgegner notwendig war;

80
  1. 4.

    den Antrag der Antragstellerin auf Akteneinsicht wegen Unbegründetheit des Nachprüfungsantrags in Bezug auf einen Großteil der Vergabeakte abzulehnen.

81

Der Nachprüfungsantrag sei unbegründet. Die Berücksichtigung der Migrationskosten in der Angebotswertung sei berechtigt, da der Auftraggeber bei einer Weiterbeauftragung des Bestandsauftragnehmers von einer kaufmännischen Migration profitiere. Eine Pflicht zum Ausgleich dieses Wettbewerbsvorteils bestehe nicht, da aufgrund der geringen Bedeutung keine Zementierung des Bestandsanbieters drohe. Auch die Informationsvorsprünge des Bestandsanbieters im Hinblick auf seine bisherige und seine zukünftige Kalkulation seien hinzunehmen. Zudem habe der Antragsgegner auch nicht in unzulässigerweise nachträglich die Zuschlagskriterien oder deren Gewichtung verändert oder mit den Bietern darüber verhandelt.

82

Ein verbindlicher Zeitplan für die Migration habe weder seitens des Auftraggebers noch durch die Bieter festgelegt werden können, da die Migration von diversen Faktoren abhänge. Der Auftraggeber sei aufgrund seiner fachlichen Einschätzung jedoch von einer Vorbereitungszeit von sechs Monaten und einem Rollout/Migration von vier Monaten für die zentralen SIP-Trunks sowie einer Vorbereitungszeit von vier Monaten und einem Rollout/Migration von 20 Monaten für die dezentralen Anschlüsse ausgegangen.

83

Aus den Erstangeboten habe sich ergeben, dass die Kosten für die Nutzung der Anschlüsse unter den bisher vereinbarten Preisen liegen würden. In der Verhandlungsrunde habe der Bestandsauftragnehmer angeregt, eine kaufmännische Migration zuzulassen, wonach die bestehenden Anschlüsse unmittelbar nach Erteilung des Zuschlags in das neue, von ihm angebotene Tarifmodell überführt würden, um so die Kosten zu verringern. Es sollte jedoch der Kostenvorteil rechnerisch entsprechend der angepassten Bewertung ermittelt und in die Preisbewertung eingestellt werden. Dabei sei eine Zurückversetzung des Verfahrens in den Stand vor Aufforderung zur Angebotsabgabe bzw. vor Abschluss des Teilnahmewettbewerbs nicht für erforderlich gehalten, da hierin eine größere Belastung des Bieterkreises gesehen worden sei.

84

Schon in der Aufforderung zur Abgabe der finalen Angebote sei klargestellt worden, dass die Bewertung der Angebote mittels der erweiterten Richtwertmethode ermittelt werden solle. Dies sei auch schon mit der Beantwortung der Bieterfrage am 22.08.2023 mitgeteilt worden.

85

Die Berücksichtigung von Migrationskosten im Rahmen der Angebotsauswertung sei vergaberechtlich zulässig, um bei einem Auftragnehmerwechsel das wirtschaftlichste Angebot für den Auftraggeber zu ermitteln. Sonst bliebe das Wirtschaftlichkeitsprinzip als Vergabegrundsatz unberücksichtigt. Bei der Festlegung der Zuschlagskriterien habe der Auftraggeber einen großen Gestaltungsspielraum. Dazu könnten im Sinne der sparsamen und effizienten Nutzung von Haushaltsmitteln auch Umstellungskosten bzw. switching costs berücksichtigt werden. Das gelte auch für entsprechende Kostenersparnisse, wenn es nicht zu einem Auftragnehmerwechsel komme.

86

Die Umstellungskosten fiktiv bei dem Bestandsauftragnehmer zum Wertungsausgleich in Anrechnung zu bringen, würde dem Wirtschaftlichkeitsprinzip widersprechen. Nur wenn diese Kosten so hoch seien, dass die Stellung des Bestandsauftragnehmers zwangsläufig zementiert werde, würde dies zu einer Ungleichbehandlung führen. Hier würde die Kostenersparnis nur etwa 5 % des Gesamtauftragswertes ausmachen und zeitweise Doppelzahlungen während der Migration würden keine Berücksichtigung finden. Zudem sei es den übrigen Bietern unbenommen, einen entsprechenden Abschlag im Rahmen der Angebotskalkulation zu berücksichtigen und über die Laufzeit von 74 Monaten (SIP-Trunk) bzw. 60 Monaten (dezentrale Anschlüsse) abzuschreiben. Dabei würde nicht der Bestandsbieter einen Vorteil erhalten, sondern der Auftraggeber bei der Vertragsdurchführung.

87

Die Vorbereitungszeit falle sowohl bei dem Bestandsbieter als auch bei einem Bieterwechsel in gleichem Umfang an. Daher sei auch unter Ziffer 4.3 der Leistungsbeschreibung geregelt, dass einen Monat nach Vertragsschluss eine Umstellung auf die neuen Preise im Rahmen der Leistungsabrechnung erfolgen müsse. Da nicht eindeutig festgelegt werden könne, über welchen Zeitraum sich die technische Migration bei einem Auftragnehmerwechsel erstrecken würde, seien die Zeiträume realistisch eingeschätzt und pauschal festgelegt worden. Eine Zusicherung der Bieter über die Zeiträume der Migration hätte der Auftraggeber nur dann berücksichtigen und bewerten können, wenn an deren Einhaltung auch Sanktionen geknüpft worden wären. Dies sei jedoch aufgrund der Unwägbarkeiten bei der Mitwirkung durch den Auftraggeber im Rahmen der Umsetzung nicht möglich gewesen. Es liege kein Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit und Gleichbehandlung vor, denn die unterschiedlichen Sachverhalte, dass ein Auftragnehmerwechsel von den Abläufen bei einem Verbleib beim Bestandsauftragnehmer abweiche, seien unterschiedlich zu behandeln, damit auch dem wirtschaftlichsten Angebot der Zuschlag erteilt werden könne.

88

Es sei nicht erforderlich, dass allen Bietern die Preise des Bestandsauftragnehmers mitgeteilt werden. Die Konzeption und Bemessung von Wertungskriterien sei durch die entsprechende Ausgestaltung, insbesondere im Preisblatt offengelegt worden. Die aktuellen Preise sowie die Preise in einem noch laufenden Vertragsverhältnis, da aktuell und von erheblichem Interesse, könnten zum Schutz der Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse des Bestandsauftragnehmers nicht veröffentlicht werden. Durch die Bekanntgabe der Methodik seien nachträgliche Manipulationen in Kenntnis der Preise ausgeschlossen.

89

Die Ergänzungen in der Vergabeunterlage D zur Bewertung der Wirtschaftlichkeit und die Anpassungen im Preisblatt würden nicht gegen das Vergaberecht verstoßen. Mit der Aufforderung zur Abgabe eines ersten indikativen Angebots sei in der Anlage D1 Vergabeunterlage unter 1.25.2 ausgeführt worden, dass das wirtschaftliche Angebot anhand von Gesamtleistungspunkten ermittelt werde. Aus dem Preisblatt ergebe sich zudem, dass eine Preiskennzahl P anhand der Gesamtkosten ermittelt werde. Im Rahmen der Beantwortung der Bieterfragen in der ersten indikativen Angebotsphase sei zudem transparent gemacht worden, wie die erweiterte Richtwertmethode zur Anwendung komme. Dies und das Fehlen einer Konkretisierung der Wertungsmethode sei bei der Aufforderung zur Abgabe eines ersten indikativen Angebots auch nicht gerügt worden und somit präkludiert.

90

Ein Bezug zur erweiterten Richtwertmethode sei auch nicht hergestellt worden. Die Erläuterungen des Antragsgegners zur erweiterten Richtwertmethode hätten deutlich gemacht, dass bei einem nur geringen Abstand der Angebote untereinander, die Leistungskennzahl entscheidend sei. Die Rüge habe sich aber ausschließlich mit der Preiskennzahl und der Ergänzung in Bezug auf die kaufmännische Migration befasst. Die Preiskennzahl sei innerhalb des Schwankungsbereichs aber gerade nicht ausschlaggebend bei der Angebotsauswertung. Der Antragstellerin sei aufgrund ihrer Bieterfrage somit bekannt, dass die Ergänzungen zur erweiterten Richtwertmethode bereits vor Abgabe der indikativen Angebote gegenüber den Bietern kommuniziert worden sei, so dass mit der Ergänzung in Ziff. 1.25.3 des Dokuments "Vergabeunterlage" im Rahmen der Aufforderung zur Abgabe der finalen Angebote keine Änderung und insbesondere keine Änderung nach Durchführung von Verhandlungen erfolgt sei.

91

Der Auftraggeber könne im Rahmen des Verhandlungsverfahrens die endgültigen Zuschlagskriterien einschließlich der Gewichtung noch präzisieren bzw. konkretisieren, da in einem Verhandlungsverfahren erst im Rahmen der Verhandlungen der Beschaffungsbedarf final bestimmt und das wirtschaftlichste Angebot tatsächlich ermittelt werden könne. Die ergänzende Berücksichtigung der kaufmännischen Migration unter Beibehaltung der Wertung anhand der Leistungs- und Preiskennzahl sei somit eine zulässige Konkretisierung der Preiskennzahl, die Zuschlagskriterien Leistung/Preis und deren Gewichtung blieben aber unverändert. Eine Berücksichtigung der zusätzlichen auftraggeberseitig anfallenden switching costs sei somit vergaberechtlich nicht zu beanstanden. Um diese zu berücksichtigen, musste entsprechend auch das Preisblatt und die Ermittlung der Preiskennzahl angepasst werden. Darin liege aber noch kein Verhandeln mit einem Bieter über Zuschlagskriterien.

92

Der Antrag auf Akteneinsicht sei wegen der Unbegründetheit des Nachprüfungsantrags abzulehnen. Hilfsweise sei der Antrag auf Akteneinsicht nur in dem Umfang zu gewähren, als dies für die Durchsetzung des subjektiven Rechts der Antragstellerin erforderlich wäre. Mithin würde die Einsichtnahme in den Vermerk zur Berücksichtigung der Migrationskosten im Vergabeverfahren genügen.

93

Die Antragstellerin sei zur Tragung der Kosten des Nachprüfungsverfahrens und zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Auslagen des Antragsgegners verpflichtet, soweit sie im Verfahren unterliege. Die Bestellung eines Verfahrensbevollmächtigten sei für den Antragsgegner wegen der Komplexität des Vergaberechts und des das Nachprüfungsverfahren regelnden Verfahrensrechts sowie auch der Komplexität des konkreten streitbefangenen Vergabeverfahrens notwendig, da es vorliegend nicht nur um rein auftragsbezogene fachliche Fragen, sondern um schwierige Rechtsfragen gehe.

94

Die Beigeladene zu 1 und die Beigeladene zu 2 haben sich schriftsätzlich nicht geäußert.

95

Im Nachgang zur mündlichen Verhandlung teilte der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 27.09.2024 mit, dass er an der mit der Aufforderung zur Abgabe der finalen Angebote in dem Dokument Vergabeunterlage D unter Ziff. 1.25.3.1.3 festgelegten Vorgabe einer Mindestleistungspunktzahl, nicht länger festhält. Auch den Bietern sei die ersatzlose Streichung mit Schreiben vom 26.09.2024 mitgeteilt worden.

96

Wegen des übrigen Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die Vergabeakte und das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 25.09.2024 Bezug genommen.

II.

97

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet.

98

Die Antragstellerin ist in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Der Antragsgegner hat nach Wertung der indikativen Angebote in Kenntnis der vorläufigen Rangfolge die Zuschlagskriterien geändert und damit gegen § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV sowie den Transparenz- und den Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 97 Abs. 1, Abs. 2 GWB verstoßen. Bereits mit der Aufforderung zur indikativen Angebotsabgabe bekannt gemachte Zuschlagskriterien dürfen im Verhandlungsverfahren nur in einem sehr geringen Maße im Stadium der Aufforderung zur finalen Angebotsabgabe angepasst werden. Lediglich Konkretisierungen bereits bekannter Zuschlagskriterien und Unterkriterien sind unter Berücksichtigung der Vergabegrundsätze, insbesondere des Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatzes, zulässig. Das Einführen neuer Unterkriterien anlässlich von Verhandlungsvorschlägen eines Bieters verstößt gegen das Verhandlungsverbot in § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV. Selbst wenn man aber mit dem Antragsgegner die Auffassung vertreten würde, dass das Preisblatt in der Form geändert werden durfte, steht die vom Antragsgegner gewählte Wertungssystematik nicht im Einklang mit dem Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatz, sondern ermöglicht eine bessere Stellung der Bestandsbieterin im wettbewerblichen Verfahren. Der Antragsgegner ist grundsätzlich nicht verpflichtet, Vorteile eines Bieters aufgrund seiner Marktposition anderen Bietern gegenüber auszugleichen. Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz berechtigt den Antragsgegner jedoch nicht zu einer ungerechtfertigten Einschränkung des Wettbewerbs.

99

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Bei dem Antragsgegner, dem xxxxxx, vertreten durch den xxxxxx, handelt es sich um einen öffentlichen Auftraggeber im Sinne des § 99 Nr. 1 GWB. Der streitbefangene Auftrag übersteigt auch den für die Zuständigkeit der Vergabekammer maßgeblichen Schwellenwert gemäß § 106 Abs. 1 GWB. Danach gilt der 4. Teil des GWB nur für solche Aufträge, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert ohne Umsatzsteuer die jeweiligen Schwellenwerte erreichen oder überschreiten, die nach den EU-Richtlinien festgelegt sind. Bei den ausgeschriebenen Leistungen handelt es sich gemäß Abschnitt II.1.3) der Auftragsbekanntmachung um einen Lieferauftrag i. S. d. § 103 Abs. 2 GWB für den gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. Art. 4 der Richtlinie 2014/24/EU in der seit dem 01.01.2022 geltenden Fassung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der hier streitbefangenen Auftragsvergabe am xxxxxx.2023 ein Schwellenwert von 215.000 € gilt. Der vom Antragsgegner geschätzte Auftragswert überschreitet den Schwellenwert deutlich (vgl. Vergabeakte, Ordner "xxxxxx, Seite 1).

100

Die Antragstellerin ist auch gemäß § 160 Abs. 2 GWB antragsbefugt, da sie als Bieterin ein Interesse am Auftrag hat und die Verletzung von Rechten durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht, indem sie beanstandet, dass durch die unzulässige Änderung der Zuschlagskriterien, insbesondere des Preisblattes, nach der ersten Verhandlungsrunde durch den Antragsgegner dahin gehend, dass der Bestandsbieter die Kostenvorteile seiner weniger umfangreichen Migration berücksichtigen könne, eine Ungleichbehandlung der Bieter entgegen § 97 Abs. 2 GWB vorliege. Zudem stelle auch die Annahme einer pauschalen, langen Migrationszeit der Nicht-Bestandsanbieter und einer pauschalen, kurzen Migration beim Bestandsanbieter bei der Berechnung der Migrationskosten sowie der unzulässige Informationsvorsprung des Bestandsanbieters hinsichtlich seines Kostenvorteils gegenüber den anderen Bietern ebenfalls eine unzulässige Ungleichbehandlung der übrigen Bieter entgegen § 97 Abs. 2 GWB dar. Schließlich sei es vergaberechtswidrig, dass die Zuschlagskriterien im Nachgang zur Verhandlungsrunde geändert wurden.

101

Voraussetzung für die Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB ist, dass das antragstellende Unternehmen einen durch die behauptete Rechtsverletzung entstandenen oder drohenden Schaden darlegt. Das bedeutet, dass der Antragsteller diejenigen Umstände aufzeigen muss, aus denen sich schlüssig die Möglichkeit eines solchen Schadens ergibt (vgl. Beck VergabeR/Horn/Hofmann, 4. Aufl. 2022, GWB § 160, Rn. 23; Boesen, Vergaberecht, § 107 GWB, Rn. 52). Nach herrschender Meinung und Rechtsprechung sind an diese Voraussetzungen keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Es genügt für die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags, wenn der Bieter schlüssig einen durch die behauptete Rechtsverletzung drohenden oder eingetretenen Schaden behauptet, also darlegt, dass durch den behaupteten Vergaberechtsverstoß seine Chancen auf den Zuschlag zumindest verschlechtert sein können (BVerfG, Urteil vom 29.07.2004 - 2 BvR 2248/04; Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, GWB § 160, Rn. 43; vgl. Beck VergabeR/Horn/Hofmann, 4. Aufl. 2022, GWB § 160, Rn. 34; Möllenkamp in: Kulartz/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 4. Aufl., § 160, Rn. 30 ff.). Ob tatsächlich der vom Bieter behauptete Schaden droht, ist eine Frage der Begründetheit (vgl. BGH, Beschluss vom 29.06.2006 - X ZB 14/06, zitiert nach VERIS). Die Antragstellerin hat eine mögliche Beeinträchtigung ihrer Chancen auf den Zuschlag und damit einen möglichen Schaden schlüssig dargelegt.

102

Die Antragstellerin hat auch ihrer Pflicht genügt, den geltend gemachten Verstoß gegen die Vergaberechtsvorschriften gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB vor Einreichen des Nachprüfungsantrags innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen nach positiver Kenntniserlangung gegenüber dem Auftraggeber zu rügen. Bei der Vorschrift des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB handelt es sich um eine Präklusionsregel unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben. Der Bieter soll Vergabefehler nicht auf Vorrat sammeln. Die Rügepflicht gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB entsteht, sobald ein Bieter oder Bewerber im Vergabeverfahren einen vermeintlichen Fehler erkennt. Vorausgesetzt ist die positive Kenntnis des Bieters von den Tatsachen.

103

Der Antragstellerin wurden mit Aufforderung zur Abgabe eines finalen Angebots vom 07.08.2024 die angepassten Vergabeunterlagen bekannt gemacht. Nach Sichtung der Unterlagen stellte die Antragstellerin über das Vergabeprotal am 09.08.2024 Bieterfragen und rügte dabei das überarbeitete Preisblatt. Die Vergabestelle beantwortete die Fragen am 19.08.2024, woraufhin die Antragstellerin die Begünstigung des Bestandsbieter sowie weitere Punkte mit Schreiben vom 29.08.2024 rügte. Dabei rügte sie unter anderem auch, dass die Zuschlagskriterien in Ziffer 1.25.3 des Dokuments "Vergabeunterlagen" im laufenden Vergabeverfahren ganz erheblich geändert worden seien. Der Antragsgegner teilte der Antragstellerin mit Nachricht vom 30.08.2024 mit, dass die Rügen geprüft werden, eine Entscheidung und Rückmeldung in der Sache aber nicht bis zur gesetzten Frist am 02.09.2024 erfolgen könne. Daraufhin reichte die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 03.09.2024 einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer ein.

104

Die Antragstellerin machte demnach rechtzeitig gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB gegenüber dem Antragsgegner vor Einreichung des Nachprüfungsantrags bereits mittels der Nachricht vom 09.08.2024 Verstöße gegen Vergabevorschriften geltend. Darüber hinaus rügte sie weitere Verstöße mit Schreiben vom 29.09.2024, dessen Beantwortung erst nach dem Ablauf des 02.09.2024 in Aussicht gestellt wurde. Aufgrund der Beantwortung sowie Zurückweisung etwaiger Vergabeverstöße durch den Antragsgegner am 19.08.2024 reichte sie den Nachprüfungsantrag auch fristgemäß im Sinne von § 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB ein.

105

Der Nachprüfungsantrag ist folglich zulässig.

106

2. Der zulässige Nachprüfungsantrag ist auch begründet.

107

Die Antragstellerin ist in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Der Antragsgegner hat gegen § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV sowie den Transparenz- und den Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 97 Abs. 1, Abs. 2 GWB verstoßen, indem er nach Öffnung und Wertung der indikativen Angebote in Kenntnis der vorläufigen Bieterrangfolge für das Zuschlagskriterium "Preis" im Preisblatt für die Bestandbieterin die Abfrage eines kaufmännischen Migrationsvorteils, der von den Gesamtkosten abgezogen werden soll, ermöglichte und damit Einfluss auf die voraussichtliche Zuschlagsentscheidung nehmen kann (vgl. 2a).

108

Selbst wenn man mit dem Antragsgegner die Auffassung vertritt, die Einführung des Unterkriteriums sei zulässig gewesen, steht die vom Antragsgegner gewählte Wertungssystematik nicht im Einklang mit dem Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatz, sondern ermöglicht eine bessere Stellung der Bestandsbieterin im wettbewerblichen Verfahren (vgl. 2b).

109

Eine bessere Stellung der Beigeladenen zu 1 im wettbewerblichen Verfahren wurde ebenso mit der Einführung eines Mindesterfüllungsgrades der Leistung ermöglicht, die jedoch aufgrund der Abhilfe des Antragsgegners im Nachgang zur mündlichen Verhandlung nicht mehr entscheidungserheblich ist (vgl. 2c).

110

Schließlich handelt es sich nach Auffassung der Vergabekammer bei der Beigeladenen zu 1 nicht um die Vertragspartnerin des Bestandsvertrages, da es einer erforderlichen Zustimmung des Antragsgegners zum Vertragsübergang fehlt. Im Ergebnis kommt es hierauf jedoch nicht an (vgl. 2d).

111

a. In einem Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb enthält die Aufforderung zur Abgabe eines Angebots mindestens die Zuschlagskriterien sowie deren Gewichtung oder gegebenenfalls die Kriterien in der Rangfolge ihrer Bedeutung, wenn diese Angaben nicht bereits in der Auftragsbekanntmachung oder in der Aufforderung zur Interessensbestätigung enthalten sind, vgl. § 52 Abs. 2 Nr. 5 VgV.

112

Die Vorschrift ist eine zentrale Ausprägung des Gleichbehandlungs- und Transparenzgebots. Nur durch die Angabe der Zuschlagskriterien und deren Gewichtung ist der Auftraggeber in der Lage, die Angebote willkürfrei zu werten. Die Bieter müssen in die Lage versetzt werden, bei der Vorbereitung ihrer Angebote vom Bestehen und von der Tragweite dieser Kriterien Kenntnis zu nehmen (Ziekow/Völlink/Völlink, 5. Aufl. 2024, VgV § 52 Rn. 11, beck-online).

113

Gemäß § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV darf über den gesamten Angebotsinhalt verhandelt werden mit Ausnahme der vom öffentlichen Auftraggeber in den Vergabeunterlagen festgelegten Mindestanforderungen und Zuschlagskriterien.

114

Nach Erwägungsgrund 45 der Richtlinie 2014/24/EU sollten für das Verhandlungsverfahren angemessene Schutzvorschriften gelten, die die Einhaltung der Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz gewährleisten. Die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung sollten während des gesamten Verfahrens stabil bleiben und sollten nicht verhandelbar sein, um die Gleichbehandlung aller Wirtschaftsteilnehmer zu gewährleisten.

115

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass der Auftraggeber, sei es zur Korrektur von Vergaberechtsverstößen oder aus Gründen der Zweckmäßigkeit, die Vergabeunterlagen im laufenden Vergabeverfahren ändern darf, sofern dies nur in einem transparenten Verfahren und diskriminierungsfrei geschieht; diese Änderungsbefugnis bezieht sich auf alle Bestandteile der Vergabeunterlagen (die Leistungsbeschreibung, Zuschlagskriterien, Unterkriterien, Gewichtungen etc.) (Leinemann/Otting/Kirch/Homann/Otting/Zinger, 1. Aufl. 2024, VgV § 17 Rn. 47, beck-online). Zumindest die Korrektur von Zuschlagskriterien, bei denen der öffentliche Auftraggeber nachträglich erkennt, dass sie rechtswidrig oder unpraktikabel sind (weil sie z. B. keine Differenzierung ermöglichen oder unverhältnismäßigen Aufwand bei der Dokumentation erfordern würden), müsste - sofern sie transparent erfolgt - möglich sein, ohne das Verfahren vollständig aufzuheben und von neuem zu beginnen (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 03.07.2019, Z3-3-3194-1-09-03/19; Dieckmann/Scharf/Wagner-Cardenal/Dieckmann, 3. Aufl. 2022, VgV § 17 Rn. 21, beck-online).

116

Einen gewissen - wenngleich engen - Spielraum für eine Konkretisierung der Zuschlagskriterien nach Eingang, aber vor Öffnung der Angebote hatte der EuGH in der Rs. C-331/04 ATI La Linea gelassen. Dies unter drei Voraussetzungen, nämlich dass sich

117

(1) die in den Vergabeunterlagen oder in der Bekanntmachung des Auftrags bestimmten Zuschlagskriterien für den Auftrag nicht ändern und

118

(2) nichts enthalten, was, wenn es bei der Vorbereitung der Angebote bekannt gewesen wäre, diese Vorbereitung hätte beeinflussen können und

119

(3) nicht unter Berücksichtigung von Umständen erlassen werden, die einen der Bieter diskriminieren können.

120

Diese Spruchpraxis hatte der EuGH später auf eine Konkretisierung der Zuschlagskriterien nach Öffnung der Angebote übertragen. Außerdem hat der EuGH festgestellt, dass eine Bewertungsmethode (Bewertungsskala, Wertungsleitfaden), anhand der eine konkrete Bewertung der Angebote hinsichtlich der zuvor festgelegten Zuschlagskriterien und ihrer Gewichtung vorgenommen und eine Rangfolge für sie erstellt wird, nach allgemeinen Vergabegrundsätzen und zur Vermeidung von Parteilichkeit zwar grundsätzlich nicht nach Öffnung der Angebote durch den Auftraggeber festgelegt werden darf. Dies aber dann nicht zu beanstanden ist, wenn eine solche Festlegung vor Öffnung (z. B. mangels Vorhersehbarkeit der Angebotsinhalte) nicht möglich ist. Auch in diesem Fall gilt dann, dass die nachträgliche Konkretisierung keine Veränderung der veröffentlichten Zuschlagskriterien oder ihrer Gewichtung bewirken darf (vgl. Burgi/Dreher/Opitz/Opitz, 4. Aufl. 2022, GWB § 127 Rn. 120, beck-online).

121

Die Anpassungen des Preisblattes durch den Antragsgegner nach Öffnung der indikativen Wertung in Kenntnis der vorläufigen Bieterrangfolge sowie nach Durchführung der Verhandlungsgespräche stehen nicht im Einklang mit § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV.

122

Der Antragsgegner hat den Bietern mit der Aufforderung zur Abgabe eines indikativen Angebots mitgeteilt, dass die Ermittlung des wirtschaftlichsten, finalen Angebots nach der erweiterten Richtwertmethode erfolgt. Mittels der Beantwortung einer Bieterfrage (lauf. Nr. 8) wurde den Bietern der Schwankungsbereich ebenfalls bekannt gemacht (vgl. Vergabeakte, Ordner xxxxxx, Unterordner "xxxxxx", Datei xxxxxx).

123

In dem mit der Aufforderung zur indikativen Angebotsabgabe bereitgestelltem Preisblatt hatten die Bieter im Arbeitsblatt "Anschlüsse" für die Pos. "T1 Zentraler SIP-Trunk" unter anderem Preise für die einmalige Einrichtung und monatliche Bereitstellung, ohne Kanäle (Pos. T1.1) sowie für die einmalige Einrichtung und monatliche Bereitstellung, inkl. 20 Kanäle bezüglich des Test-SIP-Trunk (Pos. T1.3) einzutragen. Unter der Pos. "T2 Dezentrale Telefonie- und Internetanschlüsse" waren unter anderem Preise für die (Vor-)Konfiguration der Router/IAD (T2.4) sowie die Installation und Inbetriebnahme der Router/IAD (T2.3) anzugeben (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx", Unterordner xxxxxx.2024, Datei xxxxxx, Arbeitsblatt "Anschlüsse").

124

Mit der Aufforderung zur indikativen Angebotsabgabe eröffnete der Antragsgegner den Bietern zudem gemäß Ziffer 1.4 der Vergabeunterlagen die Möglichkeit, mit dem "Erstangebot Verhandlungsvorschläge (Änderungs-/Ergänzungswünsche, Verbesserungs-/Optimierungsvorschläge, etc.) zu den Vergabeunterlagen, insbesondere der Leistungsbeschreibung, dem Preisblatt, und den Bestimmungen des Vertrages - mit Ausnahme der in der Bewertungsmatrix/dem Lastenheft angegebenen Ausschlusskriterien (Mindestanforderungen) sowie den definierten Zuschlagskriterien - einzureichen" [Hervorhebungen durch die Vergabekammer] (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx", Datei "xxxxxx").

125

Die Beigeladene zu 1 reichte mit ihrem indikativen Angebot unter anderem folgenden Verhandlungsvorschlag ein (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx", Unterorder "xxxxxx", Datei "xxxxxx"):

126

"Verhandlungsgegenstand: Kaufmännische Migration zulassen Genaue Beschreibung des Verhandlungsvorschlags: Nach Erteilung des Zuschlags wird eine sofortige kaufmännische Migration für alle Anschlussvarianten umgesetzt.

127

Geschätzte Auswirkung auf die Gesamtleistung: Die neuen Preise werden ab Vertragsbeginn gültig; Einsparmöglichkeiten werden ab Beginn der Vertragslaufzeit umgesetzt und wirksam."

128

Der Antragsgegner erläuterte in der mündlichen Verhandlung sowie dem danach folgenden Schriftsatz, dass er die Möglichkeit einer Berücksichtigung einer "kaufmännischen Migration" im Rahmen der Vorbereitung der Ausschreibung nicht erkannt habe. Vielmehr sei er erst nach Abgabe der indikativen Angebote durch die Beigeladene zu 1 auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht worden. Der konkrete Vorschlag der Beigeladenen zu 1 sei allerdings nicht akzeptabel gewesen. Vielmehr habe der Antragsgegner nach eigenständiger Prüfung nicht eine sofortige Migration, sondern einen Migrationszeitraum von 4 Wochen für den SIP-Trunk nach Vertragsschluss als realistisch betrachtet (vgl. Protokoll zur mündlichen Verhandlung).

129

Im Rahmen des mit der finalen Aufforderung zur Verfügung gestellten Preisblattes muss nunmehr jeder Bieter angeben, ob er Bestandsbieterin ist oder nicht. Wird die Frage mit ja beantwortet, werden Angaben im Rahmen eines neu eingeführten Kostenblockes zur "Ermittlung kaufmännische Migration" gefordert. Dabei wird in der Formel ein Migrationszeitraumes von 4 Wochen für den SIP-Trunk zugrunde gelegt. Für die dezentralen Anschlüsse ist eine rein kaufmännische Migration nach einem Monat abgeschlossen, aufgrund der sukzessiven Umstellung wird für die Berechnung ein Kostenvorteil über 20 Monate für in der Formel berücksichtigt. Die übrigen Bieter konnten diesen Kostenblock nicht ausfüllen. Für ihre Preisangaben legte der Antragsgegner in der Formel für die Berechnung einen Migrationszeitraum von 10 Monaten für den SIP-Trunk und einen Vorbereitungs- und Migrationszeitraum von 24 Monaten für die dezentralen Anschlüsse zugrunde.

130

Der Antragsgegner erteilte im Preisblatt unter anderem den folgenden Hinweis (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx", Unterordner xxxxxx, Datei xxxxxx, Arbeitsblatt Hinweise, Zeile13):

131

"Sofern es sich beim Bieter um den Bestandsanbieter handelt, muss er dies im Titelblatt angeben und die aktuellen Kosten für den Monat xxxxxx 2024 im Register "Preiskennzahl" entsprechend angeben. Es wird dann automatisch ein Vorteil durch eine kaufmännische Migration vom Angebotspreis abgezogen (bei Annahme lineares Abschmelzen über die Vorbereitungs- und Migrationszeit)".

132

[Hervorhebung durch die Vergabekammer]

133

Eine Konkretisierung bereits festgelegter Zuschlagskriterien ist im Verhandlungsverfahren nach einer ersten Angebotsphase grundsätzlich möglich und steht nicht im Widerspruch zum Verhandlungsverbot nach § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV. Abs. 10 regelt die Durchführung der Verhandlungen mit den Bietern in Umsetzung von Art. 29 Abs. 3 UAbs. 1 und 2 RL 2014/24/EU. Erwägungsgrund 45 der Richtlinie 2014/24/EU hebt hervor, dass die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung während des gesamten Verfahrens stabil bleiben und nicht verhandelbar sein sollten, um die Gleichbehandlung aller Wirtschaftsteilnehmer zu gewährleisten.

134

Nach Auffassung der Vergabekammer ist Intention des Richtliniengebers, dass Zuschlagskriterien nach ihrer Bekanntmachung vom öffentlichen Auftraggeber nicht gänzlich neu zu formulieren, zu definieren oder einzuführen sind. Die Zuschlagskriterien an sich sollen stabil bleiben. Dem Auftraggeber wird es also verwehrt von einer ursprünglich festgelegten Bewertungsmethode abzuweichen, so dass die Gewichtung des Preis-Leistungs-Verhältnisses sich grundlegend verändert. Hat er beispielsweise mit der Aufforderung zur indikativen Angebotsabgabe bekannt gemacht, die Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots anhand der erweiterten Richtwertmethode vorzunehmen, kann er auch im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens mit der Aufforderung zu weiteren Angebotsabgabe nicht auf eine Wertung der Leistung mit 70 % und des Preises mit 30 % umstellen.

135

Es besteht jedoch kein generelles Änderungsverbot. Konkretisierungen eines bereits festgelegten Zuschlagskriteriums oder Unterkriteriums sind in einem gewissen Maße zulässig. Eine bloße Konkretisierung eines Kriteriums liegt vor, wenn ein bereits festgelegtes Zuschlagskriterium oder Unterkriterium näher bestimmt bzw. ausgestaltet wird. Das Zuschlagskriterium an sich bleibt also unverändert und wird lediglich spezifiziert. Einem Verhandlungsverfahren ist immanent, dass als Ausfluss der Verhandlungsgespräche beispielsweise Anforderungen an die Leistung detaillierter gefasst werden müssen, so dass in der Folge auch eine Anpassung eines Unterkriteriums zur Bewertung der Leistung oder einer Preisposition im Preisblatt erforderlich ist. Die konkretisierten bzw. näher ausgestalteten Kriterien müssen die Einhaltung der Grundsätze der Transparenz, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung gewährleisten sowie weiterhin einen wirksamen Wettbewerb sicherstellen können. Auch muss der öffentliche Auftraggeber unter den vorgenannten Voraussetzungen Änderungen von rechtswidrigen oder solchen Zuschlagskriterien, die kein Bieter erfüllen kann, vornehmen können.

136

Dem Antragsgegner war es durchaus vor Festlegung und Bekanntgabe der Zuschlagskriterien und Unterkriterien ohne Kenntnis der Angebotsinhalte möglich zu erkennen, dass die Beigeladene zu 1 sich an der Ausschreibung beteiligen wird sowie - als nach seiner Auffassung derzeitige Vertragspartnerin - über kalkulatorische Wettbewerbsvorteile verfügt. Dass der Antragsgegner bei der Erstellung des Preisblattes vor Aufforderung zur indikativen Angebotsabgabe von der Einführung von Preispositionen nur für die Beigeladene zu 1 abgesehen hat, weil er an eine solche Preisabfrage nicht gedacht habe, rechtfertigt eine nachträgliche Aufnahme auf Impuls der Beigeladenen zu 1 hin nicht.

137

Die Beigeladene zu 1 hat die Berücksichtigung einer kaufmännischen Migration mit ihrem indikativen Angebot in das Verfahren eingeführt. In der Folge wurden die Vorteile einer möglichen Berücksichtigung im Rahmen des Verhandlungsgespräches zwischen der Beigeladenen zu 1 und dem Antragsgegner besprochen. Der Antragsgegner bat die Beigeladene zu 1 ausweislich des Verhandlungsprotokoll die wirtschaftlichen Vorteile einer sofortigen kaufmännischen Migration zu erläutern (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "Verhandlung", Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx", Slide 34).

138

Auch wenn der Antragsgegner den Verhandlungsvorschlag der Beigeladenen zu 1 (sofortige kaufmännische Migration nach Vertragsschluss) nicht eins zu eins umgesetzt hat, sondern sich stattdessen für eine kaufmännische Migration von vier Wochen für den SIP-Trunk und einem kalkulatorischem Vorteil nach 4 Monaten für die dezentralen Anschlüsse nach Vertragsschluss entschieden hat, nahm er auf Impuls der Beigeladenen zu 1 als Ausfluss des Verhandlungsgespräches die Ermittlung der kaufmännischen Migration in das Preisblatt auf. Die Bestandbieterin kann dabei die monatlichen Kosten SIP-Trunk (xxxxxx 2024) sowie die monatlichen Kosten der dezentralen Anschlüsse inkl. Verbindungskosten (xxxxxx 2024) des Bestandsvertrages angeben, die jeweils als Basis für eine Vorteilsberechnung dienen und deren Ergebnisse vom Angebotspreis abgezogen werden.

139

Bei der Aufnahme des Kostenblockes "Ermittlung kaufmännische Migration" in das Preisblatt handelt es sich auch nicht um eine notwendige Korrektur des Preisblattes, da zuvor geforderte Angaben rechtswidrig waren oder von den Bietern nicht abgegeben werden konnten.

140

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Maßstäbe einer zulässigen Konkretisierung von Zuschlagskriterien bzw. Unterkriterien im Verhandlungsverfahren nach ihrer Bekanntgabe handelt es sich bei der vorgenommenen Änderung des Preisblattes nicht um eine bloße Konkretisierung eines bereits bestehenden Kriteriums, sondern vielmehr um eine Einführung eines neuen Unterkriteriums des Zuschlagskriteriums "Preis" als Ausfluss des Verhandlungsgespräches mit der Beigeladenen zu 1. Der Antragsgegner hat vielmehr - zugunsten der Beigeladenen zu 1 - für das verbindliche Angebot zwei deutlich unterschiedliche Leistungsumfänge abgefragt.

141

Der Antragsgegner hat entgegen § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV in unzulässiger Weise nach Öffnung der indikativen Angebote über die Zuschlagskriterien verhandelt.

142

b. Selbst wenn man mit dem Antragsgegner die Auffassung vertreten würde, dass kein Verstoß gegen § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV vorliege und somit das Unterkriterium "Ermittlung kaufmännische Migration" nachträglich eingeführt werden durfte, ist die vom Antragsgegner gewählte Wertungssystematik nicht geeignet, mögliche kalkulatorische Vorteile im Einklang mit den Vergabegrundsätzen, insbesondere des Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatzes, zu berücksichtigen. Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht die Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgrundsatzes.

143

Nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 97 Abs. 2 GWB dürfen - außer dies ist jeweils objektiv gerechtfertigt - vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden (stRspr EuGH BeckRS 2013, 81942). Gleichbehandlung ist auch eine Entstehensvoraussetzung von Wettbewerb. Denn nur wenn alle Unternehmen, die ein Interesse an einem Auftrag haben, nach objektiven, nachvollziehbaren, am Auftrag orientierten Kriterien tatsächlich gleichbehandelt werden und kein Konkurrent einen auf Sonderbeziehungen zum Auftraggeber beruhenden Vorteil erhält, kann Wettbewerb um die beste und die wirtschaftlichste Leistung entstehen (BeckOK VergabeR/Marx, 33. Ed. 1.2.2023, GWB § 97 Abs. 2 Rn. 1, beck-online).

144

Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist gleichzeitig auch dem Wettbewerbsgrundsatz zur Seite gestellt und dient dessen Umsetzung. Das Ziel eines Systems unverfälschten Wettbewerbs kann nämlich nur dann verwirklicht werden, wenn keiner der Teilnehmer aus nicht offen gelegten Gründen benachteiligt wird. Der Gleichbehandlungsgrundsatz grenzt den Wettbewerbsgrundsatz jedoch zugleich auch teilweise ein. Deutlich wird dies in dem Nachverhandlungsverbot für die öffentlichen Auftraggeber mit einzelnen Bietern (MüKo EuWettbR/Knauff, 4. Aufl. 2022, GWB § 97 Rn. 58, beckonline).

145

Allerdings ist der Auftraggeber etwa nicht gehalten, Vorteile eines Bieters aufgrund seiner Marktposition anderen Bietern gegenüber auszugleichen (VK-Bund, Beschluss vom 10.03.2017, VK 2 19/17; Beschluss vom 21.12.2011, VK 1 23/11). Preisliche Vorteile eines Bieters, weil bestimmte Kosten bei ihm nicht anfallen, dürfen gewertet werden (OLG Schleswig, Beschluss vom 12.09.2019, 54 Verg 3 / 19; VK-Bund, Beschluss vom 21.12.2011, VK 1 23/11, Rn. 68 bei juris).

146

Der Auftraggeber kann, wenn es dafür vernünftige - wirtschaftliche - Gründe gibt, den Leistungsinhalt so bestimmen, dass einzelne Bieter Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen haben, solange dies nicht durch die Absicht der Bevorzugung eines bestimmten Unternehmens motiviert ist (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 13.06.2019 - 54 Verg 2/19; VK Münster, ZfBR 2003, 205 [Ls.]).

147

Die Berücksichtigung von durch einen Auftragnehmerwechsel entstehenden Kosten kann zu einer vergaberechtswidrigen Ungleichbehandlung führen, wenn die Auftragnehmerstellung des Bestandsanbieters etwa durch extrem hohe Kosten zwangsläufig zementiert wird, was jedoch nicht der Fall ist, wenn die Wechselkosten aufgrund der gewählten Wertungssystematik nicht übermäßig ins Gewicht fallen (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 12.09.2019, 54 Verg 3/19; VK-Bund, Beschluss vom 21.12.2011, VK 1 23/11).

148

Nach Auffassung der Vergabekammer ermöglichte bereits das vom Antragsgegner mit der Aufforderung zur Abgabe eines indikativen Angebots bereit gestellte Preisblatt der Bestandsbieterin ihre Wettbewerbsvorteile einzupreisen, über die sie durch eine bereits erfolgte Migration oder aber kürzere Migrationszeiten und Aufwände verfügt. Denn sowohl für den SIP-Trunk als auch für die dezentralen Anschlüsse wurden einmalige und teilweise monatliche Kosten für die Einrichtung, Konfiguration, Bereitstellung und Inbetriebnahme abgefragt (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx, Datei "xxxxxx", Arbeitsblatt Anschlüsse).

149

Die vom Antragsgegner nunmehr eingeführte Abfrage der Ermittlung eines kaufmännischen Vorteils im Rahmen eines extra Kostenblocks, dessen Summe von den Gesamtkosten abgezogen wird, war dafür nicht erforderlich. Vielmehr soll der Bestandsbieterin damit ermöglicht werden, unabhängig von der Leistungserbringung im Rahmen des neu zuschließenden Vertrages, ebenfalls im Rahmen des Bestandsvertrages die neuen Konditionen abrechnen zu können bzw. die Verträge zu verschmelzen. Der Antragsgegner führt dazu mit der Antragserwiderung aus (Seite 8, vorletzter Absatz sowie Seite 9, letzter Absatz):

150

"Vorliegend ist anzunehmen, dass die Kostenersparnis nur etwa 5 Prozent des Gesamtauftragswertes ausmacht. Hinzu kommt, dass beispielsweise interne Aufwände des Auftraggebers für die Migration sowie zeitweise Doppelzahlungen während der Migration keine Berücksichtigung finden.

151

[...]

152

Denn mit der Vorgabe der kaufmännischen Migration, falls der Zuschlag an den Bestandsbieter erteilt werden würde, innerhalb von vier Wochen entsteht dem Bestandsauftragnehmer in Bezug auf sein aktuell bestehendes Vertragsverhältnis ein entsprechender wirtschaftlicher Nachteil. Im Falle eines Auftragnehmerwechsels hätte er nämlich weiterhin einen Anspruch auf das derzeit vereinbarte, höhere Nutzungsentgelt aus dem bestehenden Vertragsverhältnis."

153

Der Vermerk "Nachträgliche Berücksichtigung von wirtschaftlichen Vorteilen des Auftraggebers während Migrationszeiten" erläutert auf Seite 6 f. zur Kostenersparnis des SIP-Trunks und der dezentralen Anschlüsse unter Verweis auf entsprechende Abbildungen aus (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx"):

154

"Die grüne Linie zeigt die Kostenentwicklung, wenn innerhalb von 4 Wochen nach Vertragsbeginn die neuen Preise durch den Dienstleister abgerechnet werden würden - unabhängig vom technischen Migrationsfortschritt. [...]

155

Analog zum SIP-Trunk wurden auch die dezentralen Anschlüsse betrachtet. Nach 4 Wochen würden die neuen Konditionen abgerechnet werden können. [...]

156

Um hier das Kostenersparnis zu ermitteln, wurden zusätzliche Annahmen getroffen. Insbesondere, dass das Migrationstempo bzgl. der Kosten über die angenommene Migrationszeit konstant bleibt. Aus Sicht des AG ist das realistisch, da die Migration von großen Standorten mit TK-Anlagen zeitintensiv ist und nicht vorgezogen werden kann. In Anbetracht der internen Ressourcen des AG würden die besonders zeitintensiven Standorte auch aufgeteilt über die gesamte Migrationszeit migriert."

157

Mit der Antwort auf die Bieterfrage unter der lfd. Nr. 6 führt der Antragsgegner aus:

158

Es wird angenommen, dass bei einem Auftragnehmerwechsel die vollständige Migration der dezentralen Anschlüsse innerhalb von 24 Monaten umgesetzt ist, eine rein kaufmännische Migration ist nach einem Monat abgeschlossen. Da die Migration der dezentralen Anschlüsse sukzessive erfolgt und die ersten Anschlüsse bereits nach ca. 4 Monaten umgestellt sein dürften, wird die volle Kostendifferenz nur für einen Zeitraum von 3 Monaten berücksichtigt und in den weiteren 20 Monaten nur noch anteilig, da sich sukzessive auch bei einem Auftragnehmerwechsel der wirtschaftliche Vorteil aus dem Tarifwechsel realisiert.

159

Für beide Positionen wird damit angenommen, dass die rein kaufmännische Migration nach 4 Wochen abgeschlossen sei und - unabhängig von der konkreten Leistungserbringung und dem Fortschritt der technischen Migration - auch für Leistungen des Bestandsvertrags neue Vertragspreise gelten würden. Dies ist insbesondere für die dezentralen Anschlüsse nicht nachvollziehbar, da diese nach eigener vorgenannter Aussage des Antraggegners erst nach und nach in Abstimmung zwischen dem Auftragnehmer und der jeweiligen Dienststelle migriert werden können.

160

Für die übrigen Bieter beginnt die Zahlungspflicht des Auftraggebers hingegen bei den dezentralen Anschlüssen erst mit der Portierung der Rufnummer (vgl. Vergabeakte, Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxxx", Unterordner "xxxxx", Datei xxxxxx, xxxxxx). Folglich liegen insoweit keine vergleichbaren Angebote mehr vor. Der Antragsgegner fragt vielmehr zwei unterschiedliche Leistungsumfänge ab.

161

Zudem legt der Antragsgegner wie bereits dargestellt für die übrigen Bieter bestimmte Migrationszeiträume fest, die bei der Berechnung ihrer Angebotspreise verbindlich zum Tragen kommen. Insoweit wird für die Berechnung also auf den technischen Fortschritt abgestellt. Sollte einem Bieter eine schnellere Migration möglich sein oder würde er sie anbieten wollen, ist dies aufgrund der festgelegten Migrationszeit sowie der entsprechenden Ausgestaltung der Formeln im Preisblatt durch den Antragsgegner nicht möglich.

162

Die dem Vortrag des Antragsgegners zugrunde liegenden Berechnungen, dass die Kostenersparnis nur etwa 5 Prozent des Gesamtauftragswertes des streitgegenständlichen Verfahrens ausmache, (vgl. auch Anlage AG aus mdl. Verhandlung) sind nach Auffassung der Vergabekammer grundsätzlich nachvollziehbar.

163

Die Antragstellerin trägt vor, die Gestaltung des Preisblatts verstoße auch gegen den Transparenzgrundsatz, da die Nicht-Bestandsanbieter nicht darüber aufgeklärt worden seien, wie sich der Kostenvorteil aufgrund der kaufmännischen Migrationskosten berechne und welche möglichen Nachteile dadurch bei der Berechnung der Gesamtkosten entstehen können. Dies trifft nach Auffassung der Vergabekammer zu. Für die Vergabekammer bleibt unklar und nicht ermittelbar, wie hoch die tatsächlichen Einsparungen sein würden. Die Berechnungen beruhen auf den indikativen Angebotspreisen der Beigeladenen zu 1 und der übrigen Bieter. Welche tatsächlichen Preise die Beigeladene zu 1 im Rahmen der neuen Wertungssystematik mit ihrem finalen Angebot abgeben würde, ist nicht bekannt. Unterstellt, sie reduziere ihr indikatives Angebot um ca. 20 %, ergebe sich durch die Berücksichtigung der kaufmännischen Migration ein Vorteil von 10 %. Letztlich kann nicht abschließend beurteilt werden, ob die Wechselkosten aufgrund der gewählten Wertungssystematik noch höher ausfallen und dadurch die Auftragnehmerstellung des Bestandsanbieters zementiert werden würde. Eine verlässliche Prognose ist nicht möglich.

164

Gelten bei Berücksichtigung der vom Antragsgegner geplanten kaufmännischen Migration durch die streitgegenständliche Ausschreibung im Falle der Bezuschlagung der Bestandbieterin 4 Wochen nach Vertragsschluss - mangels Erfordernisses der technischen Migration - auch für den Altvertrag die Konditionen des streitgegenständlichen Vertrages, handelt es sich dabei zudem um eine Anpassung des Bestandsvertrages, die den Voraussetzungen von § 132 GWB unterliegt und gegebenenfalls in Anbetracht der Höhe der möglichen Kostenvorteile ausschreibungspflichtig wäre. Dies gilt ebenfalls, sofern bei Bezuschlagung der Bestandbieterin Leistungen des Altvertrages ohne weiteres in den neuen Vertrag integriert und nach dessen Konditionen abgerechnet werden sollen.

165

Das neben der Berücksichtigung der Wettbewerbsvorteile der Bestandsbieterin ebenso eine Berücksichtigung der Kostenvorteile (keine internen Aufwände des Auftraggebers für die Migration sowie zeitweise Doppelzahlungen während der Migration), die dem Antragsgegner durch einen Auftragnehmerwechsel entstünden, sog. switching-costs, abgebildet werden sollen und dadurch der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz den Antragsgegner zu einer Berücksichtigung unabhängig von einer Ungleichbehandlung der Bieter verpflichte, ist nicht zutreffend.

166

Zunächst konnte der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz mit der gewählten Wertungssystematik im Preisblatt der indikativen Angebotsphase entgegen der Auffassung des Antragsgegners sehr wohl ausreichend berücksichtigt werden. Es oblag der Kalkulationsfreiheit der Bestandsbieterin etwaige Kostenvorteile einzupreisen und damit ihren Wettbewerbsvorteil auszuspielen. Entscheidet die Bestandbieterin sich dafür, dass sie Wettbewerbsvorteile nur in einem bestimmten Wertungssystem berücksichtigen möchte, kann dies nicht zu Lasten der übrigen Bieter gehen.

167

Des Weiteren ist das vom Antragsgegner hier dargelegte Verständnis des Wirtschaftlichkeitsgrundsatzes im rein haushaltsrechtlichen Sinne (sparsame Haushaltsführung), der zur Berücksichtigung wirtschaftlicher Vorteile verpflichte, nicht zutreffend. Das (europäische) Vergaberecht wird stark durch den Wettbewerbsgrundsatz geprägt. Der Wettbewerbsgrundsatz schränkt den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz ein, wenn seine Beachtung zu einer Ungleichbehandlung führen würde. Denn würde dem Wirtschaftlichkeitsgrundsatz immer Vorrang geleistet werden müssen, würde der Wettbewerb und somit auch ein Auftragnehmerwechsel nur eingeschränkt oder nicht mehr stattfinden.

168

Die Berücksichtigung der Vorteile der kaufmännischen Migration bevorzugt die Bestandsbieterin folglich in unzulässigerweise und diskriminiert die übrigen Bieter. Der Antragsgegner nahm nach Eingang der indikativen Angebote sowohl in qualitativer als auch in preislicher Hinsicht eine vorläufige Wertung vor (vgl. Vergabeakte ergänzt, Datei xxxxxx, Arbeitsblatt UfAB). Das Ergebnis der vorläufigen Wertung veranlasste den Antragsgegner dazu, Kriterien einzuführen, die die Beigeladene zu 1 zu einer besseren Rangfolge verhelfen können. Aus dem Gesamtbild der Änderungen der Zuschlagskriterien, die mit der Aufforderung zur finalen Angebotsabgabe versendet wurden, wird ebenfalls deutlich, dass die Änderungen durch die Absicht der Bevorzugung der Beigeladenen zu 1 motiviert waren.

169

Die Berücksichtigung der Ermittlung der kaufmännischen Migration hatte zumindest im Ergebnis zur Folge, dass der Beigeladenen zu 1 eine bessere Stellung im wettbewerblichen Verfahren ermöglicht wurde.

170

c. Der Antragsgegner hat neben der Änderung im Preisblatt nach Öffnung und Wertung der indikativen Angebote in Kenntnis der vorläufigen Bieterrangfolge für das Zuschlagskriterium "Leistung" einen Mindesterfüllungsgrad von zunächst 70 % eingeführt, der nur durch das indikative Angebot der Beigeladenen zu 1 erfüllt werden konnte (vgl. Vergabeakte ergänzt, Datei xxxxxx, Arbeitsblatt UfAB, Spalte H). Der Antragsgegner erläuterte in der mündlichen Verhandlung, dass sofern bei der vorläufigen Bewertung der Angebote nach Aktenlage eine Bieterantwort im Rahmen des Leistungskriterienkatalogs unklar gewesen sei oder aber nicht richtig eingeordnet werden konnte, diese zunächst mit 0 Punkten oder zumindest weniger als 10 Punkte bewertet werden würde. In den Verhandlungsgesprächen habe der Antragsgegner diese mit den Bietern besprochen. Eine Anpassung dieser vorläufigen Wertung erfolgte im Nachgang nicht, da dieses als unnötiger weiterer Arbeitsschritt gesehen werde, da letztlich der Angebotsinhalt der finalen Angebote und deren Bewertung entscheidend sei.

171

Mit der Aufforderung zur finalen Angebotsabgabe in Ziffer 1.25.3.1.3 der Vergabeunterlage wurde ein Mindesterfüllungsgrad von 75 % bekannt gemacht, vgl. Vergabeakte, Unterordner xxxxxx, Unterordner xxxxxx, Unterordner xxxxxx, Datei: xxxxxx. Die in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage der Vergabekammer, aus welchen Gründen der Mindesterfüllungsgrad nach den Verhandlungsgesprächen von 70 % auf 75 % hochgesetzt wurde, obwohl in den Verhandlungsgesprächen Unklarheiten bezüglich der Bieterangaben zur qualitativen Wertung ausgeräumt werden konnten, konnte der Antragsgegner nicht beantworten.

172

Nach Auffassung der Vergabekammer setzte der Antragsgegner den Mindesterfüllungsgrad nach den Verhandlungsgesprächen unter Berücksichtigung des in den Verhandlungsgesprächen gewonnenen Wissens, welche gegebenenfalls bislang nicht ganz klar oder ausreichend beantworteten Leistungskriterien durch die Bieter mit den finalen Angeboten ggf. noch verbessert werden können, weiter nach oben. Bis auf die Beigeladene zu 1 ist es dadurch für die übrigen Bieter kaum noch möglich, den Erfüllungsgrad zu erreichen und im Wettbewerb zu bleiben.

173

Im Nachgang zur mündlichen Verhandlung passte der Antragsgegner die Vergabeunterlagen an und strich den Mindesterfüllungsgrad, weshalb die dadurch ermöglichte bessere Stellung der Beigeladenen zu 1 im wettbewerblichen Verfahren nicht entscheidungserheblich ist.

174

d. Schließlich handelt es sich nach Auffassung der Vergabekammer bei der Beigeladenen zu 1 nicht um die Vertragspartnerin des Bestandsvertrages, da es einer erforderlichen Zustimmung des Antragsgegners zum Vertragsübergang fehlt. Im Ergebnis kommt es hierauf jedoch nicht an.

175

Die Begründung von Gesamtgläubigerschaft zwischen Zedent und Zessionar bedarf der Mitwirkung des Schuldners (BGHZ 64, 69) (Jauernig/Stürner, 19. Aufl. 2023, BGB § 398 Rn. 2, beck-online). Das BGB regelt nur Forderungserwerb (§§ 398 ff.) und Schuldübernahme (§§ 414 ff.), nicht aber den rechtsgeschäftlichen Eintritt in einen Vertrag als Gläubiger und Schuldner; vgl. zum ges. Vertragseintritt §§ 566 (aufschlussreich zum Umfang BGH NJW 2020, 683 ff. [BGH 04.09.2019 - XII ZR 52/18]), 581 II, 613a usw. Gleichwohl ist die rechtsgeschäftliche Übertragung einer ganzen Vertragsposition zulässig (BGH NJW 1986, 2110 [BGH 25.03.1986 - IX ZR 104/85] für Kreditvertrag; 2010, 3708 für Mietvertrag; zur Übernahme der Position des Leasingnehmers v. Westphalen NJW 1997, 2905). Sie erfolgt entweder durch dreiseitige Vereinbarung zwischen den alten Vertragsparteien und dem Übernehmer (BGHZ 65, 52; BGH NJW-RR 2005, 958; NJW 2010, 1095) oder durch Vertrag zwischen zwei beteiligten Parteien mit Zustimmung der dritten Partei (BGH NJW 2021, 394 [BGH 15.09.2020 - II ZR 20/19] Rn. 11; 2012, 2354 [2355]; 2013, 1083 [1084]) (vgl. Jauernig/Stürner, 19. Aufl. 2023, BGB § 398 Rn. 32, beck-online).

176

Der noch laufende Bestandsvertrag wurde zunächst mit der xxxxxx geschlossen. Mit Vertragsänderung von 2010 wird unter anderem mitgeteilt, dass die xxxxxx, mittlerweile als xxxxxx firmiere. Die Vertragsänderung wurde vom Antragsgegner und der xxxxxx unterzeichnet. Vertragspartnerin war seitdem in allen weiteren abgeschlossenen Nachträgen die xxxxxx. Mit Schreiben vom 05.06.2020 informiert die xxxxxx den Antragsgegner über die Gründung der xxxxxx und über die Absicht mit Wirkung zum xxxxxx.2020, alle bestehenden Verträge zwischen dem Antragsgegner und der xxxxxx umwandlungsrechtlich auf die xxxxxx zu übertragen. Die xxxxxx trete mit erfolgter Vertragsübertragung in alle sich aus dem jeweiligen Vertrag ergebenden Pflichten und Rechte in vollem Umfang ein, vgl. Anlage AG 4.

177

Eine Reaktion oder eine Zustimmung des Antragsgegners erfolgte nicht.

178

Die xxxxxx übernimmt gemäß Abspaltungs- und Übernahmevertrag einen eigenständigen, von den übrigen Geschäftsbereichen der xxxxxx organisatorisch getrennten standortübergreifenden Geschäftsbereich. Es handelt sich um eine partielle Gesamtrechtsnachfolge vgl. Anlage AG 5 - Abspaltungs- und Übernahmevertrag, Seite 8 f.

179

Der Ursprungsvertrag enthält folgende Regelung (vgl. Vergabeakte ergänzt, Datei xxxxxx):

180

Rechtsnachfolge

181

Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag werden durch Formumwandlungen bzw. Neustrukturierungen der Betriebsorganisation der Vertragsparteien, auch wenn diese zur Ausgliederung von Betriebsteilen oder zur Schaffung neuer Rechtspersönlichkeiten führen, nicht berührt.

182

Die vorgenannte Regelung stellt lediglich klar, dass bei einer Rechtsnachfolge die Rechte und Pflichten des Vertrages nicht berührt werden. Ob eine Zustimmung bei Schaffung einer neuen Rechtspersönlichkeit oder Ausgliederung von Betriebsteilen des jeweiligen Vertragspartners entbehrlich ist, wird nach Auffassung der Vergabekammer nicht geregelt.

183

Der Antragsgegner kann nach Auffassung der Vergabekammer nicht in ausreichender Form belegen, dass Vertragspartnerin des Bestandsvertrages nunmehr die xxxxxx ist.

184

Eine Berücksichtigung etwaiger Vorteile der Beigeladenen zu 1 scheidet daher auch aufgrund fehlender Identität zum Bestandauftragnehmer aus.

185

Der Antragsgegner hat folglich gegen § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV sowie den Transparenz- und den Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 97 Abs. 1, Abs. 2 GWB verstoßen, indem er nach Öffnung und Wertung der indikativen Angebote in Kenntnis der vorläufigen Bieterrangfolge für das Zuschlagskriterium "Preis" im Preisblatt ein neues Unterkriterium "Ermittlung kaufmännische Migration" einführte und sich damit in die Lage versetzte, Einfluss auf die voraussichtliche Zuschlagsentscheidung nehmen zu können.

186

Der Nachprüfungsantrag ist begründet.

187

3. Gemäß § 168 GWB trifft die Vergabekammer die geeigneten Maßnahmen, um eine Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Sie ist dabei an die Anträge nicht gebunden und kann auch unabhängig davon auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken.

188

Hier liegt ein Grund vor, mit Maßnahmen auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens einzuwirken. Der Antragsgegner wird bei fortbestehender Beschaffungsabsicht verpflichtet, das Vergabeverfahren in den Stand vor finaler Aufforderung zur Angebotsabgabe (BAFO) zurückzuversetzen. Die Vergaberechtsfehler des Verstoßes gegen das Verhandlungsverbot und der damit einhergehenden unzulässigen Berücksichtigung der kaufmännischen Migration sind durch eine Änderung der Vergabeunterlagen zu korrigieren. Den Bietern ist nach erfolgter Anpassung der Vergabeunterlagen Gelegenheit zu geben, neue Angebote abzugeben.

189

III. Kosten

190

Die Kostenentscheidung folgt aus § 182 GWB. Die von der Vergabekammer festzusetzende regelmäßige Mindestgebühr beträgt 2.500 €, die Höchstgebühr 50.000 € und die Höchstgebühr in Ausnahmefällen 100.000 €.

191

Die Gebührenermittlung erfolgt anhand einer Gebührentabelle des Bundeskartellamtes in der zzt. gültigen Fassung aus Dezember 2009. Hiernach wird der Mindestgebühr von 2.500 € (§ 182 Abs. 2 GWB) eine Ausschreibungssumme von bis zu 80.000 € zugeordnet und dem regelmäßigen Höchstwert von 50.000 € (§ 182 Abs. 2 GWB) eine Ausschreibungssumme von 70 Mio. € (höchste Summe der Nachprüfungsfälle 1996 - 1998) gegenübergestellt. Dazwischen wird interpoliert. Bei außergewöhnlicher wirtschaftlicher Bedeutung kann die Gebühr auf bis zu 100.000 € erhöht werden.

192

Der zugrunde zu legende Gegenstandswert beträgt ausweislich der Kostenschätzung gemäß Vergabeakte für die ausgeschriebene Leistung xxxxxx € netto für die gesamte Vertragslaufzeit (vgl. Vergabeakte, Unterordner xxxxxx, Datei xxxxxx).

193

Bei einer Gesamtsumme von xxxxxx € brutto ergibt sich eine Gebühr in Höhe von xxxxxx €. Diese Gebühr schließt einen durchschnittlichen sachlichen und personellen Aufwand ein.

194

Die in Ziffer 3 des Tenors verfügte Kostentragungspflicht folgt aus § 182 Abs. 3 Satz 1 GWB. Danach hat ein Beteiligter, soweit er im Nachprüfungsverfahren unterliegt, die Kosten zu tragen. Hier war zu berücksichtigen, dass der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin in der Hauptsache Erfolg hatte.

195

Der Antragsgegner ist jedoch von der Pflicht zur Entrichtung der auf ihn entfallenden Kosten gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 BVerwKostG befreit (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 13.07.2005, 13 Verg 9/05; OLG Dresden, Beschluss vom 25.01.2005, WVerg 0014/04). Zwar ist das BVerwKostG mit Wirkung vom 15.08.2013 aufgehoben worden, jedoch ist es aufgrund der starren Verweisung aus § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB auf das BVerwKostG in der Fassung vom 14.08.2013 hier weiter anzuwenden. Inhaltlich entspricht die dortige Regelung § 8 BGebG.

196

Kosten der Antragstellerin:

197

Gemäß Ziffer 4 des Tenors hat der Antragsgegner die der Antragstellerin zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen gemäß § 182 Abs. 4 GWB zu erstatten. Gemäß § 182 Abs. 4 GWB i. V. m. § 80 Abs. 2 VwVfG in entsprechender Anwendung war auf den Antrag der Antragstellerin gemäß Ziffer 4 des Tenors auszusprechen, dass die Zuziehung eines Rechtsanwalts im Nachprüfungsverfahren für die Antragstellerin notwendig war. Ungeachtet der Tatsache, dass das GWB für das Nachprüfungsverfahren 1. Instanz vor der Vergabekammer keine rechtsanwaltliche Vertretung vorschreibt, bedurfte die Antragstellerin gleichwohl wegen der Komplexität des Vergaberechts und des das Nachprüfungsverfahren regelnden Verfahrensrechts einerseits sowie auch der Komplexität des konkreten streitbefangenen Vergabeverfahrens rechtsanwaltlicher Beratung und Begleitung.

198

Angesichts der Tatsache, dass der Antragsgegner im Nachprüfungsverfahren in der Hauptsache unterlegen ist und der Antrag der Antragstellerin Erfolg hatte, hat er die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.