Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.12.2024, Az.: 7 ME 76/24

Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für eine Sonntagsöffnung aufgrund des 100-jährigen Firmenjubiläums

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.12.2024
Aktenzeichen
7 ME 76/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 29508
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:1219.7ME76.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 14.11.2024 - AZ: 1 B 326/24

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.
  2. 2.

    Ob ein herausragender Anlass im Sinne des § 5 Abs. 4 Satz 1 NLöffVZG in Gestalt eines Unternehmensjubiläums vorliegt, hängt zwar nicht davon ab, dass ein Unternehmen für die Dauer des Betriebszeitraumes, dessen Zurücklegung im Rahmen des Jubiläums feierlich begangen werden soll, in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht vollkommen unverändert Bestand gehabt hat. Selbst bei tiefgreifenden gesellschaftsrechtlichen Änderungen des Rechtsträgers des Unternehmens kann ein herausragender Anlasses in Gestalt eines Unternehmensjubiläums gegeben sein, wenn (mindestens) ein identitätsprägendes Merkmal des Unternehmens unverändert und in einer für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren Weise fortgeführt wird. Ihre Grenze findet die Möglichkeit der Begehung eines Jubiläums indes in der Einstellung des Unternehmens ohne jede Form seiner Fortsetzung.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 1. Kammer - vom 14. November 2024 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 30. August 2024 (1 A 325/24) wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der nicht erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin, einer Dienstleistungsgewerkschaft, gegen den im Tenor genannten Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg. Mit dem Beschluss hat das Verwaltungsgericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den für sofort vollziehbar erklärten Bescheid der Antragsgegnerin vom 31. Juli 2024, durch den diese der Beigeladenen eine Ausnahmegenehmigung gemäß § 5 Abs. 4 des Niedersächsischen Gesetzes über Ladenöffnungs- und Verkaufszeiten (NLöffVZG) für die Filialen D., F. und G. GmbH in D-Stadt für den 29. Dezember 2024 "aufgrund des 100-jährigen Firmenjubiläums" erteilt hat, abgelehnt. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, gebietet die Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung dahingehend, dass die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin wiederhergestellt wird.

I.

Mit E-Mail vom 4. Januar 2024 beantragte Frau H. bei der Antragsgegnerin eine Ausnahmegenehmigung für eine Sonntagsöffnung am 29. Dezember 2024 für die Zeit von 12:00 Uhr bis 17:00 Uhr "für die Firmengruppe I., also für J., K.". Ihrem Antrag fügte sie eine "Firmenchronik" bei, in der im Wesentlichen das Folgende ausgeführt wurde:

Im Jahr 1924 habe L., der Urgroßvater der Frau M., eine Kaffee-, Süßwaren- und Spirituosen-Großhandlung gegründet, in die wenige Jahre später sein Stiefsohn N. eingestiegen sei. Während des Zweiten Weltkrieges habe das Unternehmen "stillgelegt" werden müssen. Nach Kriegsende sei der Betrieb fortgesetzt und zu einer Sortiments-Lebensmittel-Großhandlung ausgebaut worden. 1950 habe man das Unternehmen um eine Kaffee-Rösterei ergänzt. Für den Kaffee sei der Name "I." ausgewählt worden. Im Jahr 1957 sei der Schwiegersohn des Herrn O., Herr P., in das Unternehmen eingestiegen. Im Folgejahr habe dieses sich der V.I.V.O.-Handelskette "angeschlossen". Nach verschiedenen Erweiterungen des Unternehmens im Jahr 1964 sei dieses im Jahr 1988 an Q. "weitergegeben" worden. Ebenfalls 1964 habe Herr R. die S. GmbH gegründet, deren Gegenstand das Betreiben von Tankstellen und Autowaschbahnen sowie der Vertrieb von non-food-Artikeln gewesen sei. 1968 habe Herr R. die T. GmbH & Co. KG gegründet. Gegenstand dieses Unternehmens sei zunächst der Betrieb eines Einkaufszentrums, später auch weiterer Verbrauchermärkte gewesen. Im Weiteren - im Jahr 1971 - habe Herr R. den Automobilbetrieb U. KG erworben, den er in V. GmbH umfirmiert und auf den Verkauf von Autos, Booten, Campingartikeln, Fahrrädern und Motorrädern sowie Reparatur und Wartung der genannten Fahrzeuge ausgerichtet habe. Ebenfalls 1971 habe er die W. GmbH gegründet. Im Folgejahr sei die T. GmbH & Co. KG um den Betrieb eines Möbelhauses erweitert worden, ferner habe Herr X. s im gleichen Jahr die Y. GmbH, die sechs Lebensmittel-Einzelhandelsgeschäfte betrieben habe, gegründet. 1977 sei die T. GmbH & Co. KG veräußert worden. Der Betrieb des Möbelhauses sei allerdings in die Z. GmbH ausgegliedert worden und in Familienbesitz geblieben. 1985 sei Herr AA. in "die Firma" eingetreten, 1987 sei die AB. GmbH gegründet und neben dem Fahrzeughandel eine Tankstelle eröffnet worden. 1990, zwei Jahre nach dem Eintritt der Frau M. in "die Firma", sei die V. GmbH aufgegeben worden.

Die Antragsgegnerin erteilte mit einem an die D., deren Geschäftsführerin unter anderem Frau AC. ll ist, adressierten Bescheid vom 31. Juli 2024 "Ihnen [Frau M., Anm. des Senats] / der Firmengruppe I., für die Filialen D. [...],F. und AB. GmbH" die begehrte Ausnahmegenehmigung "aufgrund des 100-jährigen Firmenjubiläums" und ordnete deren sofortige Vollziehung an. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin insbesondere an, der Ursprung der "Firma I." datiere laut der Firmenchronik auf das Jahr 1924. Aus diesem Grunde könne sie - die Antragsgegnerin - gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 NLöffVZG die beantragte Ausnahmegenehmigung erteilen. Änderungen in der Gesellschaftsform und Veräußerungen von Unternehmensteilen stünden dem Bezug zur erstmaligen Gründung des Familienunternehmens im Jahr 1924 nicht entgegen.

Gegen diese Ausnahmegenehmigung hat die Antragstellerin unter dem 30. August 2024 Klage zum Verwaltungsgericht Göttingen erhoben (Az. 1 A 325/24), über die noch nicht entschieden ist, und zugleich einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Verwaltungsgericht hat die Beigeladene unter anderem klargestellt, dass das 1924 gegründete Unternehmen Friedrich W. Braunschweig während des Zweiten Weltkrieges lediglich geruht habe. Der "Anschluss" an die AD. -Handelskette habe keine Veräußerung des Unternehmens dargestellt, sondern die Beteiligung an einem Einkaufsverbund.

Das Verwaltungsgericht hat die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt.

II.

Die im Beschwerdeverfahren allein mögliche und gebotene summarische Betrachtung der Sach- und Rechtslage gebietet die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin. Maßstab für die Erfolgsaussichten des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 i.V.m. § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO ist eine Abwägung zwischen dem Interesse am Vollzug der Ausnahmegenehmigung einerseits und dem Interesse an deren Aussetzung andererseits, die im Wesentlichen den Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs - der Anfechtungsklage der Antragstellerin - folgt.

Hiernach überwiegt das Aussetzungsinteresse das Vollziehungsinteresse, da die Ausnahmegenehmigung der Antragsgegnerin nach gegenwärtiger Einschätzung als rechtswidrig einzustufen ist.

§ 5 Abs. 4 Satz 1 NLöffVZG sieht vor, dass die zuständige Behörde, wenn dafür ein herausragender Anlass besteht, auf Antrag einer Verkaufsstelle zulassen kann, dass diese an einem Sonntag im Kalenderjahr geöffnet werden darf, ohne dass die Sonntagsöffnung auf die Höchstzahlen nach Absatz 1 der Vorschrift angerechnet wird. Ein herausragender, auf die Verkaufsstelle abgestellter Anlass kann bei einem klassischen Firmenjubiläum (etwa 25-, 50-, 75-, 100-jähriges Bestehen) gegeben sein (vgl. LT-Drs. 18/2461, S. 10; Senatsbeschluss vom 09.11.2023 - 7 ME 87/23 -, juris; Senatsbeschluss vom 29.12.2021 - 7 ME 194/21 -, juris).

Hier liegt das von der Antragsgegnerin in der Ausnahmegenehmigung angeführte "100-jährige Firmenjubiläum" als herausragender Anlass nicht vor. Die Antragstellerin moniert zutreffend, dass zwar ein (mindestens) 100-jähriges Unternehmertum der Familie der Frau M., nicht aber ein 100-jähriges Jubiläum eines Unternehmens erkennbar geworden ist.

Ob ein herausragender Anlass im Sinne des § 5 Abs. 4 Satz 1 NLöffVZG in Gestalt eines von der Gesetzesbegründung beispielhaft angesprochenen Unternehmensjubiläums ("Firmenjubiläum", LT-Drs. 18/2461, S. 10) anzunehmen ist, hängt zwar nicht davon ab, dass ein Unternehmen für die Dauer des Betriebszeitraumes, dessen Zurücklegung im Rahmen des Jubiläums feierlich begangen werden soll, in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht vollkommen unverändert Bestand gehabt hat (vgl. Senatsbeschluss vom 29.12.2021 - 7 ME 194/21 -, juris). Selbst die Verschmelzung, Abspaltung oder Ausgliederung eines Unternehmens auf ein anderes mit der unter Umständen eintretenden Folge des Erlöschens des übertragenden Rechtsträgers bzw. der Firma (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1, § 131 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, § 155 Satz 1 UmwG) muss der Bejahung eines herausragenden Anlasses im vorgenannten Sinne nicht zwingend entgegenstehen, wenn der übernehmende Rechtsträger (mindestens) ein identitätsprägendes Merkmal des Unternehmens, etwa die Nutzung eines bestimmten Markennamens oder die Betätigung in einem bestimmten Geschäftsfeld, unverändert und in einer für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren Weise fortführt. Ihre Grenze findet die Möglichkeit der Begehung eines Jubiläums indes naturgemäß mit der Einstellung des Unternehmens ohne jede Form seiner Fortsetzung.

Vor diesem Hintergrund hat die Beigeladene nicht mit Erfolg aufzeigen können und ist auch sonst nicht erkennbar, dass die Voraussetzungen für ein 100-jähriges Unternehmensjubiläum vorliegen.

Ob und gegebenenfalls in welcher gesellschaftsrechtlichen Gestalt das nach Angaben der Beigeladenen 1924 gegründete Unternehmen Friedrich W. Braunschweig heute noch fortbesteht, wird aus den Ausführungen der Beigeladenen nicht abschließend deutlich. Dies kann allerdings auch dahinstehen: Eine Zusammenschau der mit dem Antrag der Beigeladenen vom 4. Januar 2024 vorgelegten "Firmenchronik" und des angefochtenen Bescheides macht offensichtlich, dass die Ausnahmegenehmigung jedenfalls nicht für dieses Unternehmen gilt.

Die weiteren von der Beigeladenen angeführten Unternehmen - die S. GmbH, die T. GmbH & Co. KG, die AE. e GmbH, die W. GmbH, die Y. GmbH, die AB. GmbH sowie die D. - wurden sämtlich erst deutlich später gegründet und kommen für ein 100-jähriges Unternehmensjubiläum daher nicht in Betracht. Im Übrigen sind die Unternehmen nach dem ausdrücklichen Vorbringen der Beigeladenen bzw. dem vom Senat hieraus gewonnenen Verständnis mit Ausnahme der AB. GmbH und der D. sämtlich endgültig eingestellt oder an Dritte veräußert worden.

Unschädlich wären die aufgeführten Unternehmenseinstellungen und -veräußerungen, wenn die einzelnen Unternehmen - wie die Beigeladene etwa durch die Nutzung der Begriffe "Familienunternehmen" oder "Firmengruppe I." suggeriert - einer seit 100 Jahren bestehenden Unternehmensgruppe zugehörig (gewesen) wären. Dies trifft indes nicht zu. Unter einer Unternehmensgruppe ist eine Mehrzahl von Unternehmen zu verstehen, die rechtlich und/oder finanziell miteinander verknüpft und der rechtlichen Kontrolle eines Gruppenoberhauptes unterworfen sind. Abzustellen wäre für die Frage des Bestehens eines herausragenden Anlasses in Gestalt eines Jubiläums in diesem Fall auf die Dauer des Bestandes des Gruppenoberhauptes. Die Ausführungen der Beigeladenen lassen jedoch deutlich werden, dass ein solches Gruppenoberhaupt über einen Zeitraum von 100 Jahren - praktisch könnte dies allein eine juristische Person als Muttergesellschaft sein - nicht vorhanden war. Die einzelnen Unternehmen standen bzw. - mit Blick auf die AB. GmbH und die D. - stehen im Eigentum unterschiedlicher natürlicher Personen. Dass diese miteinander verwandt sind, lässt die Einzelunternehmen nicht zur Unternehmensgruppe werden.

Das in der von der Beigeladenen vorgelegten "Firmenchronik" niedergelegte Geschehen stellt sich daher insgesamt nicht als mit einem 100-jährigen Jubiläum eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe begehbarerer Zeitraum, sondern als (rund) 100-jährige Geschichte der durchgängigen verschiedenartigen unternehmerischen Tätigkeiten der Mitglieder der Familie der Frau M. dar.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Kosten der Beigeladenen sind, da diese keinen Antrag gestellt und sich so einem Kostenrisiko nicht ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), nicht erstattungsfähig.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11). Von einer Halbierung des Streitwertes sieht der Senat mit Blick auf die zu erwartende Vorwegnahme der Hauptsache ab.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).