Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 04.03.2025, Az.: 13 U 60/24

Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers einer Strom- oder Gasrechnung im Falle von Verbrauchsabweichungen; Nachvollziehbarkeit bei Selbstablesung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
04.03.2025
Aktenzeichen
13 U 60/24
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2025, 11754
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2025:0304.13U60.24.00

Amtlicher Leitsatz

Zur ernsthaften Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers von Energierechnungen bei Verbrauchsabweichungen, die mangels Zählerablesungen zeitlich nicht genau eingegrenzt werden können.

  1. 1.

    Die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers einer Strom- oder Gasrechnung i.S.d. § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV kann sich aus einer enormen und nicht plausibel erklärbaren Abweichung der streitgegenständlichen Verbrauchswerte von denen einer vorangegangenen oder nachfolgenden Abrechnungsperiode ergeben.

  2. 2.

    Wurde der Verbrauch über einen mehrjährigen Zeitraum geschätzt, weil Zählerablesungen unterblieben sind, fällt das Risiko, dass die gemittelte Verbrauchsabweichung möglicherweise deshalb noch nicht als derart enorm festzustellen ist, zumindest dann regelmäßig dem Kunden zur Last, wenn der Energieversorger ihn hinreichend deutlich auf die vorzunehmenden Selbstablesungen hingewiesen hat.

In dem Rechtsstreit
pp.
hat das Oberlandesgericht Celle - 13. Zivilsenat - durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ..., den Richter am Oberlandesgericht ... und den Richter am Oberlandesgericht ... auf die mündliche Verhandlung vom 11. Februar 2025
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Berufung der Klägerin wird das am 1. November 2024 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bückeburg wie folgt abgeändert und wie folgt neu gefasst:

    Die Beklagte wird verurteilt, einem mit Ausweis versehenen Beauftragten der W. GmbH im Auftrag der Klägerin den Zutritt zu den Räumlichkeiten der Beklagten in S. zu gewähren und die Einstellung der Energieversorgung durch Sperrung des Stromzählers mit der Gerätenummer ... zu dulden.

    Die Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin 11.237,55 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15. Juni 2024 zu zahlen.

  2. 2.

    Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

  3. 3.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, betreffend den Tenor zu 1. allerdings nur gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 1.000 €. Im Übrigen kann die Beklagte eine Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages leistet.

  4. 4.

    Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Entgelte für Stromlieferungen im Zeitraum vom 1. November 2017 bis zum 31. Oktober 2023 in Höhe von 17.538,52 € abzüglich geleisteter Zahlungen in Höhe von insgesamt 6.300,97 €. Sie begehrt ferner, die Sperrung des Stromzählers wegen Zahlungsrückständen zu dulden.

Die Klägerin belieferte die Beklagte unter anderem in dem vorgenannten Zeitraum im Rahmen eines Grundversorgungsvertrages mit Strom, den die Beklagte auch zum Beheizen ihres Hauses nutzte. Die Beklagte las zuletzt am 1. November 2017 sowie am 25. November 2018 die im Tatbestand des angefochtenen Urteils dargestellten Zählerstände ab und teilte diese der Klägerin mit. Der hiernach errechnete Verbrauch liegt der korrigierten Rechnung vom 28. November 2018 (Bl. 162 ff. LGA) zugrunde. Ob die Beklagte in der Folgezeit die ihr übersandten Ablesekarten zurücksandte, ist streitig. Die nächste konkret vorgetragene Ablesung erfolgte erst anlässlich eines Zählerwechsels am 28. April 2022 mit den aus der Abrechnung für das Jahr 2021/22 vom 17. November 2022 (Bl. 185 ff. LGA) ersichtlichen Zählerständen. Den sich aus den abgelesenen Zählerständen für diese Zeit ergebenden Gesamtverbrauch verteilte die Klägerin schätzweise auf die einzelnen Abrechnungszeiträume und erstellte auf dieser Grundlage am 17. November 2022 jeweils korrigierte Rechnungen für die Jahre 2018/19, 2019/20 und 2020/21 sowie die Rechnung für das Jahr 2021/22 (Bl. 169 ff. LGA). Wegen der Einzelheiten wird auf diese Rechnungen Bezug genommen. Die Beklagte leistete hierauf die im Schriftsatz der Klägerin vom 19. März 2024 (Bl. 130 LGA) aufgeführten Zahlungen.

Die Beklagte bestreitet die Richtigkeit der abgerechneten Verbräuche; diese seien angesichts der erheblich geringeren Verbräuche in den vorangegangenen Abrechnungsperioden sowie in der nachfolgenden Abrechnungsperiode unplausibel. Sie behauptet, ihr Verbrauchsverhalten habe sich in diesen Zeiten nicht geändert.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Parteivortrags und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Beklagte sei nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV zur Verweigerung der Zahlung berechtigt, weil angesichts erheblicher und nicht plausibel erklärbarer Abweichungen der Verbrauchswerte der Beklagten im Zeitraum 2018 - 2022 von denen der vorangegangenen und nachfolgenden Abrechnungsperioden die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers vorliege. Die Richtigkeit der abgerechneten Verbrauchsmengen habe die Klägerin nicht bewiesen. Wegen der weiteren Erwägungen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens ihre erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgt. Die Abweichung des streitigen Verbrauchs insbesondere gegenüber dem Verbrauch in der nachfolgenden Abrechnungsperiode sei für die Annahme der ernsthaften Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers der Rechnungen nicht ausreichend.

Sie beantragt,

unter Abänderung des am 11. Oktober 2024 verkündeten Urteils des Landgerichts Bückeburg die Beklagte zu verurteilen,

  1. 1.

    dem mit Ausweis versehenen Beauftragten der W. GmbH im Auftrag der Klägerin den Zutritt zu den Räumlichkeiten in S. zu gewähren und die Einstellung der Energieversorgung durch Sperrung des Stromzählers mit der Gerätenummer ...zu dulden;

  2. 2.

    an die Klägerin 11.237,55 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und trägt ergänzend insbesondere zu der Verbrauchssituation in den maßgeblichen Verbrauchsperioden vor.

II.

Die zulässige Berufung ist begründet.

1. Der Klägerin steht der geltend gemachte Zahlungsanspruch nach § 433 Abs. 2 BGB aus dem zwischen den Parteien bestehenden Grundversorgungsvertrag über Strom zu. Sie hat diesen Zahlungsanspruch unter Vorlage der entsprechenden Rechnungen schlüssig dargelegt. Die Forderungen sind nach § 17 Abs. 1 Satz 1 StromGVV fällig.

Die Einwände der Beklagten gegen die Richtigkeit dieser Rechnungen berechtigen nach § 17 Abs. 2 StromGVV nicht zur Zahlungsverweigerung. Die Beklagte hat keine Nachprüfung der Messeinrichtung verlangt, so dass ein Recht zur Zahlungsverweigerung nicht nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StromGVV in Betracht kommt. Es besteht auch keine ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers der Rechnungen i.S.d. § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV:

a) Ein Recht zur Zahlungsverweigerung besteht nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV unter der Voraussetzung der ernsthaften Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers der Rechnungen. Eine solche ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers kann sich dabei aus einer enormen und nicht plausibel erklärbaren Abweichung der streitgegenständlichen Verbrauchswerte von denen einer vorangegangenen oder nachfolgenden Abrechnungsperiode ergeben (Senat, Urteil vom 12. November 2015 - 13 U 9/15, juris Rn. 17 [Überschreitung um rund das Fünffache]; OLG Köln, Beschluss vom 28. Oktober 2011 - 11 U 174/11, juris Rn. 2 f. [Überschreitung um rund das Zwanzigfache]; vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Februar 2018 - VIII ZR 148/17, juris Rn. 21 ff. [Überschreitung des üblichen Verbrauchs um rund das Zehnfache]).

b) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat die Beklagte die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers der streitgegenständlichen Rechnungen nicht schlüssig dargelegt.

aa) Die vorliegend streitgegenständlichen Verbräuche weichen bereits nicht derart enorm von vorangegangenen oder nachfolgenden Verbräuchen ab, dass dies im Ausgangspunkt geeignet wäre, die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers zu begründen. Abzustellen ist dabei grundsätzlich und auch vorliegend auf Vergleichsverbräuche, die tatsächlich gemessen wurden, also anhand tatsächlich erfolgter Ablesungen ermittelt wurden.

(1) Zu vergleichen ist dabei der streitige Verbrauch im Zeitraum vom 26. November 2018 bis zum Zählertausch am 28. April 2022, wobei dieser Zeitraum mit gewissen Unsicherheiten behaftet ist, weil die Beklagte nur ein ungefähres Datum der Ablesung im Jahr 2018 vorträgt. Da vorliegend die Lieferung von Heizstrom streitgegenständlich ist, ist darüber hinaus der Zeitraum bis zum 29. Oktober 2022 mit zu betrachten, um jeweils vollständige Jahre mit den jeweiligen Heizperioden gleichmäßig abzubilden. In diesem Zeitraum wurden Verbräuche von insgesamt 57.708 kWh gemessen. Hieraus folgt ein durchschnittlicher Verbrauch pro Jahr von 14.427 kWh.

(2) In dem Zeitraum vom 10. Oktober 2022 bis zum 30. September 2023 wurden Verbräuche von 2.499 kWh (HT) und 1.370 kWh (NT) gemessen, insgesamt mithin 3.869 kWh in 354 Tagen. Zeitanteilig interpoliert auf ein Jahr folgt hieraus ein Jahresverbrauch von 3.989 kWh.

Verbräuche vor November 2017 sind nicht dezidiert dargelegt. Die Beklagte hat vorgetragen, zuvor regelmäßig Verbräuche in Höhe von 3.000 - 3.500 kWh pro Jahr gehabt zu haben, ohne dass dies von der Klägerin substantiiert bestritten worden wäre. Das Landgericht hat für die vorangegangenen zwei Jahre Verbräuche in Höhe von 3.803 kWh und 3.008 kWh berücksichtigt. Diese Beträge hat das Landgericht offensichtlich den Angaben in der Rechnung für das Verbrauchsjahr 2017/18 entnommen (Bl. 164 LGA). Es bleibt aber jeweils unklar, ob es sich insoweit um gemessene oder bloß geschätzte Verbräuche handelte. Diese vorangegangenen Verbräuche kommen daher als Vergleichsgrundlage nicht in Betracht.

Im Zeitraum vom 1. November 2017 bis zum 25. November 2018 (389 Tage) wurde ein Verbrauch von 2.758 kWh gemessen. Zeitanteilig interpoliert folgt hieraus ein Jahresverbrauch in Höhe von rund 2.589 kWh.

(3) Hiernach belief sich der durchschnittliche Jahresverbrauch in dem Zeitraum vom 26. November 2018 bis zum 29. Oktober 2022 auf rund 361 % des aus dem Zeitraum vom 10. Oktober 2022 bis zum 30. September 2023 hochgerechneten Jahresverbrauchs.

Verglichen mit dem Verbrauch in dem Zeitraum vom 1. November 2017 bis zum 25. November 2018 belief sich der durchschnittliche Jahresverbrauch in dem Zeitraum vom 26. November 2018 bis zum 29. Oktober 2022 auf 557 %.

(4) Diese Abweichungen sind noch nicht derart "enorm", dass sie die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers erkennen ließen.

Unter Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Regelung, im Interesse einer möglichst kostengünstigen Versorgung sicherzustellen, dass die grundsätzlich zur Vorleistung verpflichteten Versorgungsunternehmen nicht unvertretbare Verzögerungen bei der Realisierung ihrer Preisforderungen in Fällen hinnehmen müssen, in denen Kunden Einwände geltend machen, die sich letztlich als unberechtigt erweisen, ist der Begriff der ernsthaften Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers i.S.d. § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV eher restriktiv auszulegen (OLG Celle, Urteil vom 12. November 2015 - 13 U 9/15 -, Rn. 22, juris; vgl. auch BGH, Urteil vom 21. November 2012 - VIII ZR 17/12, juris Tz. 11 f. m.w.N.; Urteil vom 7. Februar 2018 - VIII ZR 148/17 -, Rn. 18, juris),

Auch wenn der Verordnungsgeber mit der Neuregelung in § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV ersichtlich die Einwendungsmöglichkeiten des Kunden gegenüber § 30 Nr. 1 AVBEltV erweitern und gerade einen etwas weniger strengen Maßstab für die Berücksichtigung von Einwendungen im Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens einführen wollte, weil ihm die in der Rechtsprechung zu § 30 Nr. 1 AVBEltV angelegten Maßstäbe teilweise als zu streng (zum Nachteil des Kunden) erschienen (BGH, Urteil vom 7. Februar 2018 - VIII ZR 148/17 -, Rn. 24, juris), genügt nicht jede erhebliche Verbrauchsabweichung. Dies folgt schon daraus, dass § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Einwendungsausschluss darstellt und die "ernsthafte" Möglichkeit eines "offensichtlichen" Fehlers erfordert. Der systematische Vergleich mit der weiteren Ausnahme nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StromGVV lässt zudem erkennen, dass eine Abweichung um das Doppelte für sich genommen nicht ausreicht, selbst wenn ein ersichtlicher Grund für sie fehlte, weil in einem solchen Fall der Einwendungsausschluss nur dann nicht greift, wenn der Kunde eine Nachprüfung der Messeinrichtung verlangt. Auch im Interesse der Rechtssicherheit können Verbrauchsabweichungen die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers i.S.d. § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV deshalb allenfalls dann erkennen lassen, wenn sie diesen Grenzwert erheblich übersteigen.

Eine für alle Fallgestaltungen maßgebliche Größe der Abweichung, ab der die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers in Betracht kommt, lässt sich zwar nicht bestimmen, weil maßgeblich ist, ob der Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf die "ernsthafte Möglichkeit" eines offensichtlichen Fehlers schließen kann (BGH, Urteil vom 7. Februar 2018 - VIII ZR 148/17 -, Rn. 23, juris). Zumindest in Fällen, in denen der Vergleichsverbrauch - wie dies vorliegend der Fall ist - in einer üblichen Größenordnung liegt, wird nach Auffassung des Senats regelmäßig erst eine nicht plausibel erklärbare Abweichung ab dem Fünffachen auf die ernsthafte Möglichkeit eines solchen Fehlers schließen lassen.

Im vorliegenden Fall lässt daher die Abweichung gegenüber dem Nachzeitraum nicht auf die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers schließen. Die Abweichung gegenüber dem Vorzeitraum um das rund 5,5-fache war zwar für sich genommen erheblich. Ihre Indizwirkung wird aber nicht nur durch die deutlich geringere Abweichung gegenüber dem Nachzeitraum abgeschwächt. Der Verbrauch in diesem Vorzeitraum vom 1. November 2017 bis zum 25. November 2018 in Höhe von - auf ein Jahr hochgerechnet - 2.589 kWh lag außerdem auch noch deutlich niedriger als die von der Beklagten selbst vorgetragenen Verbräuche in den noch davor liegenden Zeiträumen in Höhe von regelmäßig 3.000 - 3.500 kWh.

bb) Jedenfalls liegen diese Abweichungen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des vorliegenden Falls nicht "außerhalb jeder Plausibilität" (dazu: BGH a.a.O.).

Verbrauchsunterschiede können im vorliegenden Fall insbesondere darauf zurückzuführen sein, dass die Beklagte mit dem bezogenen Strom geheizt hat. Die Verbräuche waren daher nachvollziehbar nicht nur allgemein von Schwankungen im Verbrauchsverhalten, sondern insbesondere auch von Schwankungen der Außentemperatur abhängig, insbesondere wenn das unstreitig ältere Gebäude der Beklagten möglicherweise nicht optimal gedämmt war. Verbrauchsschwankungen mögen zudem durch unterschiedliche Erträge der Photovoltaikanlage der Beklagten bedingt gewesen sein, die zudem im streitgegenständlichen Zeitraum teilweise defekt war. Diese Faktoren deuten darauf hin, dass die Verbräuche der Beklagten auch üblicherweise stärkere Abweichungen aufweisen könnten, als dies bei Stromverbräuchen anderer Haushalte der Fall ist. Entsprechend wiesen auch die tatsächlich gemessenen und die weiter vorgetragenen Verbräuche in den Vor- und Nachzeiträumen signifikante und möglicherweise auf die vorgenannten Faktoren zurückzuführende Schwankungen auf.

Die - streitigen - Behauptungen der Beklagten insbesondere zu ihrem konkreten Verbrauchsverhalten, der Heiztechnik, dem Dämmzustand des Gebäudes und der Arbeitsweise der Photovoltaikanlage sind in dem vorliegenden Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens nicht zu berücksichtigen. Über sie ist nicht Beweis zu erheben, um auf diesem Weg möglicherweise feststellen zu können, dass die Verbrauchsabweichungen entgegen den vorstehend dargestellten Umstände nicht plausibel erklärbar sein mögen. Zu der Vorgängerregelung des § 30 AVBEltV a.F. entsprach es allgemeiner Auffassung, dass ein offensichtlicher Fehler nicht vorliegt, wenn zu dessen Beurteilung vertiefte rechtliche Erwägungen oder eine Beweisaufnahme erforderlich wären (Hempel/Franke, Recht der Energie- und Wasserversorgung, § 30 AVBEltV Rn. 28 m.w.N.). Dieser Grundsatz sollte durch die Neuregelung nicht geändert werden; ansonsten wäre das Ziel verfehlt worden, eine zügige Anspruchsdurchsetzung verbunden mit der Verweisung auf den Rückforderungsprozess zu erreichen. Die konkrete Verbrauchssituation kann daher nur dann von Belang sein, wenn eine erhebliche Verbrauchssteigerung auch ohne Durchführung einer Beweisaufnahme "offensichtlich" nicht ernsthaft in Betracht kommt. Dies ist hier nicht der Fall.

Weiter ist die Aussagekraft der Verbrauchsunterschiede im vorliegenden Fall deshalb verringert, weil sie sich über einen recht großen Zeitraum erstrecken. Die Verbräuche in dem Zeitraum vor November 2018 liegen bereits so lange zurück, dass sie nicht unmittelbar mit den heutigen Verbräuchen vergleichbar sein mögen.

cc) Dass die streitgegenständlichen Verbräuche sich über einen langen Zeitraum erstreckten und innerhalb dieses Zeitraums von rund vier Jahren keine Zählerablesungen erfolgten bzw. zumindest nicht von der Beklagten konkret vorgetragen werden, rechtfertigt im vorliegenden Fall keine abweichende Beurteilung.

(1) Dass der deutliche Mehrverbrauch in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum so spät aufgefallen ist und zu den letztlich erheblichen Nachforderungen geführt hat, ist zwar naheliegend auch darauf zurückzuführen, dass zwischen November 2018 und April 2022 keine Zählerablesungen erfolgt sind. Mangels Ablesungen in diesem Zeitraum ist es zudem nicht möglich, den gemessenen Mehrverbrauch zeitlich näher einzugrenzen. Es liegt zwar nahe, dass sich ein etwaiger Messfehler oder auch ein tatsächlicher Mehrverbrauch nur über einen geringeren Teilzeitraum erstreckt haben kann, was zur Folge hätte, dass die prozentuale Abweichung des gemessenen Verbrauchs in diesem Teilzeitraum gegenüber den Verbräuchen in den Vergleichszeiträumen deutlich höher wäre und dann möglicherweise für die Feststellung der ernsthaften Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers ausgereicht hätte.

Darüber hinaus entsprach es nach der Kenntnis des Senats bei Erlass der Stromgrundversorgungsverordnung im Jahr 2006 noch allgemeiner Übung, dass Zählerstände jährlich durch den Netzbetreiber abgelesen wurden. Zum damaligen Zeitpunkt war es daher eher unwahrscheinlich, dass sich Messfehler oder tatsächliche Verbrauchsabweichungen über einen mehrjährigen Zeitraum unbemerkt kumulierten und zu Nachforderungen führten, die aus dem typischen Anwendungsbereich des Einwendungsausschlusses herausfielen, der üblicherweise überschaubare Beträge betrifft (dazu: BGH, Urteil vom 7. Februar 2018 - VIII ZR 148/17 -, Rn. 21, juris). Diese Situation hat sich durch die heute übliche Praxis grundlegend verändert, die Kunden zur Selbstablesung des Zählers aufzufordern und den Verbrauch bei einer unterlassenen Selbstablesung zu schätzen.

(2) Zwar hat sich die Ablesepraxis der Netzbetreiber und Versorgungsunternehmen gegenüber der Situation, die der Verordnungsgeber bei Schaffung des § 17 StromGVV vorfand geändert. Dies führt aber nicht dazu, dass das Risiko von Messfehlern dadurch auf das Versorgungsunternehmen zu verlagern wäre, dass der Einwendungsausschluss nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV bereits dann nicht eingriffe, wenn der gemessene Verbrauch nur möglicherweise derart enorm von anderen Verbräuchen abwich, dass dies in dem dem Verbraucher günstigsten Fall nicht mehr plausibel erklärbar wäre.

Hiergegen spricht schon, dass der Kunde die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines offensichtlichen Fehlers trägt (BerlKommEnergieR/Busche, 4. Aufl. 2018, StromGVV § 17 Rn. 7).

Einer derartigen Risikoverlagerung steht zudem entgegen, dass § 11 StromGVV i.V.m. § 40a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EnWG die Selbstablesung durch den Letztverbraucher ausdrücklich vorsieht und in § 40a Abs. 1 Satz 2 und 3 EnWG Regelungen für den Fall trifft, dass einem Haushaltskunden die Selbstablesung im Einzelfall nicht zumutbar ist. Für den Fall einer unterlassenen Selbstablesung sieht § 40 Abs. 2 EnWG die Möglichkeit der Verbrauchsschätzung vor. Dem widerspräche es, die aus einer unterlassenen Selbstablesung folgenden Risiken grundsätzlich dem Versorgungsunternehmen aufzuerlegen.

Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob abweichend hiervon das Risiko unterbliebener Selbstablesungen dann auf das Versorgungsunternehmen zu verlagern ist, wenn der Kunde nicht ausreichend deutlich auf seine Verpflichtung zur Selbstablesung hingewiesen wurde, wobei allein der eher kleingedruckte Hinweis in den Rechnungen, dass der Zählerstand mangels Selbstablesung geschätzt wurde, nach Auffassung des Senats nicht hinreichend deutlich gewesen wäre. Der Netzbetreiber hat der Beklagten vorliegend unstreitig mehrfach Ablesekarten übersandt. Nach der nicht konkret bestrittenen Behauptung der Klägerin erfolgte dies insbesondere im Oktober und November 2019 sowie im September 2020. Dies war ausreichend, um die Beklagte hinreichend auf ihre Verpflichtung zur Selbstablesung hinzuweisen. Auch wenn eine Übersendung im Herbst 2021 nicht konkret vorgetragen ist, rechtfertigt dies angesichts der dann im April 2022 erfolgten Ablesung keine abweichende Beurteilung.

Der Senat braucht auch nicht zu entscheiden, ob ein Versorgungsunternehmen sich auch dann noch auf fortlaufende Verbrauchsschätzungen beschränken kann, wenn Selbstablesungen über einen ganz erheblichen Zeitraum unterbleiben. Derart erheblich war der Zeitraum, in dem vorliegend keine Selbstablesungen erfolgt waren, noch nicht.

c) Der geltend gemachte Zinsanspruch folgt aus §§ 288, 291 ZPO.

2. Der weiter geltend gemachte Anspruch der Klägerin, einem Mitarbeiter des Netzbetreibers Zutritt zu den Räumlichkeiten der Beklagten zu gewähren und die Einstellung der Energieversorgung durch Sperrung des Stromzählers zu dulden, folgt aus § 19 Abs. 2 StromGVV i. V. mit § 21 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 3 NAV. Danach darf der Grundversorger wegen Zahlungsverzugs eine Unterbrechung durchführen lassen, wenn der Kunde nach Abzug etwaiger Anzahlungen mit Zahlungsverpflichtungen in Höhe des Doppelten der maßgeblichen Abschlagszahlung, mindestens aber mit einem Betrag von 100 € in Verzug ist. Dies ist hier der Fall. Die erforderliche Androhung der Versorgungsunterbrechung sowie die weiter vorgesehenen Mitteilungen sind mit Schreiben der Klägerin vom 5. Juli 2023 (Bl. 17 LGA) erfolgt.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, §§ 709, 711 ZPO.

Die Revision war nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung hat die Rechtsfrage, ob das aus mehrjährig unterbliebenen Selbstablesungen folgende Risiko bei der Anwendung von § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StromGVV auf das Versorgungsunternehmen zu verlagern ist, sodass der in § 17 Abs. 1 Satz 2 StromGVV geregelte Einwendungsausschluss schon dann nicht greift, wenn aufgrund der unterlassenen Selbstablesungen nicht ausgeschlossen werden kann, dass gemessene Verbräuche in einem etwaig fehlerbehafteten Teil-Zeitraum in einem enormen Maß über Verbräuche in vorangegangenen oder nachfolgenden Zeiträumen hinausgingen und diese Abweichungen nicht plausibel erklärbar sein könnten. Diese Rechtsfrage stellt sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen. Nach der Erfahrung des Senats mehren sich Fälle, in denen insbesondere ältere oder geschäftlich unerfahrenere Letztverbraucher über längere Zeiträume keine Selbstablesungen vornehmen, weshalb streitige Mehrverbräuche erst spät auffallen und zu erheblichen Nachforderungen führen.