Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.08.2024, Az.: L 11 AL 20/23
Mitteilungspflicht eines Arbeitslosen gegenüber dem zuständigen Sozialleistungsträger bzgl. des Umzugs
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.08.2024
- Aktenzeichen
- L 11 AL 20/23
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2024, 26985
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2024:0829.11AL20.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 20.03.2023 - AZ: S 9 AL 55/20
Rechtsgrundlage
- § 60 SGB I
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Zeigt eine Arbeitslose einen Umzug nicht unverzüglich bei der Bundesagentur für Arbeit an, entfällt hierdurch ihre Erreichbarkeit und damit auch ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld. Dies gilt auch, wenn die Arbeitslose das Arbeitslosengeld im Rahmen der sog. Nahtlosigkeitsregelung bezieht (§ 145 SGB III).
- 2.
Die Mitteilungspflicht nach § 60 SGB I (hier: bezüglich des Umzugs) besteht gegenüber dem zuständigen Sozialleistungsträger, also demjenigen Sozialleistungsträger, der die Leistung gewährt, bezüglich derer die Mitwirkungspflicht nach § 60 SGB I besteht. Die Mitteilung einer neuen Adresse bei einem anderen Sozialleistungsträger erfüllt somit in aller Regel nicht die gegenüber dem zuständigen Sozialleistungsträger bestehende Mitteilungspflicht.
- 3.
Die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X (ggf. i.V.m. § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X - ein Jahr seit Kenntnis der eine Rücknahme/Aufhebung rechtfertigenden Tatsachen) findet keine Anwendung auf § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X (Nachholung der Anhörung). Soweit der Rücknahme-/Aufhebungsbescheid innerhalb der Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ergangen ist, kann die Nachholung auch noch nach Ablauf dieser Jahresfrist wirksam nachgeholt werden (z.B. im Klageverfahren).
In dem Rechtsstreit
A.
- Klägerin und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte:
B.
gegen
Bundesagentur für Arbeit, Operativer Service Hannover, Rechtsbehelfsstelle,
vertreten durch die Geschäftsführung,
Brühlstraße 4, 30169 Hannover
- Beklagte und Berufungsklägerin -
hat der 11. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 29. August 2024 in Celle durch den Richter C. - Vorsitzender -, den Richter D. und die Richterin Dr. E. sowie durch den ehrenamtlichen Richter F. und den ehrenamtlichen Richter G. für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. März 2023 - S 9 AL 55/20 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte erstattet der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung der Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) für die Zeit vom 2. September bis 17. Dezember 2019 sowie um den von der Beklagten diesbezüglich geltend gemachten Erstattungsanspruch in Höhe von 1.269,14 Euro. Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen das der Klage aus verfahrensrechtlichen Gründen stattgebende erstinstanzliche Urteil (Anhörungsmangel nach § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X).
Die 1996 geborene Klägerin absolvierte ab dem 1. August 2016 eine Berufsausbildung zur medizinischen Fachangestellten. Wegen langandauernder Arbeitsunfähigkeit bezog sie bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 4. Mai 2019 von ihrer Krankenkasse Krankengeld und meldete sich zum 5. Mai 2019 bei der Beklagten arbeitslos. Die Beklagte ging von einer langfristigen Leistungsunfähigkeit der Klägerin aus (vgl. hierzu: Gutachtliche Stellungnahme der Ärztin H. vom 21. April 2019, Blatt 40 VA - die Blattzahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen der in eine PDF-Datei umgewandelten elektronischen Verwaltungsakte der Beklagten) und bewilligte der Klägerin gemäß § 145 SGB III Alg für eine Anspruchsdauer von 360 Kalendertagen (5. Mai 2019 bis 3. Mai 2020) mit einem täglichen Leistungsbetrag von 14,26 EUR (vgl. im Einzelnen: Bewilligungsbescheid vom 3. Mai 2019). Gleichzeitig forderte die Beklagte die Klägerin auf, einen Reha-Antrag beim Rentenversicherungsträger zu stellen. Dies erfolgte im Mai 2019, woraufhin die I. (J.) K. eine Reha-Maßnahme bewilligte (Bescheid vom 1. Oktober 2019), welche die Klägerin dann in der Zeit vom 4. Februar bis 3. März 2020 absolvierte.
Im Alg-Antragsformular bestätigte die Klägerin mit ihrer Unterschrift, das "Merkblatt 1 für Arbeitslose" erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben (Antrag vom 20. März 2019, Eingang beim Beklagten am 22. März 2019, Blatt 8 VA). In diesem Merkblatt wird auf Seite 8 (unter der Überschrift "Das Wichtigste vorweg") u.a. ausgeführt: "Bitte melden Sie Ihrer Agentur für Arbeit vorab jeden Umzug oder eine geplante Ortsabwesenheit (Urlaub/ Reise)". Auf Seite 65/66 (unter der Überschrift "Weitere Pflichten die Sie beachten sollten") wird ausgeführt: "Insbesondere müssen Sie Ihre Agentur für Arbeit sofort benachrichtigen, wenn (...) sich Ihre Anschrift ändert". Zur Verfügbarkeit bzw. Erreichbarkeit weist das Merkblatt u.a. darauf hin, dass nach einem Umzug auch "bei einem gestellten Nachsendeantrag keine Erreichbarkeit vorliegt" (Seite 28 des Merkblattes).
Am 18. Dezember 2019 teilte die Klägerin der Beklagten telefonisch mit, dass sie bereits am 1. September 2019 umgezogen sei (neue Wohnadresse: L. 7, M.). Diese Anschrift war auch bereits im Reha-Bewillungsbescheid der J. K. vom 1. Oktober 2019 (Eingang bei der Beklagten: 7. Oktober 2019) als Wohnanschrift der Klägerin genannt worden (Blatt 62 VA).
Die Beklagte stellte daraufhin die Alg-Zahlung vorläufig ein und wies die Klägerin auf die Notwendigkeit einer erneuten Arbeitslosmeldung hin. Nach erfolgter erneuter Arbeitslosmeldung bewilligte die Beklagte mit Bewilligungsbescheid vom 22. Januar 2020 wiederum Alg, nunmehr für die Zeit vom 19. Dezember 2019 bis 19. August 2020 bei einer Restanspruchsdauer von 242 Kalendertagen (täglicher Leistungsbetrag: unverändert 14,26 EUR; vgl. zur Verlängerung der Anspruchsdauer wegen des Übergangsgeldbezugs während der Reha-Maßnahme: Bewilligungsbescheid vom 4. März 2020 - Anspruchsdauer bis zum 18. September 2020; zur Verlängerung der Anspruchsdauer aufgrund der Corona-Sondervorschriften: Bescheid vom 24. Juli 2020 - Anspruchsdauer bis zum 18. Dezember 2020).
Mit Schreiben vom 7. Januar 2020 hörte die Beklagte die Klägerin zu der im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Aufhebung und Rückforderung des für die Zeit ab 2. September 2019 gewährten Alg an. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass die Klägerin umgezogen sei, ihre neue Anschrift der Beklagten jedoch nicht bzw. nicht rechtzeitig mitgeteilt habe. Damit sei die Klägerin nicht erreichbar gewesen und habe somit auch keinen Anspruch auf Alg gehabt. Das für die Zeit ab 2. September 2019 i.H.v. 1.269,14 EUR gezahlte Alg sei zu erstatten. Weitere Angaben zur Rechtsgrundlage der beabsichtigten Entscheidung oder zu den subjektiven Voraussetzungen der Aufhebungsentscheidung enthielt das Anhörungsschreiben nicht (Bl. 75 VA).
Die Klägerin entschuldigte sich daraufhin für die wegen "Umzugsstress" verspätete Mitteilung der neuen Anschrift. Sie habe einen Nachsendeauftrag erteilt und sei somit erreichbar gewesen. Sie bitte, auf die Rückforderung zu verzichten, zumal sie sowieso aus Krankheitsgründen (§ 145 SGB III) nicht zur Verfügung gestanden habe. Vermittlungsbemühungen habe es wegen der Krankheit bislang nicht gegeben. Diese würden auch erst dann aufgenommen, wenn die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt sei (Bl. 77 VA).
Die Beklagte hob daraufhin die Alg-Bewilligung mit dem im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Bescheid vom 22. Januar 2020 rückwirkend ab 2. September 2019 gemäß § 48 SGB X i. V. m. § 330 Abs. 3 SGB III auf. Die Klägerin sei ab 2. September 2019 nicht mehr verfügbar gewesen, weil sie nicht mehr postalisch erreichbar gewesen sei. Auch wenn sie sich den Vermittlungsbemühungen nicht zur Verfügung habe stellen müssen, hätten jegliche Änderungen rechtzeitig bekannt gegeben werden müssen. Der für die Zeit vom 2. September bis 30. November 2019 überzahlte Betrag i.H.v. 1.296,14 EUR sei gemäß § 50 SGB X zu erstatten. Ausführungen zu den subjektiven Voraussetzungen der Aufhebungsentscheidung enthielt der Bescheid nicht.
Mit ihrem hiergegen am 20. Januar 2020 eingelegten Widerspruch wies der Bevollmächtigte der Klägerin nochmals darauf hin, dass die Verfügbarkeit der Klägerin lediglich nach Maßgabe des § 145 SGB III fingiert worden sei, so dass es auf die tatsächliche Erreichbarkeit gar nicht ankomme. Die Klägerin habe eben gerade nicht damit rechnen müssen, Aufforderungen für Bewerbungen o.ä. zu erhalten. Zudem habe die Klägerin einen Nachsendeauftrag erteilt.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 2020 zurück und führte ergänzend aus, dass die Klägerin aufgrund des nicht rechtzeitig mitgeteilten Umzugs in der Zeit vom 2. September bis 17. Dezember 2019 nicht erreichbar gewesen sei. Ein Postnachsendeauftrag oder z.B. eine Postübermittlung durch Familienangehörige genüge - wie bereits im Merkblatt ausgeführt - für die Erreichbarkeit nicht. Die Alg-Bewilligung sei gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III rückwirkend zum 2. September 2019 aufzuheben gewesen. Die Klägerin habe u.a. angesichts der einschlägigen Hinweise im Merkblatt ihre Mitteilungspflichten nach § 60 Abs. 1 SGB I zumindest grob fahrlässig verletzt.
Mit ihrer am 3. Dezember 2020 beim Sozialgericht Hannover erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Vorbringen vertieft, wonach es bei einem Bezug von Alg im Rahmen der sog. Nahtlosigkeitsregelung (§ 145 SGB III) nicht auf die Erreichbarkeit ankomme. Zumindest könne der Klägerin kein grob fahrlässiges Verhalten vorgeworfen werden. Mangels fehlender objektiver Verfügbarkeit der Klägerin dürften an die Voraussetzungen für die subjektive Verfügbarkeit keine hohen Anforderungen gestellt werden. Im Rahmen der vorzunehmenden Ermessensentscheidung hätte zumindest geprüft werden müssen, ob überhaupt eine Konstellation denkbar gewesen wäre, bei der die sog. Unerreichbarkeit der Klägerin tatsächlich zu einem Schaden für die Versichertengemeinschaft hätte führen können.
Die Beklagte ist dagegen der Auffassung gewesen, dass auch im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung keine Sonderregelungen für die subjektive Verfügbarkeit gelten. Ermessen habe bei der angegriffenen Entscheidung nicht ausgeübt werden dürfen bzw. müssen.
Nachdem das SG für den 20. März 2023 Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt und das persönliche Erscheinen der Klägerin angeordnet hatte, erfolgte unter dem 14. März 2023 ein umfangreicher richterlicher Hinweis: Es sei bei der Vorbereitung des Termins aufgefallen, dass der angefochtene Bescheid wegen Anhörungsmangels rechtswidrig sein dürfte. Im Anhörungsschreiben sei keine Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung genannt worden, im angefochtenen Bescheid lediglich "§ 48 SGB X". Erstmals im Widerspruchsbescheid sei mitgeteilt worden, dass die Aufhebung auf eine grob fahrlässige Verletzung von Mitteilungspflichten gestützt werde. Eine fehlerfreie Anhörung sei bislang nicht nachgeholt worden und komme angesichts der für eine Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X geltenden Jahresfrist (§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X) auch nicht mehr in Betracht. Die Beteiligten würden um Stellungnahme gebeten, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe.
Die Beteiligten haben darauf jeweils ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, wobei die Beklagte zugleich darauf hingewiesen hat, dass aus ihrer Sicht die Heilung eines Anhörungsmangels bei einem innerhalb der Jahresfrist ergangenen Aufhebungsbescheid auch noch nach Ablauf der Jahresfrist möglich sei (Schriftsatz vom 15. März 2023). Mit Schriftsatz vom 16. März 2023 (Eingang beim SG am selben Tag) hat die Beklagte mitgeteilt, das Anhörungsverfahren aufgrund des richterlichen Hinweises nachzuholen. Hierfür werde die Aussetzung des Verfahrens beantragt. Anschließend hat die Beklagte ihr an den Bevollmächtigten der Klägerin adressiertes Anhörungsschreiben vom 17. März 2019 zur Gerichtsakte gereicht (Schriftsatz vom 17. März 2023, Eingang beim SG am selben Tag).
Das SG hat am 20. März 2023 ohne mündliche Verhandlung entschieden und der Klage stattgegeben. Vor Erlass des streitbefangenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides sei eine ordnungsgemäße Anhörung nicht erfolgt und auch nicht wirksam nachgeholt worden. Das Anhörungsschreiben habe weder die konkrete Rechtsgrundlage der beabsichtigten Entscheidung genannt noch der Klägerin die Möglichkeit gegeben, zu den Voraussetzungen einer Aufhebung der Leistungsbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit Stellung zu nehmen. Dieser Anhörungsmangel sei auch im Widerspruchsverfahren nicht geheilt worden, weil der angefochtene Bescheid ebenfalls weder die konkrete Rechtsgrundlage benannt noch Ausführungen zu den subjektiven Voraussetzungen der Aufhebung gemäß § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X enthalten habe. Im Klageverfahren sei die Anhörung nicht wirksam nachgeholt worden. Die von der Beklagten zuletzt beantragte Aussetzung des Verfahrens (zwecks Nachholung der Anhörung) sei nicht sachdienlich, weil die für die Aufhebung der Bewilligung geltende Jahresfrist nach §§ 48 Abs. 4 Satz 1, 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X bereits verstrichen sei.
Gegen das der Beklagten am 4. April 2023 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 28. April 2023 eingelegte Berufung. Sie trägt zum Sachverhalt ergänzend vor, dass sich die Klägerin auf das (erneute) Anhörungsschreiben vom 17. März 2023 nicht geäußert und die Beklagte ihr daraufhin mitgeteilt habe, dass die Beklagte auch nach erneuter Anhörung an ihrer Entscheidung festhalte (Schreiben vom 26. April 2023). Das Urteil des SG leide unter einem Verfahrensfehler, so dass sich die Frage einer Aufhebung und Zurückverweisung stelle. Das SG habe nicht durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Mit dem am 17. März 2023 gestellten Antrag auf Aussetzung des Verfahrens (zwecks Nachholung der Anhörung) sei die von der Beklagten zuvor erklärte Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung hinfällig geworden, auch unter dem Gesichtspunkt einer geänderten Prozesssituation. Entgegen der Auffassung des SG gelte für die Nachholung der Anhörung im gerichtlichen Verfahren auch nicht die Jahresfrist der §§ 48 Abs. 4 Satz 1, 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X (vgl. hierzu im Einzelnen: Seite 4 und 5 der Berufungsbegründung). Zudem sei zwischenzeitlich - unabhängig von der Notwendigkeit - eine vollumfängliche Anhörung nachgeholt worden. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid sei auch materiell-rechtlich rechtmäßig. Die Erreichbarkeitsanordnung gelte auch im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung (Bezugnahme auf Böttiger/Körtek/Schaumberg, SGB III, 3. Auflage 2019 § 145 Rn. 5). Es werde nur die objektive, nicht aber auch die subjektive Verfügbarkeit fingiert. Das Verfahren sei wegen der gebotenen schnellen Klärung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich auf eine enge Kontaktdichte angelegt. Aufgrund der eindeutigen Vorgaben im Antragsformular, im "Merkblatt 1 für Arbeitslose" und im Bewilligungsbescheid habe auch der Klägerin unmittelbar einleuchten müssen, dass sie ihren Umzug umgehend melden müsse und die Verletzung der Mitteilungspflicht leistungsrechtliche Folgen haben werde. Die Notwendigkeit einer rechtzeitigen Umzugsmeldung sowie die leistungsrechtlichen Folgen seien der Klägerin von der Beklagten zudem sowohl anlässlich des Telefonats am 18. Dezember 2019 als auch anlässlich der (erneuten) persönlichen Arbeitslosmeldung am 19. Dezember 2019 erläutert worden. Soweit die neue Adresse in dem der Beklagten von der J. K. zur Kenntnis zugeleiteten Reha-Bewilligungsbescheid enthalten gewesen sei, sei dieses Schreiben nicht so gefasst gewesen, dass der Beklagten - wie bei einer Veränderungsmitteilung durch die Klägerin selbst - diese Anschriftenänderung hätte ins Auge springen müssen. Zudem habe die Verpflichtung, einen Umzug rechtzeitig mitzuteilen, gegenüber der Beklagten bestanden. Eine Umzugsmeldung gegenüber der J. K. reiche nicht aus, zumal die J. K. nicht verpflichtet sei, die neue Adresse der Beklagten mitzuteilen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. März 2023 - S 9 AL 55/20 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass die erstinstanzliche Entscheidung auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Beklagten aufrechtzuerhalten sei. Die Ausführungen der Beklagten zu den Rechtsfolgen des Telefonats mit der Klägerin am 18. Dezember 2019 überzeugten in keinster Weise. Eine Zurückverweisung des Verfahrens an das SG habe nicht zu erfolgen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten übersandten Verwaltungsvorgänge sowie die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 22. Januar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2020 ist rechtmäßig. Das erstinstanzliche Urteil unterliegt daher der Aufhebung.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Alg-Bewilligung für die Zeit vom 2. September bis zum 17. Dezember 2019 ist § 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2. SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III.
Nach diesen Vorschriften ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (hier: Bewilligungsbescheid vom 3. Mai 2019) aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die Aufhebung hat mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse zu erfolgen, soweit die Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist.
In den Verhältnissen, die beim Erlass des Bewilligungsbescheides vom 3. Mai 2019 vorgelegen hatten, war es durch den Umzug der Klägerin am 1. September 2019 zu einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse gekommen. Schließlich war der Beklagten mangels entsprechender unverzüglicher Umzugsmeldung ab 2. September 2019 die aktuelle Postanschrift der Klägerin nicht mehr bekannt, so dass die Klägerin ab diesem Tag für die Beklagte auch nicht mehr erreichbar war. Die Klägerin konnte seitdem nicht mehr - wie in § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können - Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) vorgeschrieben - Mitteilungen des Arbeitsamtes unverzüglich zur Kenntnis nehmen. Hierfür hätte die Klägerin auch weiterhin sicherstellen müssen, dass die Beklagte sie persönlich an jedem Werktag an ihrem Wohnsitz oder an ihrem gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihr benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann (§ 1 Satz 1 Satz 2 EAO). Briefsendungen der Arbeitsagentur konnten die Klägerin seit dem 2. September 2019 jedoch nicht mehr unter der von ihr der Beklagten genannten Anschrift (N. 9, M.) erreichen, weil die Klägerin dort seit dem 1. September 2019 nicht mehr wohnte. Eine unverzügliche Erreichbarkeit i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EAO wurde auch durch den von der Klägerin unstreitig erteilten Postnachsendeauftrag nicht erreicht (BSG, Urteil vom 20. Juni 2001 - B 11 AL 10/01 R).
Entgegen der Auffassung der Klägerin lagen auch die Voraussetzungen einer Aufhebung der Leistungsbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X vor.
Die Klägerin war zur Aufrechterhaltung ihrer Erreichbarkeit gemäß § 60 SGB I verpflichtet, der Beklagten unverzüglich jede Änderung ihrer Wohnanschrift mitzuteilen. Dies erfolgte jedoch nicht unverzüglich (also im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem am 1. September 2019 erfolgten Umzug), sondern erst am 18. Dezember 2019.
Diese Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 60 SGB I war zumindest grob fahrlässig i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X. Schließlich war die Klägerin durch das ihr überreichte "Merkblatt 1 für Arbeitslose" ausdrücklich und mehrfach darauf hingewiesen worden, dass etwaige Umzüge unverzüglich der Beklagten mitzuteilen seien. Den Erhalt und die Kenntnisnahme des Merkblattes hatte die Klägerin mit ihrer Unterschrift unter den Leistungsantrag vom 20. März 2019 (Eingang beim Beklagten: 22. März 2019) ausdrücklich bestätigt. Zudem hatte sie sich im Antragsformular mit ihrer Unterschrift ausdrücklich dazu verpflichtet, etwaige Änderungen unverzüglich anzuzeigen.
Dass die Klägerin ihre neue Adresse möglicherweise der J. mitgeteilt hatte (vgl. hierzu: Reha-Bewilligungsmitteilung der J. an die Beklagte vom 1. Oktober 2019, in der die neue Adresse der Klägerin genannt war), führt zu keinem Ergebnis. Die Klägerin konnte der ihr gemäß § 60 SGB I gegenüber der Beklagten obliegenden Mitteilungspflicht nicht dadurch nachkommen, dass sie ihre neue Anschrift anstatt der Beklagten (nur) der J. mitteilt. Der Beklagten kann auch nicht unterstellt werden, dass sie die neue Anschrift bei Erhalt der Reha-Mitteilung bemerkt hat. Wäre dies der Fall gewesen, hätte die Beklagte bereits im Oktober 2019 und nicht erst im Dezember 2019 die Alg-Leistungsgewährung vorläufig eingestellt und für die Zeit davor von der Klägerin erstattet verlangt. Die Anschriftenänderung war nicht so offensichtlich (bzw. in den Worten der Beklagten: "ins Auge springend"), dass die Beklagte den Umzug ohne Weiteres bzw. zwingend hätte erkennen können. Vielmehr befand sich die (neue) Anschrift der Klägerin im Fließtext der Mitteilung der J.. Für die Beklagte bestand damals kein Anlass, die Aktualität der Anschrift der Klägerin ohne äußeren Anlass fortlaufend verfahrensbegleitend zu überprüfen. Die Mitteilung einer etwaigen Wohnsitzänderung oblag gemäß § 60 SGB I vielmehr - wie bereits ausgeführt - (allein) der Klägerin.
Der von der Klägerin im Rahmen der Anhörung angeführte "Umzugsstress" steht der Annahme einer groben Fahrlässigkeit nicht entgegen. Ein solcher Umzugsstress könnte zwar möglicherweise eine um wenige Tage verzögerte Umzugsmeldung rechtfertigen, nicht jedoch eine erst mehr als 2,5 Monate nach dem Umzug erfolgende Umzugsmeldung. Dies gilt auch deshalb, weil die Beklagte die Klägerin in dem ihr ausgehändigten Merkblatt ausdrücklich zu einer vorherigen Mitteilung des Umzugs aufgefordert hatte. Die Klägerin hätte ihren Umzug somit bereits vor dem eigentlichen Umzug und somit schon vor Beginn des "Umzugsstresses" der Beklagten mitteilen können.
Der Umstand, dass die Klägerin im streitbefangenen Zeitraum Alg im Rahmen der sog. Nahtlosigkeitsregelung (§ 145 SGB III) bezogen hat, führt zu keinem anderen Ergebnis. Durch die Nahtlosigkeitsregelung nach § 145 SGB III wird - worauf die Beklagte zutreffend hingewiesen hat - lediglich die objektive Verfügbarkeit fingiert, nicht dagegen die subjektive Verfügbarkeit (so auch ausdrücklich: BSG, Beschluss vom 25. November 1998 - B 11 AL 21/98 BH, Rn. 2). Die Fiktionswirkung greift hinsichtlich der objektiven Verfügbarkeit zudem nur, soweit der Versicherte die Tatbestandsmerkmale der Arbeitslosigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllt; alle vom gesundheitlichen Leistungsvermögen unabhängigen Tatbestandsvoraussetzungen müssen dagegen tatsächlich vorliegen (vgl. BSG, Urteil vom 21. März 2007 - B 11a AL 31/06 R, Rn. 21; ebenso etwa: Valgolio in: Hauck/Noftz SGB III, 5. Ergänzungslieferung 2024, § 145 SGB III, Rn. 38; Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 3. Aufl., § 145 SGB III (Stand: 15.01.2023), Rn. 36; Müller in: BeckOK SozR, 73. Edition - Stand 1.06.2024, § 145 SGB III, Rn. 5; Brand, SGB III, 9. Aufl. 2021, § 145 Rn. 2; Kallert in: Knickrehm/Roßbach/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 8. Aufl. 2023, § 145 SGB III, Rn. 9 - "Monokausalität"). Ein auf einem anderen Grund beruhender Wegfall der Verfügbarkeit lässt somit auch im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung den Alg-Anspruch entfallen (Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, a.a.O; Gisela Lauer in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz, Sozialgesetzbuch III - Arbeitsförderung, SGB III § 145 Rn. 11), also auch die Nichterreichbarkeit i.S.d. EAO (so ausdrücklich: Böttiger/Körtek/Schaumberg, SGB III, 3. Auflage 2019 § 145 Rn. 5; derselbe in: jurisPR-SozR 11/2018 Anm. 5; Hlava in: BeckOGK (ehemals: Gagel, SGB II / SGB III), Stand: 1.11.2023, § 145 SGB III, Rn. 30).
Entgegen der Auffassung des SG erweist sich der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid auch - zumindest im Ergebnis - als verfahrensrechtlich rechtmäßig.
Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ist innerhalb der gemäß § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X maßgeblichen Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ergangen (Kenntnis vom Umzug durch telefonische Mitteilung der Klägerin am 18. Dezember 2019; Erlass des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides am 22. Januar 2020). Der Bescheid war zwar - wie das SG zutreffend und nicht ergänzungsbedürftig dargelegt hat - ohne ordnungsgemäße Anhörung nach § 24 SGB X ergangen, weil die Klägerin bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens keine Gelegenheit hatte, zu den subjektiven Voraussetzungen der von der Beklagten beabsichtigten Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit Stellung zu nehmen. Allerdings hat die Beklagte die Klägerin noch vor Abschluss der letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens mit Schreiben vom 17. März 2023 zu allen für die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung maßgeblichen Tatsachen angehört und - nach Ausbleiben einer Antwort der Klägerin - mitgeteilt, nach nochmaliger Anhörung an der bisherigen Entscheidung festzuhalten (Schreiben vom 26. April 2023). Damit hat die Beklagte entsprechend den Vorgaben des BSG die erforderliche Anhörung im gerichtlichen Verfahren wirksam nachgeholt (vgl. hierzu etwa: BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R).
Entgegen der Auffassung des SG konnte die Beklagte die Anhörung auch noch im März 2023 nachholen. Die Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X (Aufhebung nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Aufhebung eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen) gilt nicht für die Nachholung einer Anhörung. Eine solche zeitliche Beschränkung sieht § 41 SGB X nicht vor (so ausdrücklich auch: Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl. (Stand: 15.11.2023), § 41 SGB X, Rn. 70). Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BSG vom 26. Juli 2016 - B 4 AS 47/15 R zu den Voraussetzungen einer Aussetzung des Verfahrens nach § 114 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Rn. 30,31 der Entscheidung (zitiert nach juris). Der dortige Beklagte hatte - anders als im vorliegenden Fall - den Erlass eines neuen Bescheides nach erfolgter Nachholung der Anhörung angekündigt, während im vorliegenden Verfahren um die Nachholung der Anhörung eines bereits innerhalb der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erlassenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides gestritten wird. Ergänzend verweist der Senat auf die aus seiner Sicht zutreffenden Ausführungen von Gräf in SGb 2021, 553 (556f.), wonach sich weder aus der Entscheidung des BSG vom 26. Juli 2016, a.a.O., noch aus der Entscheidung des BSG vom 22. August 2012 - B 14 AS 103/11 R ergibt, dass die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X auch für die Nachholung der Anhörung gilt. Hiermit in Übereinstimmung hat das BSG z.B. bei einer erst im Jahr 2013 im (zurückverwiesenen) Berufungsverfahren erfolgten nachträglichen Anhörung die Heilung eines Rücknahme- und Erstattungsbescheides aus dem Jahr 2007 nach § 41 SGB X angenommen (BSG, Urteil vom16.3.2017 - B 10 LW 1/15 R). Dies wäre nicht erfolgt, wenn für die nachträgliche Anhörung die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X Anwendung finden würde.
Der Erstattungsanspruch ergibt sich aus § 50 SGB X. Rechenfehler sind weder ersichtlich noch von der Klägerin geltend gemacht worden.
Nach alledem erweist sich die Berufung der Beklagten als in der Sache vollumfänglich begründet, so dass das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen ist.
Aufgrund des Erfolgs in der Sache kann der Senat offenlassen, ob die erstinstanzliche Entscheidung unter Verfahrensfehlern leidet (Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens; Entscheidung ohne mündliche Verhandlung). Zudem bzw. unabhängig davon hält der Senat eine Zurückverweisung an das SG (§ 159 SGG) im vorliegenden Fall aus Gründen der Prozessökonomie für untunlich. Das Verfahren ist entscheidungsreif, so dass es im Interesse aller Beteiligten liegt, dass der Senat abschließend entscheidet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Beklagte hat trotz ihres Obsiegens in der Sache die Kosten der Klägerin zu tragen, weil die nach § 24 SGB X schon für das Verwaltungsverfahren vorgeschriebene Anhörung erst im gerichtlichen Verfahren nachgeholt worden ist (Rechtsgedanke des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X; vgl. hierzu auch: Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl. (Stand: 15.11.2023), § 41 SGB X, Rn. 36).
Gründe, für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.