Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 24.04.2025, Az.: 1 Ws 105/25
Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen und für das gesamte Strafverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 24.04.2025
- Aktenzeichen
- 1 Ws 105/25
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2025, 14191
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2025:0424.1WS105.25.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 23.01.2024 - AZ: 1 KLs 800 Js 53268/23 (3/24)
Rechtsgrundlage
- § 120 Abs. 1 S. 1 StPO
Fundstellen
- ZAP EN-Nr. 284/2025
- ZAP 2025, 525
Amtlicher Leitsatz
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gilt für das gesamte Strafverfahren und ist auch nach Einlegung der Revision zu beachten.
In der Strafsache
gegen
E ,
geboren am ..... in H.,
derzeit Justizvollzugsanstalt , ........
Verteidiger:
Rechtsanwalt N., ....
Rechtsanwalt Prof. Dr. P.
Rechtsanwalt Prof. Dr. N., ....
Prof. Dr. E. ........
wegen Handeltreibens mit Cannabis
hier: Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Braunschweig vom 1. April 2025
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
am 24. April 2025 beschlossen:
Tenor:
- 1.
Auf die Beschwerde des Angeklagten vom 3. April 2025 werden der Haftbefehl des Landgerichts Braunschweig vom 23. Januar 2024 und der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Braunschweig vom 1. April 2025 aufgehoben.
- 2.
Der Angeklagte ist in dieser Sache unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
- 3.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: der Angeklagte) wurde aufgrund eines auf die Haftgründe der Flucht- sowie der Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Braunschweig vom 20. September 2023 (Az.: 7 Gs 2491/23) am selben Tage festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Mit dem vorgenannten Haftbefehl wurden ihm Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Tatzeit: 22. Juni 2023) sowie Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Tatzeit: 16. August 2023) zur Last gelegt.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig erhob unter dem 11. Januar 2024 gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen dieser Vorwürfe zum Landgericht Braunschweig.
Darin wird dem Angeklagten im konkreten Anklagesatz Folgendes zur Last gelegt:
"1.
Am 22. Juni 2023 führte der Angeschuldigte zwischen 12:33 Uhr und 12:48 ein Gespräch mit dem gesondert verfolgten Drogenhändler (A.), bei dem er ihm mitteilte, dass er eine männliche Person kenne, die ihm beim Vertrieb seines Marihuanas helfen könne, dass diese Person sicherlich 10 Kilogramm, eventuell auch 20 von ihm erwerben würde, dass er, wenn er Glück habe, das Geld sofort erhalten werde, auf jeden Fall aber die Hälfte oder nach ein bis zwei Tagen den Gesamtbetrag. Allerdings müsse der Preis besser als 3.700,- € pro Kilogramm sein; er sei beauftragt, ihn auf 3.600,- € herunter zu handeln. Zu demselben Preis würde er das Marihuana dann weitergeben, um ihm damit einen Gefallen zu tun. Dabei ging er von Marihuana guter Qualität mit einem THC-Gehalt von mindestens 16 % aus. (A.) erklärte, dass er zu diesem Preis nicht verkaufen könne, da er auch noch die Fahrt bezahlen müsse. Ob die beiden sich in dieser Sache letztlich geeinigt haben und das Marihuana geliefert worden ist, kann nicht festgestellt werden.
2.
Am 16. August 2023 zwischen 21:36 Uhr und 21:44 Uhr verhandelte der Angeschuldigte erneut mit (A.) über den Verkauf von Marihuana guter Qualität, wobei er mindestens 6 Kilogramm zum Preis von 3.200,- € pro Kilogramm erwerben wollte, um diese an einen Vertrauten seines Onkels zum Preis von 3.300,- oder 3.400,- € pro Kilogramm weiterzuverkaufen und Gewinn bei diesem Geschäft zu machen. Ob es hier zu einem Vertragsabschluss gekommen ist, kann ebenfalls nicht festgestellt werden."
Nach Durchführung eines Haftprüfungstermins änderte die 1. große Strafkammer des Landgerichts Braunschweig den Haftbefehl mit Beschluss vom 23. Januar 2024 dahingehend ab, dass dieser (nur noch) auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt wird. Des Weiteren hat die Kammer nähere Ausführungen zum Vorliegen des dringenden Tatverdachtes sowie des Haftgrundes gemacht. Dieser (geänderte) Haftbefehl wurde dem Angeklagten noch am selben Tag verkündet.
Mit Beschluss vom 1. Februar 2024 ließ das Landgericht Braunschweig die Anklage der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 11. Januar 2024 zur Hauptverhandlung zu, eröffnete das Hauptverfahren und hielt die Untersuchungshaft aus den fortbestehenden Gründen ihrer Anordnung aufrecht. Zugleich beraumte die Kammer (zunächst) neun Hauptverhandlungstermine, beginnend mit dem 13. März 2024, an.
Eine Beschwerde des Angeklagten gegen den vorgenannten Haftfortdauerbeschluss vom 1. Februar 2024 wurde mit Senatsbeschluss vom 28. Februar 2024 als unbegründet verworfen (1 Ws 57/24).
Mit Schriftsatz vom 26. Juni 2024 beantragte der Angeklagte, den Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 20. September 2023 in der Form der Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Braunschweig vom 1. Februar 2024 aufzuheben, da die Fortdauer der Untersuchungshaft wegen der Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen unverhältnismäßig sei.
Mit Beschluss vom 1. Juli 2024 hielt das Landgericht Braunschweig den dortigen Haftbefehl vom 23. Januar 2024 (Ergänzung des Senates: in der Form des Haftfortdauerbeschlusses vom 1. Februar 2024) aufrecht. Die dagegen angebrachte Beschwerde des Angeklagte verwarf der Senat durch Beschluss vom 1. August 2024 ebenfalls als unbegründet (1 Ws 218/24).
Durch Urteil vom 30. September 2024 wurde der Angeklagte wegen (unerlaubten) Handeltreibens mit Cannabis und wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Cannabis zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zeitgleich beschloss die Kammer die Fortdauer der Untersuchungshaft nach Maßgabe des Ergebnisses der Hauptverhandlung (Bl. 102 SH Protokollband, Anlage z. Protokoll vom 30. September 2024).
Die Kammer sah die angeklagten Vorwürfe als erwiesen an. Das Urteil vom 30. September 2024, auf dessen schriftliche Urteilsgründe (Bl. 177 ff. Bd. I d. Beschwerdeheftes, im Folgenden: BeschwH = Bl. 22 ff. Bd. VI d.A.) wegen der Einzelheiten verwiesen wird, ist nicht rechtskräftig. Über die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft - die das Ziel einer deutlich höheren Strafe verfolgte, ihre Revision aber zwischenzeitlich offenbar zurückgenommen hat - ist noch nicht entschieden.
Mit Schreiben vom 25. Oktober 2024 beantragte der Angeklagte die Aufhebung - hilfsweise die Außervollzugsetzung - des Haftbefehls in der Fassung des bei der Urteilsfällung am 30. September 2024 gefassten Haftfortdauerbeschlusses. Daraufhin hielt das Landgericht Braunschweig mit Beschluss vom 1. November 2024 den Haftbefehl vom 23. Januar 2024 (Ergänzung des Senates: in der Form des Haftfortdauerbeschlusses vom 30. September 2024) aufrecht. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten vom 18. November 2024 verwarf der Senat mit Beschluss vom 12. Dezember 2024 (ebenfalls) als unbegründet (1 Ws 302/24).
Das schriftliche Urteil gelangte am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle (Bl. 22 Bd. VI d. A.).
Unter dem 23. Dezember 2024 zeigte Rechtsanwalt Prof. Dr. N. unter Vorlage einer entsprechenden schriftlichen Vollmacht an, vom Angeklagten mit seiner Vertretung im Revisionsverfahren beauftragt worden zu sein, und bat in Abstimmung mit dem weiteren Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Prof. Dr. P., darum, die Zustellung des schriftlichen Urteils an ihn zu veranlassen. Die Vorsitzende verfügte daraufhin unter dem 3. Januar 2025 die Zustellung des schriftlichen Urteils an Rechtsanwalt Prof. Dr. N. gegen Empfangsbekenntnis (Bl. 65 Bd. VI d.A.). Diese Verfügung wurde aus nicht in der Akte dokumentierten Gründen nicht ausgeführt. Unter dem 6. Januar 2025 (Bl. 67 Bd. VI d.A.) verfügte die Vorsitzende sodann die Zustellung des Urteils nebst Protokollabschrift und elektronischem Aktendoppel an die Verteidiger des Angeklagten. Wann diese Verfügung ausgeführt worden ist, ist in dem dem Senat vorgelegten elektronischen Aktendoppel nicht vermerkt.
Das Hauptverhandlungsprotokoll wurde am 6. Januar 2025 fertiggestellt (vgl. Bl. 82 d. SH Protokollband).
Eine mit anwaltlichem Schreiben vom 25. Februar 2025 gegen den Haftbefehl vom 20. September 2023 in der Fassung vom 23. Januar 2024 eingelegte Beschwerde des Angeklagten verwarf der Senat mit Beschluss vom 13. März 2025 (1 Ws 69/25) als unzulässig.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers (Rechtsanwalt Prof. Dr. P.) vom 28. März 2025 beantragte der Angeklagte erneut die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung (Bl. 48 f. Bd. II d. BeschwH). Der Verteidiger ist der Auffassung, die Fortdauer der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig. Der Angeklagte befinde sich in vorliegender Sache bereits seit dem 20. September 2023 ununterbrochen in Untersuchungshaft und habe mithin schon einen Großteil der ausgeurteilten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verbüßt. Eine höhere Strafe habe er nicht mehr zu erwarten, nachdem die Staatsanwaltschaft zwischenzeitlich ihre Revision zurückgenommen habe. Im Nachgang zur Urteilsverkündung sei es zudem zu einem - nach Ansicht des Verteidigers weiteren - Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz gekommen. Denn obgleich die schriftlichen Urteilsgründe bereits am 22. November 2024 zu den Akten gebracht waren, seien sie dem Angeklagten - aufgrund der Verfügung der Vorsitzenden vom 6. Januar 2025 und jeweils mit gerichtlichem Begleitschreiben vom 14. Januar 2025 - erst am 16. Januar 2025 und den Revisionsverteidigern sogar erst am 20. Januar 2025 zugestellt worden.
Die Kammer hat, nach vorangegangener Beteiligung der Staatsanwaltschaft Braunschweig, mit Beschluss vom 1. April 2025 (Bl. 54 f. Bd. II d. BeschwH) den Haftbefehl vom 23. Januar 2024 (Ergänzung des Senates: in der Form des Fortdauerbeschlusses vom 1. November 2024) aufrechterhalten. Hinsichtlich der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe und deren Zustellung hat sie ausgeführt, eine frühere Abfassung sei aufgrund einer parallel laufenden Urteilsabsetzungsfrist in einem anderen Umfangsverfahren (Az. 1 Ks 3/14; Anm. d. Senates: gemeint sein dürfte: 1 Ks 3/24) nicht möglich gewesen. Eine frühere Urteilszustellung habe ebenfalls nicht erfolgen können, da das Protokoll der Hauptverhandlung aufgrund des Umfangs der Sache erst am 6. Januar 2025 habe fertiggestellt werden können (§ 273 Abs. 4 StPO).
Gegen diese Haftfortdauerentscheidung vom 1. April 2025 wendet sich der Angeklagte mit seiner durch Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt Prof. Dr. P. vom 3. April 2025 (Bl. 57 f. Bd. II d. BeschH) eingelegten Beschwerde.
Die Kammer hat der Beschwerde mit Beschluss vom 8. April 2025 nicht abgeholfen (Bl. 61 Bd. II d. BeschwH) und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat dem Senat die Akten am 11. April 2025 vorgelegt. Mit Ihrer Stellungnahme vom 9. April 2025 (Bl. 62 ff. Bd. II d. BeschwH) hat sie beantragt, die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 1. April 2025 als unbegründet zu verwerfen. Sie hält die Fortdauer der Untersuchungshaft für weiterhin verhältnismäßig. Dass die Zustellung der bereits am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle gelangten schriftlichen Urteilsgründe erst nach Fertigstellung des Protokolls am 6. Januar 2025 verfügt wurde, stelle keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar. Zwar möge in der Dauer der Fertigstellung eine Verzögerung liegen, die auf gerichtsorganisatorischen Begebenheiten beruhe. Eine Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft begründe diese jedoch nicht. Die Fertigstellung des Protokolls bis zum 6. Januar 2025 stelle noch eine angemessene Frist dar. Der Angeklagte habe sich zum Zeitpunkt der Urteilszustellung seit 15 Monaten in Untersuchungshaft befunden. Angesichts der zu erwartenden Freiheitsstrafe sei die Verzögerung von sechs Wochen nicht geeignet, die Fortdauer der Untersuchungshaft als unverhältnismäßig anzusehen. Dabei seien auch die in dem Verfahren 8 KLs 60/19 ausgeurteilte Gesamtfreiheitsstrafe und nach dem zu erwartenden Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Verfahren 802 Js 29466/16 VRs zu berücksichtigen.
Auf Nachfrage des Senates vom 11. April 2025 hat die 8. große Strafkammer des Landgerichts Braunschweig mit Schreiben vom 14. April 2025 mitgeteilt, dass die schriftlichen Gründe des Urteils vom 17. März 2025 in dem Verfahren 8 KLs 806 Js 5810/19 (60/19) noch nicht vorlägen; die Urteilsabsetzungsfrist dauere - nach 48 Verhandlungstagen - noch an. Ob bereits zu einem früheren Zeitpunkt mit der Fertigstellung gerechnet werden könne, sei derzeit nicht absehbar.
Weil sich bei dem dem Senat vorgelegten Beschwerdeheft nur ein elektronisches Aktendoppel mit Stand 15. Juli 2024 befand und selbst das in Rede stehende Hauptverhandlungsprotokoll nicht enthalten war, hat der Senat das Landgericht unter dem 15. April 2025 um Vorlage eines vollständigen Aktendoppels inklusive des Protokolls aufgefordert. Das Landgericht hat daraufhin dem Oberlandesgericht am 16. April 2025 ein elektronisches Aktendoppel vorgelegt, welches indes mit der o.g. Verfügung der Kammervorsitzenden betreffend die Urteilszustellung endet.
Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 23. April 2025, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird, für den Angeklagten weiter vorgetragen.
II.
Die gegen die Haftfortdauerentscheidung der Kammer vom 1. April 2025 gerichtete Beschwerde des Angeklagten ist statthaft (§§ 304 Abs. 1, 305 Satz 2 StPO), formgerecht angebracht (§ 306 Abs. 1 StPO) und auch sonst zulässig.
Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen unverhältnismäßig. Denn das Landgericht hat es unterlassen, zeitnah nach Fertigstellung der schriftlichen Urteilsgründe diese auch an den Angeklagten bzw. seine Verteidiger zuzustellen.
1.
Allerdings besteht - soweit der Senat dies anhand des ihm vorgelegten elektronischen Aktendoppels beurteilen kann - der dringende Tatverdacht fort und es liegt auch weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Insoweit nimmt der Senat auf seine Ausführungen in seinem Beschluss über die vorangegangene Haftbeschwerde des Angeklagten vom 12. Dezember 2024 (1 Ws 302/24) unter Ziffer II. 1. und Ziffer II. 2. Bezug. Anhaltspunkte dafür, dass das Urteil vom 30. September 2024 Revisionsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, sind auch weiterhin weder erkennbar noch vorgetragen. Indes ist dem Senat insoweit eine abschließende Bewertung letztlich nicht möglich, weil die ihm seitens des Landgerichts (Anm.: am 16. April 2025) vorgelegten Akten in Form eines elektronischen Aktendoppels die Revisionsbegründungsschrift der Verteidiger des Angeklagten nicht enthalten; vielmehr enden diese - obgleich der Senat unter dem 15. April 2025 ausdrücklich um Vorlage eines vollständigen Aktendoppels gebeten hatte - mit der Verfügung der Kammervorsitzenden vom 6. Januar 2025 betreffend die Urteilszustellung. Nachdem die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten indes ohnehin aus den nachstehenden Gründen nicht fortdauern kann, hat der Senat zur Vermeidung von Verzögerungen davon abgesehen, das Landgericht erneut zur Vorlage eines vollständigen Aktendoppels aufzufordern.
2.
Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist vor dem Hintergrund der eingetretenen Verfahrensverzögerungen unverhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Das Landgericht hat es versäumt, dem Angeklagten bzw. seinen (Revisions-) Verteidigern die schriftlichen Urteilsgründe, die bereits am 22. November 2024 zu den Akten gebracht waren, zeitnah zuzustellen. Insoweit ist es insgesamt zu einer Verfahrensverzögerung von knapp zwei Monaten gekommen, welche nicht gerechtfertigt werden kann.
a.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit ein verfassungsrechtliches Beschleunigungsgebot in Haftsachen. Sowohl bei der Anordnung als auch der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden und in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich normierten Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (st. Rspr. des BVerfG, vgl. statt vieler: BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19, Rn. 46 m.w.N., zitiert nach juris).
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Fortdauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19, Rn. 47, und Stattgebender Kammerbeschluss vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18, Rn. 55, jew. zit. juris; vgl. auch bereits BVerfGE 20, 45, 49 f [BVerfG 03.05.1966 - 1 BvR 58/66]). Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19, Rn. 47, juris, m.w.N.).
Im Rahmen der von den Gerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18, Rn. 56, juris).
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19, Rn. 48, und Stattgebender Kammerbeschluss vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18, Rn. 57; jew. zit. nach juris und jew. m. w. N.). Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat müssen zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht hindern. Von dem Angeklagten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen indes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 388/09, Rn. 21, juris). Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht die Fortdauer einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu rechtfertigen (Stattgebender Kammerbeschluss vom 11. Juni 2018 - 2 BvR 819/18, Rn. 29; Stattgebender Kammerbeschluss vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18, Rn. 58; jew. zit. nach juris und jew. m. w. N.).
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gilt für das gesamte Strafverfahren und ist auch im Rechtsmittelverfahren zu beachten (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 388/09, Rn. 22, juris). Allerdings vergrößert sich mit der Verurteilung auch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht. Sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 388/09, Rn. 23, juris).
b.
Diesen von Verfassung wegen zu stellenden Anforderungen an eine beschleunigte Bearbeitung in Haftsachen ist das Landgericht im Nachgang zur Verkündung des Urteils am 30. September 2024 nicht mehr gerecht geworden.
(1)
Allerdings ist es nicht zu beanstanden, dass das vollständig abgesetzte Urteil (erst) am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle gelangt ist.
Zwar ist eine Vorgehensweise mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar, die die Urteilserstellung von vornherein auf das zeitlich fixierte Ende der Frist des § 275 Abs. 1 StPO ausrichtet (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, Rn. 68, juris). Denn bei dieser Frist handelt es sich (nur) um die (Höchst-) Frist, binnen derer nach dem Gesetz die Fertigstellung eines Urteils nach Ende der Hauptverhandlung noch als angemessen anzusehen ist. Diese Höchstfrist entbindet das Gericht in Haftsachen nicht von der Verpflichtung, die Urteilsgründe des bereits verkündeten Urteils unverzüglich, das heißt ohne vermeidbare justizseitige Verzögerungen, schriftlich niederzulegen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, Rn. 68, m. w. N., juris).
Indes hat die Kammer - wie der Verteidiger zuletzt mit Schriftsätzen vom 28. März 2025 und vom 23. April 2025 auch anerkannt hat - die gesetzliche Höchstfrist vorliegend schon nicht ausgeschöpft. Hinsichtlich der für die Urteilsabsetzung in Anspruch genommenen rund acht Wochen ist unter Berücksichtigung des Umfangs des Urteils sowie ferner auch des Umstandes, dass die Kammer parallel noch das Urteil in einem anderen Umfangsverfahren abzusetzen hatte, nichts zu erinnern.
(2)
Jedoch erweist es sich als sachlich nicht mehr gerechtfertigt, dass die Zustellung des am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle gelangten schriftlichen Urteils an die Verteidiger des Angeklagten erst am 20. Januar 2025 - und mithin erst nach rund zwei Monaten - erfolgt ist.
Die in erheblichem Maße verzögerte Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe beruht den Ausführungen der Kammer in ihrer Haftfortdauerentscheidung vom 1. April 2025 zufolge darauf, dass das Protokoll in der vorliegenden Sache "aufgrund des Umfangs der Sache" erst am 6. Januar 2025 fertiggestellt wurde.
Dass vor Fertigstellung des Protokolls die Zustellung des Urteils nicht erfolgen durfte, folgt aus dem Gesetz (§ 273 Abs. 4 StPO). Der Senat vermag indes in dem pauschalen Verweis auf den "Umfang der Sache" keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen, weshalb nach der Verkündung des Urteils am 30. September 2024 ein Zeitraum von mehr als drei Monaten erforderlich gewesen sein soll, um das Protokoll fertigzustellen.
Zwar muss das Protokoll nicht zwingend bereits bis zum Zeitpunkt der vollständigen Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe fertiggestellt sein. Jedoch hebt der Verteidiger mit Recht hervor, dass mit der Prüfung des Protokolls - insbesondere in Haftsachen - nicht erst dann zu beginnen ist, wenn das Urteil bereits vollständig abgesetzt ist. Vielmehr hätte eine angemessene, dem Freiheitsgrundrecht des inhaftierten Angeklagten gerecht werdende, Verfahrensförderung in der vorliegenden Sache geboten, dass mit der Prüfung des Protokolls unverzüglich nach der Urteilsverkündung begonnen wird. Dem hätte nach Auffassung des Senates auch nicht entgegengestanden, dass die Kammer zum damaligen Zeitpunkt durch eine parallel laufende Urteilsabsetzungsfrist in einem anderen Umfangsverfahren belastet war. Denn während die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe zunächst die Berichterstatterin gebunden hat, war die Prüfung des Protokolls Aufgabe der Kammervorsitzenden. Letztlich kann dies indes dahinstehen. Denn selbst wenn vorliegend mit der Prüfung des Protokolls erst am 22. November 2024 begonnen worden wäre, vermag der Senat nicht zu erkennen, weshalb hierfür ein Zeitraum von - weiteren - sechs Wochen erforderlich gewesen sein soll. Das Protokoll hat einen Umfang von (lediglich) 52 Seiten zuzüglich Anlagen. Die - im Übrigen auch nicht weiter begründete - Einschätzung der Kammer, es handele sich um ein besonders umfängliches Protokoll, vermag der Senat vor diesem Hintergrund nicht zu teilen.
Dass der früheren Fertigstellung des Protokolls andere Hinderungsgründe entgegengestanden haben könnten - wie etwa eine parallele Belastung der Vorsitzenden mit weiteren, vorrangigen, Haftsachen - ist weder ersichtlich noch hat die Kammer sich hierauf berufen.
Im Anschluss an die Fertigstellung des Protokolls kam es sodann dadurch zu einer zusätzlichen, nicht zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerung, dass die Urteilszustellung an die (Revisions-) Verteidiger erst am 20. Januar 2025 - mithin erst weitere zwei Wochen später - bewirkt wurde. Zwar ist - jedenfalls in dem dem Senat vorgelegten (elektronischen) Aktendoppel - nicht vermerkt, wann die Verfügung der Kammervorsitzenden vom 6. Januar 2025 ausgeführt wurde. Indes datieren die an den Angeklagten und seine Verteidiger gerichteten gerichtlichen Begleitschreiben, mit denen das Urteil übersandt wurde, vom 14. Januar 2025, so dass festzustellen ist, dass erst an diesem Tag die Bearbeitung der Verfügung vom 6. Januar 2025 durch die Serviceeinheit erfolgt ist. Gründe für diese weitere, in den Verantwortungsbereich der Justiz fallende und vermeidbare Verzögerung sind nicht zu erkennen.
Lediglich ergänzend merkt der Senat nach alledem noch an, dass - wenn die Prüfung des Protokolls spätestens am 22. November 2024 begonnen worden wäre und bis zum 6. Januar 2025 fortgedauert hätte - nicht plausibel ist, weshalb die Vorsitzende unter dem 3. Januar 2025 verfügt hat, das Urteil solle an den (neuen) Revisionsverteidiger des Angeklagten zugestellt werden. Denn wenn sie zu diesem Zeitpunkt aktuell (noch) mit der Prüfung des Protokolls befasst gewesen wäre, ist die vorgenannte Verfügung vor dem Hintergrund der ihr fraglos bekannten Vorschrift des § 273 Abs. 4 StPO schlicht nicht erklärlich. Eher legt der Umstand, dass unter dem 3. Januar 2025 lediglich die Zustellung an den (neuen) Verteidiger Rechtsanwalt Prof. Dr. N. verfügt wurde, nach Ansicht des Senates den Schluss nahe, dass die Vorsitzende zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Blick hatte, dass die Zustellung des schriftlichen Urteils und des Protokolls an die (bisherigen) Verteidiger des Angeklagten noch nicht veranlasst worden war.
(3)
Die vorgenannten Verfahrensverzögerungen stehen einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen, denn eine solche wäre nicht länger verhältnismäßig.
Insoweit hat der Senat im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Strafverfolgungsinteresse neben der zu erwartenden Strafe insbesondere auch berücksichtigt, dass sich aufgrund der erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert hat, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist. Gleichwohl war unter Berücksichtigung der bereits 19monatigen Dauer der Untersuchungshaft angesichts der jedenfalls in ihrer Gesamtheit erheblichen, der Justiz zuzurechnenden, sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren Verfahrensverzögerungen im Ergebnis eine Fortdauer der Untersuchungshaft nicht zu rechtfertigen.
III.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.