Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.01.2025, Az.: 2 PA 168/24
Einstellung von Unterhaltsvorschussleistungen durch Vorliegen einer unklaren Sachlage
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.01.2025
- Aktenzeichen
- 2 PA 168/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2025, 10263
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2025:0128.2PA168.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Osnabrück - 29.08.2024 - AZ: 4 A 159/23
Rechtsgrundlage
- § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X
Fundstelle
- ASR 2025, 18-20
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Eine unklare Sachlage kann nur dann die Einstellung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X rechtfertigen, wenn die Behörde im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht zuvor alles ihr Zumutbare unternommen hat, um aufzuklären, ob die von ihr behauptete Änderung der Sachlage tatsächlich vorliegt und im Einzelfall eine Beweislastentscheidung zum Nachteil des Leistungsempfängers getroffen werden kann.
- 2.
Die Nichterweislichkeit der Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X dürfte regelmäßig zu Lasten der beklagten Behörde gehen. Ob unter besonderen Umständen eine abweichende Beurteilung der Beweislast in Betracht kommt, ist unter Berücksichtigung sämtlicher Gegebenheiten des Einzelfalles zu klären.
Tenor:
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 29. August 2024 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe an das Verwaltungsgericht Osnabrück zurückverwiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses und zur Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht Osnabrück gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
1. Die von dem Kläger beabsichtigte, nicht mutwillige Rechtsverfolgung hat hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Der für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche Grad der Erfolgsaussicht darf mit Blick auf Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht in einer Weise überspannt werden, dass der Zweck der Prozesskostenhilfe deutlich verfehlt wird, Unbemittelten und Bemittelten weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen. Prozesskostenhilfe ist daher immer schon dann zu bewilligen, wenn die Abschätzung der Erfolgsaussicht einer ausreichend bemittelten Person in einer vergleichbaren Situation zugunsten der Rechtsverfolgung ausfallen würde. Dazu reicht es aus, dass ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen. Verweigert werden darf Prozesskostenhilfe aber dann, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte oder bloß theoretische ist. Hiernach dürfen schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatsachenfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können, weil das Prozesskostenhilfeverfahren den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern erst zugänglich machen soll (vgl. z.B. BVerfG, Beschl. v. 13.7.2020 - 1 BvR 631/19 -, juris Rn. 18, v. 14.6.2006 - 2 BvR 626/06 -, juris Rn. 13, und v. 7.4.2000 - 1 BvR 81/00 -, juris Rn. 15).
An diesem Maßstab gemessen sind hinreichende Erfolgsaussichten zu bejahen. Ob die Einstellung der Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz durch die angefochtenen Bescheide in den Monaten April und Mai 2023 rechtmäßig war, ist bei Würdigung des derzeitigen Sach- und Streitstandes zumindest offen.
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass Rechtsgrundlage für die streitgegenständlichen Bescheide § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sein dürfte. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung hat das Verwaltungsgericht angenommen, weil davon auszugehen sei, dass der Schwerpunkt der Betreuung der drei Kinder des Klägers nicht mehr ganz überwiegend bei ihm gelegen habe (Seite 3 oben des Entscheidungsabdrucks). Dabei hat es zunächst zutreffend darauf abgestellt, dass nach den Umständen des Einzelfalles auch angesichts der Betreuungsleistungen des anderen Elternteils der Schwerpunkt der Betreuung ganz überwiegend bei dem Unterhaltsvorschuss beantragenden Elternteil liegen müsse, der deshalb bei wertender Betrachtung der Gesamtsituation tatsächlich die alleinige Verantwortung für die Sorge und Erziehung des Kindes trage. Dies sei anzunehmen, wenn dessen Betreuungsanteil mehr als 60 vom Hundert betrage (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.12.2023 - 5 C 9.22 -, juris Rn. 11 f.).
Nach der Einschätzung des Senats fehlt es indessen auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstandes an durchgreifenden Anhaltspunkten dafür, dass der Schwerpunkt der Betreuung der drei Kinder des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum nach den obigen Maßgaben nicht mehr ganz überwiegend bei dem Kläger lag und damit eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gegeben war. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Aussagen des Klägers und der Kindsmutter darüber, wie sich die tatsächliche Betreuungssituation im streitgegenständlichen Zeitraum dargestellt hat, auseinandergehen. Auch eine nähere Betrachtung der schriftlichen Angaben beider Elternteile gibt keinen Aufschluss darüber, wem zu folgen ist. Für eine solche Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Sachverhaltsalternative fehlt es - anders, als das Verwaltungsgericht meint - aus Sicht des Senats auch sonst an hinreichend konkreten Anhaltspunkten, auf deren Grundlage die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt werden könnte.
Da der Beklagte dem berufstätigen Kläger zunächst Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz gewährt hatte, dürfte dem Kläger nunmehr eher nicht vorzuhalten sein, es sei unklar, wie er neben seiner Berufstätigkeit die Betreuung der drei Kinder in zeitlicher Hinsicht sichergestellt habe. Ob die Angabe des Klägers, er sei der erste Ansprechpartner für schulische Angelegenheiten der Kinder, stichhaltige Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit begründen, hält der Senat - auch angesichts des Umstandes, dass sich der Kläger zu dieser Frage im Beschwerdeverfahren nicht mehr geäußert hat - für fraglich. Dass diese Aussage im Widerspruch zu den Angaben der Kindsmutter steht, reicht für sich genommen nicht, um solche Zweifel zu begründen. Der Senat sieht auf der derzeitigen Erkenntnisgrundlage - wie ausgeführt - keinen Grund, eher den Angaben des einen oder des anderen Elternteils Glauben zu schenken. Die Angaben von E. Klassenlehrerin zu dieser Frage (vgl. Telefonvermerk der Sachbearbeiterin des Beklagten vom 24. Mai 2023, Seite 90 des Verwaltungsvorgangs) sind zu vage, um stichhaltige Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers zu begründen. Danach werde grundsätzlich der Vater angerufen, da dieser arbeite, sei er "nicht immer" erreichbar. Dann werde die Kindsmutter angerufen. Bei Elternsprechtagen oder Elternabenden nehme eigentlich immer die Kindsmutter teil, der Kindsvater so gut wie gar nicht. Ob der in dem Vermerk sodann geschilderte persönliche Eindruck der Sachbearbeiterin zutrifft, es habe sich so angehört, als ob die Zusammenarbeit zwischen Schule und Kindsvater schwierig sei und grundsätzlich die Kindsmutter alles organisiere und auch Ansprechpartnerin sei, lässt sich allein anhand der Dokumentation des Gesprächs nicht überprüfen.
Nach alledem stellt es sich vielmehr lediglich als unklar dar, ob der Schwerpunkt der Betreuung der drei Kinder des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr ganz überwiegend bei ihm lag. Lediglich diese Feststellung - und gerade nicht die Feststellung, dass der Schwerpunkt der Betreuung nicht mehr bei dem Kläger lag - hat im Übrigen auch der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden getroffen. Gleiches kommt in einer E-Mail vom 13. April 2023 (S. 87 des Verwaltungsvorgangs) sowie in einem zusammenfassenden Vermerk der Sachbearbeiterin (Seite 115 des Verwaltungsvorgangs) zum Ausdruck. Die Sachbearbeiterin vertritt hier die Auffassung:
"Da ich nicht sagen konnte, welcher Elternteil hier die Wahrheit schreibt, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, den UVG-Antrag der Mutter für F. abzulehnen und die laufenden Leistungen an den Vater für die Kinder G., H. und I. ab dem 01.04.2023 einzustellen. Es ist für mich nicht zu klären, wo die Kinder ihren Lebensmittelpunkt haben und in wie weit die Kindesmutter die Kinder erheblich mitbetreut. Auch wenn die Kinder bei den jeweiligen Elternteilen gemeldet sind, ist die Betreuungssituation für mich nicht zu klären. (...) Aufgrund der sehr unterschiedlichen Stellungnahmen bezüglich der Betreuung und Aufenthalte der Kinder ist es mir weiterhin nicht möglich zu entscheiden, ob der Vater bzw. die Mutter alleinerziehend ist. Auch die hier eingereichten Nachweise geben kein klares Bild ab. Weitere Unterlagen oder Nachweise hier anzufordern würden sehr unwahrscheinlich Klarheit darüber geben."
Die Auffassung des Beklagten, dass keine Möglichkeiten zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung gegeben waren, teilt der Senat indessen ebenso wenig wie die Sichtweise, dass der Beklagte bei einer dergestalt "unklaren" Sachlage ohne Weiteres die Leistungen gegenüber dem Kläger einstellen durfte. Eine unklare Sachlage könnte allenfalls eine Einstellung der Leistungen rechtfertigen, wenn die Behörde im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht erstens zuvor alles ihr Zumutbare unternommen hat, um aufzuklären, ob tatsächlich die von ihr behauptete Änderung der Sachlage gegeben ist, und zweitens ausgehend hiervon eine Beweislastentscheidung zum Nachteil des Leistungsempfängers getroffen werden könnte. Schon die erste Voraussetzung liegt hier nicht vor, weil es dem Beklagten beispielsweise offen gestanden hätte, konkrete schriftliche Aufstellungen von dem Kläger und der Kindsmutter über die Anwesenheit der Kinder in den jeweiligen Wohnungen und die sonstigen Betreuungsleistungen in einem von ihm vorgegebenen Zeitraum (hier: April und Mai 2023) einzufordern. Ebenso hätten die zuständigen Klassenlehrer einer genaueren Befragung unterzogen werden können. Gegebenenfalls wären der Kläger und die Kindsmutter aufzufordern gewesen, zu einer solchen Befragung zuvor ihr Einverständnis zu erklären. Der Beklagte hätte außerdem den Kläger und die Kindsmutter vorladen und persönlich befragen können. Schließlich wäre es auch möglich gewesen, die Kinder dazu zu befragen, wie sich ihre Betreuung darstellt.
Hinsichtlich der zweiten oben genannten Voraussetzung ist darauf hinzuweisen, dass die Nichterweislichkeit der Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X regelmäßig zu Lasten der beklagten Behörde gehen dürfte (vgl. SächsLSG, Urt. v. 18.12.2014 - L 3 AL 212/10 -, juris Rn. 60; HessLSG, Urt. v. 9.3.2016 - L 6 AS 93/14 -, juris Rn. 37; zur Rücknahme eines Verwaltungsakts: BSG Beschl. v. 20.7.2017 - B 8 SO 12/17 BH -, juris Rn. 7; Sandbiller, in: beck-online.Großkommentar, Kasseler Kommentar, Stand: 15.11.2024, § 48 SGB X Rn. 34). Im Einzelfall könnte zwar auch eine abweichende Beurteilung der Beweislast in Betracht kommen (vgl. hierzu etwa LSG NRW, Urt. v. 6.9.2023 - L 12 AS 348/22 -, juris Rn. 87; VG Würzburg, Beschl. v. 1.8.2023 - W 3 K 20.1975 -, juris Rn. 78 ff.). Voraussetzung dafür wäre es aber, unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob die besonderen Voraussetzungen dafür vorliegen.
Da es sich bei den angefochtenen Bescheiden um gebundene Entscheidungen handelt, dürfte deren bloße Aufhebung nicht in Betracht kommen, sondern das Verwaltungsgericht wird voraussichtlich darüber zu befinden haben, ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vorgelegen haben. Da es als offen und aufklärungsbedürftig anzusehen ist, ob der Schwerpunkt der Betreuung der drei Kinder des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum nach den obigen Maßgaben nicht mehr ganz überwiegend bei ihm lag, können der Klage hinreichende Erfolgsaussichten nicht abgesprochen werden.
2. Der Senat macht von dem ihm nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO eingeräumten Ermessen Gebrauch, die erneute Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch dem Verwaltungsgericht zu übertragen, weil sich dieses bisher noch nicht mit dem Vorliegen der wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe befasst hat (vgl. NdsOVG, Beschluss v. 18.1.2024 - 14 PA 130/23 -, juris; BayVGH, Beschl. v. 12.4.2021 - 6 C 21.514 -, juris Rn. 16 und v. 27.6.2008 - 4 C 08.1468 -, juris Rn. 10; BremOVG, Beschl. v. 8.1.2021 - 2 PA 270/20 -, juris Rn. 18; OVG Berl.-Bbg., Beschl. v. 21.1.2010 - 5 M 27.09 -, juris Rn. 6; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.7.2003 - 7 S 536/03 -, juris Rn. 5). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der wirtschaftlichen Bedürftigkeit ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag (Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 41). Die von dem Kläger zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen vorgelegten Unterlagen stammen aus September bzw. (die Entgeltabrechnung) aus August 2023. Es wird daher eine Aktualisierung der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen erforderlich sein.
Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO nicht erhoben; die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).