Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.11.2024, Az.: 2 Ws 302/24

Bestimmen der Vergütung eines gerichtlich beauftragten anthropologischen Sachverständigen nach billigem Ermessen

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
11.11.2024
Aktenzeichen
2 Ws 302/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 26984
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2024:1111.2WS302.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 21.08.2024 - AZ: 10 Qs 68/24

Fundstelle

  • AGS 2025, 43-44

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Leistungen anthropologischer Sachverständiger sind keinem der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG aufgeführten Sachgebiete und der in Teil 2 der Anlage 1 genannten Honorargruppen M1 bis M3 unmittelbar zuzuordnen. Die Höhe ihrer Vergütung ist daher gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 JVEG nach billigem Ermessen zu bestimmen.

  2. 2.

    Angesichts des fehlenden freien Marktes für medizinische und psychologische Gutachten hat der Gesetzgeber für ihre Vergütung die Honorargruppen M1 bis M3 mit konkret festgelegten Stundensätzen gebildet. Da es auch für anthropologische Vergleichsgutachten keinen freien Markt gibt, sind für ihre Vergütung die Stundensätze der Honorargruppen M1 bis M3 entsprechend anzuwenden.

In dem Strafverfahren
gegen M. D.,
geb. G.,
geboren am ...,
wohnhaft ...
- Verteidiger: Rechtsanwalt R. J., S.
wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis
hier: weitere Beschwerde der Bezirksrevisorin gegen die Festsetzung der
Sachverständigenvergütung
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht XXX, den Richter am Oberlandesgericht XXX und den Richter am Landgericht XXX am 11. November 2024 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die weitere Beschwerde der Bezirksrevisorin wird der Beschluss des Landgerichts Verden vom 21.08.2024 (Az. 10 Qs 68/24) aufgehoben.

  2. 2.

    Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Verden zurückverwiesen.

  3. 3.

    Das Verfahren über die weitere Beschwerde ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Stolzenau (Az. 4 Cs 396 JS 62628/22-31/23) hat die frühere Angeklagte in einem vormals gegen sie geführten Strafverfahren durch Urteil vom 12.07.2023 vom Tatvorwurf des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis freigesprochen. In dem Verfahren hatte das Amtsgericht zwecks Feststellung, ob es sich bei der Fahrzeugführerin, die auf dem aktenkundigen Foto einer Geschwindigkeitsmessung abgebildet war, um die frühere Angeklagte handelte, einen anthropologischen Sachverständigen mit einem Vergleichsgutachten beauftragt. Nach Abschluss des Verfahrens reichte der Sachverständige eine Kostenrechnung bzgl. der von ihm erbrachten Leistungen ein. Das Amtsgericht Stolzenau setzte mit Beschluss vom 24.06.2024 die Vergütung des Sachverständigen gemäß § 4 Abs. 1 JVEG auf den geltend gemachten Gesamtbetrag i.H. von 1.653,94 € fest und legte hierbei einen Stundensatz i.H. von 120 € zugrunde. Hierzu führte das Amtsgericht aus, dass eine anthropologische Identitätsbegutachtung keiner der in der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG aufgeführten Sachgebiete oder Honorargruppen zugeordnet werden könne, weshalb die Höhe der Sachverständigenvergütung gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 JVEG nach billigem Ermessen zu bestimmen sei. Da die Tätigkeit eines anthropologischen Sachverständigen am ehesten Überschneidungen zu dem in der Anlage 1 aufgeführten Sachgebiet des "grafischen Gewerbes" aufweise, sei von dem für dieses Sachgebiet gesetzlich festgelegten Stundensatz von 115 € auszugehen. Angesichts des hohen, über eine rein grafische Tätigkeit hinausgehenden Schwierigkeitsgrades eines anthropologischen Identitätsgutachtens erscheine eine Erhöhung des Stundensatzes auf 120 € angemessen.

Die Bezirksrevisorin bei dem Landgericht Verden erhob gegen den Festsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Beschwerde. Sie vertrat die Ansicht, die Bestimmung der Vergütung des Sachverständigen unter entsprechender Anwendung des gesetzlich geregelten Stundensatzes für Tätigkeiten im Sachgebiet "grafisches Gewerbe" sei sachwidrig. Denn anthropologische Begutachtungen wiesen eine größere Vergleichbarkeit mit den von den Honorargruppen M1 bis M3 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG erfassten Gutachtertätigkeiten medizinischer oder psychologischer Sachverständiger auf. Daher sei bei einem Anthropologen auf die für die Honorargruppen M1 bis M 3 festgelegten Stundensätze abzustellen. Im vorliegenden Fall erscheine die entsprechende Anwendung des für die Honorargruppe M2 bestimmten Stundensatzes von 90 € angemessen. Unter Zugrundelegung dieses Stundensatzes sei die vom Amtsgericht im vorliegenden Fall festgesetzte Vergütung des hinzugezogenen anthropologischen Sachverständigen um den Betrag von 330,22 € herabzusetzen.

Das Landgericht Verden hat die Beschwerde der Bezirksrevisorin mit Beschluss vom 21.08.2024 als unbegründet verworfen und sich in der Sache im Wesentlichen den vom Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung dargelegten Erwägungen angeschlossen.

Die Bezirksrevisorin des Landgerichts Verden hat gegen den Beschluss des Landgerichts weitere Beschwerde eingelegt. Sie erstrebt weiterhin die Neuberechnung der zu gewährenden Sachverständigenvergütung auf Basis des in Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG für die Honorargruppe M2 vorgesehenen Stundensatzes von 90 €.

II.

Die zulässige weitere Beschwerde der Bezirksrevisorin des Landgerichts Verden ist begründet.

1.

Das Landgericht hat die weitere Beschwerde in dem angefochtenen Beschluss wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache gemäß § 4 Abs. 5 S. 2 JVEG zugelassen. Hieran ist der Senat gebunden (§ 4 Abs. 4 S. 4 JVEG). Er entscheidet, da der Beschluss nicht von einem Einzelrichter erlassen wurde, in der Besetzung mit drei Richtern (§ 4 Abs. 7 S. 1 JVEG).

2.

Die weitere Beschwerde führt in der Sache - zumindest vorläufig - zum Erfolg.

Die weitere Beschwerde kann gemäß der in § 4 Abs. 5 S. 2 JVEG vorgesehenen entsprechenden Anwendung von §§ 546 und 557 ZPO nur darauf gestützt werden, dass die angegriffene Entscheidung des Landgerichts auf einer Verletzung des Rechts beruht. Die Überprüfung durch den Senat erfolgt daher nur in rechtlicher und nicht in tatsächlicher Hinsicht. Der Kontrolle des dem Landgericht eingeräumten Ermessens unterliegt nur, ob die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung vorlagen, ob von dem Ermessen Gebrauch gemacht wurde, ob alle wesentlichen Tatsachen berücksichtigt und die gebotenen Grenzen des Ermessens eingehalten wurden (vgl. OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.08.2024 - 1 Ws 209/23 -, juris, mwN).

Unter Zugrundelegung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs kann die Entscheidung des Landgerichts keinen Bestand haben.

a)

Das Landgericht ist im Ausgangspunkt in Übereinstimmung mit der einhelligen Rechtsprechung (vgl. OLG Braunschweig, aaO; OLG Frankfurt, Beschl. v. 09.02.2024 - 2 Ws 40/23 -, juris; OLG Hamm, Beschl. v. 24.07.2023 - III 1 Ws 41/23 -, juris; KG, Beschl. v. 30.09.2016 - 1 Ws 37/16 -, juris; OLG Köln, Beschl. v. 04.08.2014 - 2 Ws 419/14 -, juris; jeweils mwN) zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Leistung eines Sachverständigen auf dem Gebiet der Anthropologie keiner der in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG genannten Sachgebiete und auch keiner der in Teil 2 der Anlage 1 aufgeführten Honorargruppen entspricht, so dass eine unmittelbare Anwendung der vom Gesetzgeber für diese Sachgebiete und Honorargruppen vorgesehenen Stundensätze nicht in Betracht kommt. Folgerichtig hat das Landgericht angenommen, dass die Vergütung der Leistungen eines anthropologischen Sachverständigen gemäß § 9 Abs. 2 JVEG nach billigem Ermessen zu bestimmen ist.

b)

Das Landgericht ist indes im Rahmen der vorgenommenen Ermessensabwägung bzgl. der Höhe der Vergütung des im Ausgangsverfahren vom Amtsgericht Verden hinzugezogenen anthropologischen Sachverständigen rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass sich der zugrunde zu legende Stundensatz an dem vom Gesetzgeber für das Sachgebiet "grafische Leistungen" in Teil 1 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG festgelegten Stundensatz zu orientieren hat.

Die Frage, wie der Stundensatz für die Vergütung eines anthropologischen Sachverständigen zu bestimmen ist, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet.

Teile der Rechtsprechung nehmen einen qualitativen Vergleich der Tätigkeit des anthropologischen Sachverständigen mit den Tätigkeiten in den in Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG aufgeführten Sachgebieten vor. Sie gehen dabei - wie auch das Landgericht im vorliegenden Fall - davon aus, dass die größten Überschneidungen mit dem Sachgebiet des "grafischen Gewerbes" bestünden. Daher sei der für dieses Sachgebiet gesetzlich geregelte Stundensatz - aktuell 115 € - entsprechend anzuwenden (vgl. OLG Hamm, aaO; KG, aaO, unter Verweis auf die Rechtsprechung vor dem Inkrafttreten des 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes). Auf die Stundensätze der in Anlage 1 ebenfalls aufgeführten Honorargruppen M1 bis M3 könne nicht abgestellt werden. Denn anthropologische Vergleichsuntersuchungen würden weder medizinische Fachkenntnisse voraussetzen noch medizinische Fragestellungen zum Gegenstand haben. Die Honorargruppen M1 bis M3 seien jedoch nach dem Willen des Gesetzgebers ausschließlich medizinischen und psychologischen Sachverständigen vorbehalten (vgl. KG, aaO).

Das Oberlandesgericht Braunschweig hält eine einheitliche Vergütung für anthropologische Sachverständige hingegen für nicht möglich, da den von ihnen vorgenommenen Begutachtungen keine standardisierten Untersuchungsmethoden zugrunde liegen würden. Die zu erbringenden Leistungen würden von der jeweiligen Begutachtungsmaterie abhängen und ihr Umfang sowie ihr Schwierigkeitsgrad je nach den Umständen des Einzelfalls wesentlich voneinander abweichen. Es seien Fälle denkbar, in denen eine Zuordnung zu einem der in der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG aufgeführten Sachgebiete sachgerecht erscheine; ebenso aber auch Fälle, in denen eine Zuordnung zu einer der in der Anlage 1 genannten Honorargruppen M1 bis M3 gerechtfertigt sein könne (vgl. OLG Braunschweig, aaO).

Das Oberlandesgericht Köln knüpft hingegen an die Regelung in § 9 Abs. 2 S. 1 JVEG an, wonach Sachverständigentätigkeiten, die in keinem der in der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG aufgeführten Sachgebieten aufgeführt sind, nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung der außergerichtlich und außerbehördlich allgemein vereinbarten Stundensätze zu vergüten seien. Zwar gebe es für die Tätigkeiten von anthropologischen Sachverständigen keinen freien Markt. Es könne jedoch auf den von der Justiz herausgebildeten "internen Marktwert" abgestellt werden. Für hauptberuflich tätige anthropologische Sachverständige sei der gesetzlich festgelegte Stundensatz für das in der genannten Anlage 1 aufgeführte Sachgebiet "grafisches Gewerbe" zugrunde zu legen. Bei einer nur nebenberuflich ausgeübten Sachverständigentätigkeit sei hingegen auf die in Anlage 1 festgelegten Stundensätze für die Honorargruppen M1 bis M3 für medizinische und psychologische Sachverständige abzustellen (vgl. OLG Köln, aaO).

Der Senat schließt sich der vom OLG Frankfurt vertretenen Ansicht an, wonach sich die Höhe des Stundensatzes für einen gerichtlich hinzugezogenen anthropologischen Sachverständigen an den für die in der Anlage 1 aufgeführten Honorargruppen M1 bis M3 gesetzlich geregelten Stundensätzen für medizinische und psychologische Sachverständige zu orientieren hat. Das OLG Frankfurt stützt sich insoweit zutreffend auf den in den Gesetzesmaterialien zum 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers. Er habe ausdrücklich empfohlen, den Stundensatz für einen Anthropologen aus den Honorargruppen M1 bis M3 zu entnehmen, wobei im Hinblick auf die von den Umständen des Einzelfalls abhängigen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade anthropologischer Vergleichsgutachten für die Auswahl der konkreten Honorargruppe ein Spielraum verbleibe (vgl. OLG Frankfurt, aaO, unter Hinweis auf BT-Drs. 17/11472, S. 355). Dieser Erwägung tritt der Senat bei. Der Ansicht des OLG Frankfurt ist auch deshalb der Vorzug zu geben, weil es für die gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 JVEG nach billigem Ermessen zu bestimmende Vergütung von Sachverständigentätigkeiten, die von keinem der in der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG aufgeführten Sachgebiete erfasst werden, nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht primär auf die Qualifikation oder auf die Vergleichbarkeit der konkreten Tätigkeit mit den Tätigkeiten anderer Sachverständiger ankommt, sondern auf die marktübliche Vergütung der Tätigkeit. Denn der Gesetzgeber hat die Stundensätze für die Sachverständigen aus den in der genannten Anlage 1 aufgeführten Sachgebieten auf der Basis einer umfangreichen Marktanalyse und in dem Bestreben neu bestimmt, ihre Stundensätze an die marktüblichen Vergütungen anzupassen (vgl. LG Hannover, Beschl. v. 25.06.2015 - 46 Qs 43/14 -, juris, unter Hinweis auf BT-Drs 17/11472, S. 145). Da es für die Tätigkeiten medizinischer oder psychologischer Sachverständiger jedoch keinen freien Markt gibt, hat der Gesetzgeber eigens für sie die Honorargruppen M1 bis M3 gebildet. Es erscheint daher folgerichtig, sich bei der Bestimmung der angemessenen Vergütung eines anthropologischen Sachverständigen, für dessen Tätigkeit es ebenfalls keinen freien Markt gibt, an den Honorargruppen M1 bis M3 zu orientieren und die konkrete Höhe im Einzelfall anhand von Art, Umfang und Schwierigkeitsgrad der jeweils erbrachten Leistung zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Empfehlung des Gesetzgebers, bei der Vergütung anthropologischer Sachverständiger auf die Stundensätze der Honorargruppen M1 bis M3 zurückzugreifen, sachgerecht (vgl. LG Hannover, aaO).

c)

Im Ergebnis der vorstehenden Ausführungen erweist sich die vom Landgericht für die Vergütung von anthropologischen Sachverständigen generell befürwortete und auch im vorliegenden Streitfall vorgenommene schematische Zugrundelegung des in der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 S. 1 JVEG für das Sachgebiet "grafisches Gewerbe" vorgesehenen Stundensatzes als rechtsfehlerhaft. Dies führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Die Sache war zu neuer Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen. Denn zu der gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 JVEG zu treffenden Ermessensentscheidung über die Festsetzung der Vergütung von Sachverständigentätigkeiten, die von keinem der in der Anlage 1 aufgeführten Sachgebiete erfasst werden, ist das Landgericht berufen.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 4 Abs. 8 JVEG.