Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.03.2025, Az.: 3 Ws 20/25
Geltung des Meistbegünstigungsprinzips als materiell-rechtliche Regel nur für täterbegünstigende Gesetzesänderungen zwischen Tatbegehung und bis zur Rechtskraft der Verurteilung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 11.03.2025
- Aktenzeichen
- 3 Ws 20/25
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2025, 12154
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hildesheim - 23.02.2023
- LG Hildesheim - 30.12.2024 - AZ: 12 KLs 18 Js 10534/22
Rechtsgrundlage
- Art. 313 Abs. 3 S. 2 EGStGB
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Übergangsregelung in Art. 316p, Art. 313 EGStGB erfasst nur vor dem 1. April 2024 rechtskräftig verhängte Strafen nach dem BtMG, soweit die abgeurteilten Taten nach dem KCanG oder dem MedCanG nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind.
- 2.
Allein der Umstand, dass abgeurteilte Taten nach dem KCanG im Vergleich zum BtMG mit einer geringeren Strafe bedroht sind, führt nicht zur Anwendbarkeit von Art. 313 EGStGB.
- 3.
Eine analoge Anwendung von Art. 313 EGStGB auf rechtskräftige Strafen, denen Taten zugrunde liegen, die nach dem KCanG weiterhin strafbar, jedoch mit einer milderen Strafe bedroht sind, scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus.
In der Strafsache
gegen S. S.,
geboren ...,
zzt. in der Justizvollzugsanstalt H.,
- Verteidigerin: Rechtsanwältin G. K., H. -
wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a.
hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Richter am Oberlandesgericht XXX, den Richter am Oberlandesgericht XXX und die Richterin am Oberlandesgericht XXX am 11. März 2025 beschlossen:
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 30. Dezember 2024 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
Mit Beschluss vom 30. Dezember 2024 hat das Landgericht Hildesheim den Antrag des Verurteilten vom 5. November 2024, die gegen ihn nach dem BtMG verhängten Einzelstrafen und die Gesamtstrafe aus dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 23. Februar 2023 unter Anwendung der milderen Strafrahmen des KCanG neu festzusetzen, abgelehnt.
Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten hat keinen Erfolg. Die Gründe des angefochtenen Beschlusses treffen zu. Auf diese wird zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Das Beschwerdevorbringen greift demgegenüber nicht durch.
1. Der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 StGB ist nicht eröffnet; denn dieser endet mit Rechtskraft der Verurteilung (MüKoStGB/Schmitz, 5. Aufl., StGB § 2 Rn. 28, 87f.). Etwas anderes ist auch nicht aus der völker- und europarechtlichen Verankerung des mit dieser Vorschrift normierten Meistbegünstigungsprinzips (Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPBPR, Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRCh) herzuleiten. Denn auch danach gilt das Meistbegünstigungsprinzip als materiell-rechtliche Regel nur für täterbegünstigende Gesetzesänderungen zwischen Tatbegehung und letztinstanzlicher Entscheidung, also bis zur Rechtskraft der Verurteilung; es bildet keine Grundlage für nachträgliche Eingriffe in rechtskräftige Strafurteile (vgl. Kubiciel/Großmann, in: Meyer/Hölscheidt, EU-Grundrechtecharta, 6. Aufl., Art. 49 Rn. 36).
2. Eine Durchbrechung der Rechtskraft käme nur nach der Ausnahmevorschrift des Art. 313 EGStGB in Betracht. Auch diese greift hier jedoch nicht. Denn sie ist nach Art. 316p EGStGB nur auf vor dem 1. April 2024 verhängte Strafen nach dem BtMG entsprechend anzuwenden, soweit die abgeurteilten Taten nach dem KCanG oder dem MedCanG nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Allein der Umstand, dass die abgeurteilten Taten nach dem KCanG im Vergleich zum BtMG mit einer geringeren Strafe bedroht sind, führt nicht zur Anwendbarkeit von Art. 313 EGStGB (BGH, Urteil vom 23. Mai 2024 - 5 StR 68/24 -, Rn. 15, juris).
3. Soweit die Beschwerde annimmt, dass sich eine direkte Anwendbarkeit von Art. 313 Abs. 3 Satz 2 EGStGB aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1974 - 1 StR 365/24 - (BGHSt 26, 1) ergebe und Art. 316p EGStGB dazu "in einem unauflösbaren Widerspruch" stehe, kann ihr nicht gefolgt werden. Sie verkennt den Inhalt der Entscheidung und den Regelungsgehalt von Art. 313 Abs. 3 EGStGB. Danach ist erste Voraussetzung für eine Neufestsetzung der Strafe, dass der Täter "wegen einer Handlung verurteilt worden" ist, die "eine nach neuem Recht nicht mehr anwendbare Strafvorschrift und zugleich eine andere Strafvorschrift verletzt hat (§ 73 Abs. 2 des Strafgesetzbuches in der bisherigen Fassung)". Damit ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Art. 313 Abs. 3 EGStGB, dass dieser nur die Neufestsetzung der Strafe in Fällen von Tateinheit regelt. Der Verweis auf § 73 Abs. 2 StGB (a.F.) ist irreführend; gemeint ist der heutige § 52 StGB. Voraussetzung ist also, dass der Täter bereits im Zeitpunkt der Verurteilung mit einer Handlung tateinheitlich sowohl eine nach neuem Recht nicht mehr anwendbare und zugleich eine weitere - fortgeltende - Strafnorm verletzt hat (vgl. BeckOK StGB/Seel, EGStGB Art. 313 Rn. 9). In solchen Fällen kommt es nicht zu einem Straferlass. Ob dann eine Neufestsetzung der Strafe zwingend oder nur möglich ist und was jeweils für diese gilt, richtet sich danach, welcher der beiden ursprünglich verletzten Strafnormen das Gericht die Strafe entnommen hat (ebenda). So liegt der Fall hier aber nicht. Die abgeurteilten Taten haben nicht zugleich im Sinne von § 52 StGB das BtMG und das KCanG verletzt. Vielmehr liegt eine zeitliche Staffelung vor, die den Anwendungsbereich von Art. 313 Abs. 3 EGStGB gerade nicht eröffnet (vgl. Krumm, NJ 2025, 56, 64).
4. Ebenso scheidet eine analoge Anwendung von Art. 313 EGStGB auf Fälle der vorliegenden Art mangels planwidriger Regelungslücke aus (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 - 2 ARs 179/24 - Rn. 14, juris; OLG Schleswig, Beschluss vom 2. Dezember 2024 - 2 Ws 145/24 -, Rn. 19, juris; OLG Jena, Beschluss vom 30. September 2024 - 1 Ws 328/24 -, Rn. 11, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 20. August 2024 - III-5 Ws 230/24 - Rn. 4, juris; Krumm NJ 2025, 56, 63; jew. mwN). Die von einigen Stimmen in der Literatur vertretene Gegenansicht (vgl. MüKoStPO/Putzke, 2. Aufl., EGStGB Art. 316p Rn. 3; BeckOK StGB/Seel EGStGB Art. 316p Rn. 27; Wagner, NStZ 2025, 77, 82) überzeugt nicht.
a) Gegen die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke spricht zunächst, dass der Gesetzgeber mit Art. 313 EGStGB auf eine bereits seit 1974 bestehende Regelung zurückgegriffen hat, für die schon seit Langem anerkannt ist, dass sie auf Fälle der bloßen Strafmilderung keine Anwendung findet (BGH, Urteil vom 16. August 1977 - 1 StR 390/77 -, Rn. 15, juris). Hieran zeigt sich, dass der Gesetzgeber schon früher bei umfassenden Neubewertungen strafwürdigen Verhaltens die Amnestie auf die Taten beschränkt hat, die nach neuem Recht straffrei wären, während er Strafen für Taten mit lediglich verminderter Strafdrohung unberührt ließ. Es ist deshalb nicht aussagekräftig, dass in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung bezüglich der Übergangsregelung zum KCanG dieser Umstand nicht ausdrücklich thematisiert worden ist (BT-Drucks. 20/8704, S. 154). Diese Differenzierung entspricht auch der unterschiedlich zu bewertenden Interesslage in beiden Fallkonstellationen. Denn es liegt nicht nur ein gradueller, sondern ein qualitativer Unterschied darin, eine Strafe für ein Verhalten verbüßen zu müssen, das nach neuem Recht straffrei wäre, gegenüber einer Strafe, die auf einem auch weiterhin mit einem sozial-ethischen Unwerturteil belegten Verhalten beruht und nur in der Höhe möglicherweise geringer ausgefallen wäre. Eine willkürliche Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte liegt nicht vor. Die Differenzierung zwischen vollständiger Straflosigkeit und bloßer Strafmilderung stellt auf ein sachgerechtes Unterscheidungskriterium ab.
b) Zudem ergibt sich aus dem Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens, dass bereits die Amnestieregelung in der jetzigen Fassung keineswegs eine Selbstverständlichkeit war, die gleichsam am Rande mitverabschiedet wurde und daher unbeabsichtigte Lücken aufweist; sie war vielmehr besonders umstritten (vgl. Engel, ZRP 2024, 50; BeckOK StGB/Seel EGStGB Art. 316p Rn. 1). Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom 29. September 2023 den beabsichtigten rückwirkenden Straferlass kritisiert, weil er zu "unannehmbaren und nicht leistbaren Anforderungen an die Länderjustiz betreffend eine sehr große Zahl von Strafvollstreckungsverfahren" führe (BR-Drucks. 367/23, S. 42 f.). Er hatte zu Bedenken gegeben, dass "eine Flut von Neufestsetzungsverfahren zu erwarten" sei, "die sowohl bei den Strafvollstreckungsbehörden wie auch den Gerichten zu erheblichen Mehrbelastungen und Verfahrensverzögerungen führen dürften". Die Bundesregierung hat zwar den Vorschlag des Bundesrates, rechtskräftige Verurteilungen nach dem BtMG unberührt zu lassen, abgelehnt. In ihrer Gegenäußerung vom 11. Oktober 2023 hat sie aber deutlich gemacht, dass sie die Rechtfertigung für die zu erwartenden Mehrbelastungen der Strafvollstreckungsbehörden und Gerichte bei den Vollstreckungsfällen sehe, die dem "Interesse an der Beseitigung des Makels der Verurteilung" vergleichbar seien, "wenn eine nach alter Rechtslage strafbare Handlung nach neuer Rechtslage nicht mehr strafbar ist" (BT-Drucks. 20/8763, S. 13). Die Bundesregierung werde allerdings prüfen, ob ein verzögertes Inkrafttreten der Regelung in Betracht komme, um den Vollzugsaufwand in den Ländern zu begrenzen (ebenda).
c) Vor diesem Hintergrund ist auszuschließen, dass die Nichterörterung einer Erweiterung der Amnestieregelung auf Fälle mit verminderter Strafdrohung darauf beruht, dass diese Frage übersehen worden ist; denn eine solche Erweiterung hätte noch zusätzliche Mehrbelastungen der Strafvollstreckungsbehörden und Gerichte bedeutet. Allgemein gilt, dass der Gesetzgeber eine Durchbrechung der Rechtskraft von Strafurteilen regelmäßig nur in engen Grenzen vornimmt, weil dabei die Grundsätze der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit, die sich beide aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten, miteinander in Konflikt stehen und gegeneinander abzuwägen sind (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. März 2006 - 2 BvR 486/05 -, Rn. 93, juris). Dementsprechend drängt sich hier der Befund auf, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Übergangsregelung bezüglich der Fälle, für die das KCanG keine Straffreiheit vorsieht, dem Prinzip der Rechtssicherheit bewusst den Vorrang vor dem Gebot der Gerechtigkeit eingeräumt hat (ebenso Kerpa/Kostik, StV 2024, 477, 480). Dabei dürften auch die vom Bundesrat geltend gemachten Bedenken im Hinblick auf eine mögliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, die ebenfalls Verfassungsrang hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 -, BVerfGE 130, 1, 26 [BVerfG 07.12.2011 - 2 BvR 2500/09; 2 BvR 1857/10], 36f.), von Bedeutung gewesen sein.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.
6. Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).