Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 01.04.2025, Az.: 3 A 38/25

Gaza; Palästinensische Gebiete; Zulässigkeit des Aufschubs einer asylrechtlichen Entscheidung nach § 24 Abs. 5 AsylG (Gaza)

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
01.04.2025
Aktenzeichen
3 A 38/25
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2025, 13434
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2025:0408.3A38.25.00

Amtlicher Leitsatz

Die Entscheidungsreife hinsichtlich des subsidiären Schutzes führt nicht zum Ausschluss der Befugnis des Bundesamtes, eine Entscheidung nach § 24 Abs. 5 AsylG aufzuschieben, wenn keine Entscheidungsreife auch hinsichtlich der ebenfalls beantragten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht.

Tenor:

Das Verfahren wird bis zum 27.07.2025 gem. § 75 Satz 3 VwGO ausgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger, der aus Gaza stammt, begehrt Entscheidung über seinen Asylantrag vom 27.10.2023 und hat am 29.01.2025 Untätigkeitsklage erhoben.

Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt am 07.11.2023 gab er im Wesentlichen an, er sei wegen der Notlage in Gaza und der dort bestehenden Pflicht zum Militärdienst geflohen. Es fehle dort die Sicherheit. Das Haus seiner Familie sei im Krieg zerstört worden. Er könne derzeit auch keinen Kontakt zu seiner Familie herstellen.

Mit Schriftsatz seiner nunmehrigen Prozessbevollmächtigten vom 06.02.2024 führte er aus, er habe sich in der Anhörung nicht in der Lage gefühlt, über seine Homosexualität zu berichten.

Das Bundesamt teilte mit Schreiben vom 28.06.2024 mit, die Entscheidung verzögere sich wegen der hohen Zahl der Verfahren. Mit Schreiben vom 09.09.2024 teilte das Bundesamt mit, das Verfahren verzögere sich, weil der Reisepass des Klägers noch weiterer Untersuchung bedürfe.

Mit Schriftsatz vom 14.02.2025 hat die Beklagte die Entscheidung mitgeteilt, die Entscheidung in der Hauptsache gem. § 24 Abs. 5 AsylG aufzuschieben, da die Lage im Gazastreifen aufgrund der vorliegenden militärischen Auseinandersetzung vorübergehend ungewiss sei.

Der Kläger hat im gerichtlichen Verfahren ausgeführt, er sei nicht beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten registriert.

II.

Das Verfahren ist gem. § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen.

Nach § 75 Satz 1-2 VwGO ist eine verwaltungsgerichtliche Klage nach dem Ablauf von höchstens drei Monaten nach Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts bei der Behörde auch ohne vorherige Bescheidung durch die Behörde zulässig. Liegt jedoch ein zureichender Grund für eine Nichtbescheidung vor, so ist nach § 75 Satz 3 VwGO das Verfahren für eine durch das Gericht bestimmte Frist, die verlängert werden kann, auszusetzen, um der Behörde Gelegenheit zur Entscheidung zu geben.

Die Drei-Monats-Sperrfrist war bei Klageerhebung bereits deutlich überschritten.

Vorliegend besteht jedoch ein zureichender Grund, da das Gesetz der Beklagten eine spätere Entscheidung ausdrücklich erlaubt.

§ 24 Abs. 5 AsylG gestattet der Beklagten, bei einer vorübergehend ungewissen Lage, in der eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, die Entscheidung aufzuschieben; der betroffene Antragsteller ist hiervon nach Satz 3 dieser Vorschrift in angemessener Frist zu informieren. Anders als die Entscheidung nach § 24 Abs. 4 AsylG ist diese Entscheidung nicht als Verlängerung einer Frist, sondern als eigenständiger Aussetzungstatbestand konzipiert, sodass Verzögerungen vor der Entscheidung über den Aufschub bei der Bewertung grundsätzlich nicht zu berücksichtigen sind. Nach § 24 Abs. 7 AsylG muss eine Entscheidung jedoch spätestens 21 Monate nach Antragstellung erfolgen. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen einer Entscheidung über den Aufschub ist nach § 77 Abs. 1 AsylG der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, nicht der Zeitpunkt der Klageerhebung.

Die Lage im Gazastreifen ist "vorübergehend ungewiss" i. S. d. § 24 Abs. 5 Satz 1 AsylG. Der Wortlaut "vorübergehend" verlangt nicht, dass die Lage innerhalb weniger Monate wieder gewiss zu werden verspricht. Eine andere Auslegung würde im teleologischen Hauptanwendungsfall dieser Norm, nämlich bewaffneten Konflikten, die Anwendung dieser Vorschrift faktisch ausschließen, denn derartige Konflikte lösen sich selten innerhalb weniger Monate. Auch die im systematischen Zusammenhang stehende Anordnung einer regelmäßigen Überprüfung mindestens alle 6 Monate in § 24 Abs. 5 Satz 2 AsylG verdeutlicht, dass das Gesetz davon ausgeht, dass der Aufschub über mehrere Sechsmonatszeiträume möglich ist. Zuletzt ist auch der Ausländer hinreichend geschützt, indem § 24 Abs. 7 AsylG eine absolute Höchstfrist für die Entscheidung vorsieht.

Eine Entscheidung über den Antrag kann nicht erwartet werden, denn eine Entscheidung kann nur hinsichtlich des subsidiären Schutzes, aufgrund einer vorübergehend ungewissen Lage aber nicht hinsichtlich der logisch vorrangig zu prüfenden Flüchtlingseigenschaft i. S. d. § 24 Abs. 5 Satz 1 AsylG erwartet werden.

1.

Der Einzelrichter folgt der Auffassung verschiedener Verwaltungsgerichte, dass im Gazastreifen derzeit infolge des bewaffneten Konflikts zwischen bewaffneten palästinensischen Gruppierungen und israelischen Streitkräften allgemein und offensichtlich die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen (VG Sigmaringen, Urteil vom 17.12.2024, A 5 K 2398/23, BeckRS 2024, 37415, Rn. 27; VG Stuttgart, Urteil vom 24.09.2024, A 7 K 4112/24, BeckRS 2024, 25407, Rn. 24; VG Bayreuth, Urteil vom 31.07.2024, B 3 K 24.31139, BeckRS 2024, 24475, Rn. 18-19; OVG Bautzen, Beschluss vom 30.05.2024, 5 A 456/23.A, BeckRS 2024, 24492; VG Schleswig, Urteil vom 17.05.2024, 15 A 193/22, BeckRS 2024, 11640; VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 03.06.2024, 14 A 789/24, NVwZ-RR 2024, 741, Rn. 19-23; VG Dresden, Urteil vom 16.04.2024, 11 K 357/24.A, asyl.net M32345, Seite 6 des Umdrucks; OVG Magdeburg, Urteil vom 20.11.2023, 3 L 82/23.Z, BeckRS 2023, 36992, Rn. 6; VG Hamburg, Urteil vom 14.11.2023, 14 A 3322/20, BeckRS 2023, 50347, Rn. 26). Auch hinsichtlich der persönlichen Ausschlussgründe ist keine eine Entscheidung behindernde Ungewissheit ersichtlich.

2.

Die teilweise hieraus gezogene Schlussfolgerung, das Bundesamt dürfe aus diesem Grund Entscheidungen über unbeschränkte Asylanträge nicht mehr nach § 24 Abs. 5 AsylG aufschieben (insbesondere VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 03.06.2024, 14 A 789/24, NVwZ-RR 2024, 741, Leitsatz 2; VG Dresden, Urteil vom 16.04.2024, 11 K 357/24.A, asyl.net M32345, Seite 6 des Umdrucks), teilt der Einzelrichter hingegen nicht, denn ein unbeschränkter Asylantrag richtet sich zunächst auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; erst bei deren Ablehnung kommt schon dem Namen nach "subsidiärer" Schutz in Betracht. Begehrt ein Asylantragssteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, so verlangt er damit zuvorderst eine Beurteilung gerade dieser individuellen Verhältnisse. Die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft hängen jedoch vielfach von tatsächlichen Umständen ab, die derzeit - anders als die offensichtlich vorliegenden Voraussetzungen subsidiären Schutzes - unaufklärbar sind. Dies beginnt bereits damit, dass mangels geklärten völkerrechtlichen Status der palästinensischen Gebiete schon unklar ist, welches Herkunftsland für die Beurteilung innerstaatlicher Fluchtalternativen i. S. d. § 3e AsylG zu betrachten ist. Auch die Einordnung als tauglicher Verfolgungs- oder Schutzgewährungsakteur ist unklar; so kann nicht festgestellt werden, wer aktuell i. S. d. §§ 3c und 3d AsylG "Staat" oder eine Organisation "die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht" ist. Anders als hinsichtlich des subsidiären Schutzes kann es bei der Betrachtung der Flüchtlingseigenschaft aber gerade auf eine konkrete Benennung von Akteuren und deren geographischen Herrschaftsbereich ankommen. Der Kläger kann nicht mit Erfolg einwenden, er werde von jedem in Betracht kommenden Akteur verfolgt, denn nach der Konzeption der §§ 3c, 3d AsylG ist ein konkreter Verfolgungs- bzw. Schutzakteur festzustellen, denn dies ist das zentrale Abgrenzungsmerkmal zu anderen Schutzformen (vgl. BeckOK-MigR/Wittmann, 20. Auflage 01.01.2025, § 3c AsylG Rn. 2). Zudem kommt durchaus auch der am bewaffneten Konflikt beteiligte Staat Israel als Staat oder Organisation, welche den wesentlichen Teil des Gebietes beherrscht, in Betracht. Es liegen jedoch keine Erkenntnisse dazu vor, dass Israel systematisch Homosexuelle verfolgen würde (vgl. die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes zu Israel mit Stand vom 01.04.2025, wonach eine praktisch nicht vollzogene Strafbarkeit (nur) in den palästinensischen Gebieten besteht).

In Bezug auf die palästinensischen Gebiete ist zudem unklar, ob Schutz i. S. d. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AsylG durch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten noch gewährt wird bzw. werden wird (EuGH, Urteil vom 13.06.2024, C-563/22, NVwZ 2024, 1409, Rn. 81-85; Roßkopf, ZAR 2024, 109). Der Aufschub wirkt hier auch nicht zwingend zu Lasten des Antragstellers, denn unter Umständen profitiert er vom Wegfall des Ausschlusstatbestands des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylG in Verbindung mit der ipso-facto-Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 AsylG (BVerwG, Urteil vom 27.04.2021, 1 C 2/21, BeckRS 2021, 14180, Rn. 12).

Bei alldiesen Unklarheiten ist durchaus nicht zu erwarten, dass eine Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft getroffen wird.

3.

Der Kläger verlangt ausdrücklich auch eine Entscheidung über die Flüchtlingseigenschaft, die nach vorstehenden Erkenntnissen zum gem. § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt nicht erwartet werden kann.

4.

Die Beklagte hat vorliegend auch nicht ihre Pflicht aus § 24 Abs. 5 Satz 2 AsylG zur Überprüfung der Entscheidung alle sechs Monate verletzt, denn die Aufschubentscheidung vom 14.02.2025 ist zum gem. § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt noch keine sechs Monate alt. Zudem ergibt sich etwa aus den zu Israel nahezu wöchentlich und überdurchschnittlich umfangreich erscheinenden "Briefing Notes" des Bundesamtes (letzte Veröffentlichung vom 31.03.2025), dass dieses die aktuelle Lage fortlaufend beobachtet.

Die Höchstfrist von 21 Monaten läuft erst am 26.07.2025 aus.

5.

Auch soweit in der Vergangenheit - also vor Wirksamwerden der gegenständlichen Aussetzungsentscheidung - Entscheidungen getroffen sein sollten, vermag dies keinen Anspruch des Klägers begründen, ebenfalls beschieden zu werden. Zunächst ergibt sich aus der klägerseits angeführten Bundestagsdrucksache 20/12632 (bzw. deren Beantwortung 20/13065) nicht, dass tatsächlich über Anträge aus dem Gazastreifen entschieden wurde, da diese Zahlen nur insgesamt für die palästinensischen Gebiete ausweist (hierzu Bundestagsdrucksache 20/12372, Seite 11); zudem führen in der Bundestagsdrucksache 20/13065 sowohl eine Frage als auch eine Antwort übereinstimmend auf, dass Entscheidungen über Anträge aus dem Gazastreifen derzeit aufgeschoben werden. Zuletzt ergibt sich aus einer überobligatorischen Entscheidung - die entsprechend dem Vortrag der Beklagten auch durch besondere Umstände im Einzelfall gekennzeichnet sein kann - kein Anspruch des Klägers, ebenfalls in derselben Zeit beschieden zu werden.

Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass die EU-Kommission nicht entsprechend § 24 Abs. 5 Satz 3 letzter Teilsatz AsylG informiert wurde, denn diese Informationspflicht begründet keine subjektiven Rechte des Klägers analog § 113 Abs. 5 VwGO. Die Information erfolgt - anders als die ebenfalls vorgesehene individuelle Information des Ausländers - vielmehr allein im öffentlichen Interesse. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass eine Information nicht über individuelle Verfahren, sondern für Verfahrensgruppen erfolgt, wie sich aus der Formulierung des entsprechenden Teilsatzes, der von "Aufschub der Entscheidungen", spricht, sowie noch deutlich aus der ihm zu Grunde liegenden Vorschrift des Art. 31 Abs. 4 Satz 2 lit. c der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU, nach der "über die Verschiebung der Verfahren für diesen Herkunftsstaat" zu informieren ist.

Vorliegend steht zudem nicht fest, dass die EU-Kommission nicht unterrichtet wurde; vielmehr blieb dieser Umstand in der mündlichen Verhandlung unaufklärbar, insbesondere weil keine Generalakten über derartige Meldungen vorlagen.

6.

Der Einzelrichter hält vorliegend eine Aussetzungsfrist bis zum Ende der unter 4. bestimmten Höchstfrist für zweckmäßig, denn die nächste durch § 24 Abs. 5 AsylG gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung der Aufschiebungsentscheidung ist erst etwa zeitgleich fällig.