Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 13.05.2025, Az.: 10 SLa 693/24

Berechnung des Krankengeldzuschusses nach dem MTV für die Beschäftigten der Medizinischen Dienste für privat krankenversicherte Teilzeitarbeitnehmer

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
13.05.2025
Aktenzeichen
10 SLa 693/24
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2025, 15764
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2025:0513.10SLa693.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hannover - 07.08.2024 - AZ: 9 Ca 45/24 Ã

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    § 22 TV MD ist nicht ergänzend dahin auszulegen, dass bei Teilzeitbeschäftigten der bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses zugrunde zu legende Krankengeldhöchstsatz entsprechend der verminderten Arbeitszeit zu verringern wäre.

  2. 2.

    Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Eine ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht. Voraussetzung für eine ergänzende Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke vorliegt oder eine Regelung nachträglich lückenhaft geworden ist.

  3. 3.

    Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 TzBfG untersagt ausschließlich die nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, wenn sie auf die Teilzeitarbeit an sich zurückzuführen ist. Ist die Ungleichbehandlung demgegenüber anders als mit der Dauer der Arbeitszeit zu begründen, liegt keine Benachteiligung wegen der Teilzeitarbeit vor.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 7. August 2024 - 9 Ca 45/24 Ö - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Krankengeldzuschuss. Hinsichtlich des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien nebst Anträgen sowie der Würdigung, die jenes Vorbringen dort erfahren hat, wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Hannover vom 7. August 2024 (Bl. 155 bis 160 d.A. I. Instanz) Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Anspruch ergebe sich weder aus dem Wortlaut der einschlägigen Tarifnorm noch sei diese so auszulegen, dass der Krankengeldhöchstsatz an die Teilzeitquote anzupassen sei. Die Tarifnorm benachteilige die Klägerin nicht wegen deren Teilzeitarbeit. Die Differenz zwischen dem Krankengeldhöchstsatz und dem Nettoentgelt des letzten vollen Monats, die vom Arbeitgeber auszugleichen sei, knüpfe nicht an die Arbeitszeit an, sondern an das Nettoentgelt; dieses sei von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Der Zuschuss solle den Nachteil ausgleichen, der aus dem Ende des Entgeltfortzahlungsanspruchs nach sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit entstehe, aber auf das Maß begrenzt se in, dem der Arbeitnehmer nicht entgehen könne. Erst wenn dieser die Möglichkeiten der Selbstvorsorge ausgeschöpft habe, müsse der Arbeitgeber eintreten. Dessen Aufgabe sei es nicht, das Risiko abzusichern, das der Arbeitnehmer eingehe, indem er die gesetzliche Krankenversicherung verlasse, die ihm ein Krankengeld gesichert hätte. Daraus und nicht aus der Teilzeittätigkeit resultiere der der Klägerin entstandene Nachteil.

Gegen das ihr am 28. August 2024 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Klägerin am Montag, den 30. September 2024 Berufung eingelegt und sie innerhalb der verlängerten Frist am 28. November 2024 begründet.

Die Berufung führt aus: Die Tarifnorm des § 22 Abs. 4 TV MD sei so auszulegen, dass der Krankengeldhöchstsatz an die Teilzeitquote der Klägerin anzupassen sei. Der nach dem Tarifwortlaut für die privat krankenversicherte Klägerin bei der Berechnung des Zuschusses heranzuziehende fiktive Krankengeldhöchstsatz von 116,39 Euro pro Tag, für den Streitzeitraum von 14 Tagen mithin 1.629,46 Euro, liege über ihrem Nettoentgelt, so dass sich ein Anspruch auf Zuschuss nicht ergäbe. Dieses Ergebnis verstieße gegen das Benachteiligungsverbot aus § 4 TzBfG, weil Teilzeitbeschäftigte im Vergleich zu Vollzeitkräften in gleicher Position ein geringeres Nettogehalt erhielten. Die Tarifnorm sei daher ergänzend dahin auszulegen, dass der fiktive Krankengeldhöchstsatz im Verhältnis der anteiligen Arbeitszeit der Teilzeitkraft im Vergleich zu einer Vollzeitkraft gekürzt werde, denn die geringere Arbeitszeit dürfe nur quantitativ, nicht aber qualitativ anders abgegolten werden als Vollzeitarbeit.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Arbeitsgerichts abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr 369,11 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz sei dem 16. August 2023 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts nach Maßgabe ihrer Berufungserwiderung vom 31. Januar 2025 (Bl. 118 bis 120 d.A. II. Instanz) und macht insbesondere geltend: Der Anspruch folge weder aus dem Wortlaut der Tarifnorm noch sei deren ergänzende Auslegung geboten, denn sie verstoße nicht gegen § 4 TzBfG. Sie knüpfe nicht an die Arbeitszeit an, sondern an das individuelle Nettoentgelt und an das Bestehen einer privaten Krankenversicherung. Die Klägerin habe sich freiwillig für diese und gegen den Abschluss einer Krankentagegeldversicherung entschieden.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidung durch das Berufungsgericht gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung bleibt erfolglos.

I.

Die nach § 64 Abs. 1, 2 ArbGG statthafte Berufung ist gemäß §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

II.

Die Berufung ist nicht begründet.

1.

Das Berufungsgericht folgt nach eigener Prüfung den zutreffenden Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils, stellt dies hierdurch gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG fest und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf seine Entscheidungsgründe Bezug.

2.

Die Ausführungen der Berufung führen zu keinem anderen Ergebnis.

a)

Einzig denkbare Anspruchsgrundlage ist § 22 des kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme anwendbaren Manteltarifvertrages für die Beschäftigten der Medizinischen Dienste (TV MD). Dieser lautet auszugsweise:

§ 22 Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit

(1) Den Beschäftigten werden (sic) im Falle einer unverschuldeten Arbeitsunfähigkeit ... die Vergütung bis zur Dauer von 6 Wochen weitergezahlt, bei einer Beschäftigungszeit zu Beginn des auslösenden Ereignisses

von mindestens 2 Jahren bis zur Dauer von 9 Wochen, von mindestens 3 Jahren bis zur Dauer von 12 Wochen, von mindestens 5 Jahren bis zur Dauer von 15 Wochen, von mindestens 8 Jahren bis zur Dauer von 18 Wochen, von mindestens 10 Jahren bis zur Dauer von 26 Wochen.

(2) Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis nach dem 30.06.1994 beginnt, wird die Vergütung gemäß Absatz 1 bis zur Dauer von 6 Wochen weitergezahlt. Einmalig in jedem Kalenderjahr besteht nach Ablauf von 6 Wochen für die Zeit des sich anschließenden Krankengeldbezuges Anspruch auf Krankengeldzuschuss, und zwar bei einer Beschäftigungszeit zu Beginn des auslösenden Ereignisses

von mehr als einem Jahr längstens bis zum Ende der 13. Woche, von mehr als drei Jahren längstens bis zum Ende der 26. Woche

seit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Erstreckt sich die Erkrankung ununterbrochen von einem in das nächste Kalenderjahr oder erkranken die Beschäftigten innerhalb von 13 Wochen nach Wiederaufnahme der Arbeit erneut wegen der gleichen Ursache, verbleibt es bei dem Anspruch aus dem Vorjahr.

(3) ...

(4) Der Krankengeldzuschuss nach Absatz 2 und 3 beträgt den Unterschiedsbetrag zwischen der Höhe des Nettoentgelts des letzten vollen Abrechnungsmonats und der Leistung des Kranken-/Unfallversicherungsträgers. Bei privat Krankenversicherten wird der jeweilige Krankengeldhöchstsatz, der bei Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung zustünde, fiktiv als Leistung des Krankenversicherungsträgers zugrunde gelegt. Darüber hinaus ist für privat Krankenversicherte der Zuschuss auf den Differenzbetrag zwischen dem Nettoentgelt und dem erhaltenen Krankentagegeld, das nachzuweisen ist, begrenzt.

b)

Wie auch die Berufung nicht verkennt, ergibt sich der Anspruch nicht aus dem Tarifwortlaut: Der nach § 22 Abs. 4 TV MD zu ermittelnde und fiktiv als Leistung des Krankenversicherungsträgers zugrunde zu legende Krankengeldhöchstsatz übersteigt das bei der Ermittlung des Unterschiedsbetrages zugrunde zu legende Nettoentgelt der Klägerin.

c)

Der Tarifvertrag ist auch nicht ergänzend dahin auszulegen, dass bei Teilzeitbeschäftigten der bei der Berechnung des Zuschusses zugrunde zu legende Krankengeldhöchstsatz entsprechend der verminderten Arbeitszeit zu verringern wäre.

aa)

Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Eine ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht. Voraussetzung für eine ergänzende Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke vorliegt oder eine Regelung nachträglich lückenhaft geworden ist (BAG 5. Juli 2023 - 4 AZR 289/22 - Rn. 28; 18. Februar 2021 - 6 AZR 702/19 - Rn. 22, BAGE 174, 63; 14. September 2016 - 4 AZR 1006/13 - Rn. 21).

bb)

Nach diesen Grundsätzen liegt keine unbewusste Regelungslücke vor. Die Tarifvertragsparteien haben einkommensunabhängig den Höchstsatz des Krankengeldes zur Berechnungsgrundlage gemacht; Anhaltspunkte für eine unbewusste Regelungslücke bestehen nicht. Es handelt sich um eine gebräuchliche Regelung, die sich auch in anderen Tarifwerken findet (vgl. BAG 27. Mai 2020 - 5 AZR 258/19 - Rn. 27). Ohne ausdrückliche Regelung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Tarifvertragsparteien die wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers erhöhen wollten (vgl. BAG ibid. Rn. 25).

cc)

Das Verbot, Teilzeitbeschäftigte schlechter zu behandeln als vergleichbare vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer (§ 4 Abs. 1 TzBfG), führt zu keinem anderen Ergebnis.

(1)

Zwar sind Tarifnormen grundsätzlich so auszulegen, dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht geraten. Tarifvertragsparteien wollen im Zweifel Regelungen treffen, die mit zwingendem höherrangigem Recht in Einklang stehen und damit auch Bestand haben. Lässt eine Tarifnorm eine Auslegung zu, die zu einem mit höherrangigem Recht vereinbaren Ergebnis führt, ist sie in diesem Sinne anzuwenden (BAG 20. November 2019 - 5 AZR 39/19 - Rn. 27; 21. Februar 2013 - 6 AZR 524/11 - Rn. 19, BAGE 144, 263).

(2)

Wie das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, liegt jedoch keine verbotene Ungleichbehandlung wegen der Teilzeitarbeit vor.

(a)

Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 TzBfG untersagt ausschließlich die nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, wenn sie auf die Teilzeitarbeit an sich zurückzuführen ist. Ist die Ungleichbehandlung demgegenüber anders als mit der Dauer der Arbeitszeit zu begründen, liegt keine Benachteiligung wegen der Teilzeitarbeit vor. Die Dauer der Arbeitszeit muss Anknüpfungspunkt für die Ungleichbehandlung sein; es genügt nicht, wenn andere Umstände, die keinen Bezug zu der Arbeitszeit haben, ausschlaggebend sind. Die Arbeitszeit ist maßgebliches Kriterium, wenn eine Vereinbarung oder Maßnahme ausdrücklich nur für Vollzeitbeschäftigte gilt oder wenn Arbeitnehmer erst ab einer bestimmten Arbeitszeit von einer Arbeitsbedingung erfasst werden (ErfK/Preis 25. Aufl. 2025 § 4 TzBfG Rn. 34 f. mwN).

(b)

Danach wird die Klägerin nicht wegen ihrer Teilzeittätigkeit benachteiligt, denn die tarifliche Zuschussregelung knüpft nicht an diese an. Die Berechnung des Krankengeldzuschusses gilt für alle Arbeitnehmer gleichermaßen, die sich zum einen für eine private Krankenversicherung entschieden und die zum anderen keine den Entgeltverlust deckende Krankentagegeldversicherung abgeschlossen haben. Diese von der Klägerin autonom getroffenen Entscheidungen stehen in keinem Zusammenhang mit der Dauer ihrer individuellen Arbeitszeit. Auch ergibt sich die Höhe des als Berechnungsg rundlage dienenden Nettoentgelts nicht schon aus der Dauer der Arbeitszeit, sondern auch aus neutralen Kriterien wie der tariflichen Eingruppierung bzw. dem individuell vereinbarten Arbeitsentgelt oder der für die Klägerin geltenden Steuerklasse.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

IV.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde wird hingewiesen.