Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 14.01.2025, Az.: 15 A 4188/24

Diskriminierung; erniedrigende Behandlung; Notunterkünfte; Obdachlosigkeit; unmenschliche Behandlung; Verelendung; Systemische Mängel im französischen Asylsystem für nicht vulnerable Asylantragsteller

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
14.01.2025
Aktenzeichen
15 A 4188/24
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2025, 10480
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2025:0114.15A4188.24.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Nicht vulnerablen Asylantragstellern droht in Frankreich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit.

  2. 2.

    Alleinstehende männliche Asylbewerber machen den größten Anteil der Asylsuchenden in Frankreich aus, werden jedoch gegenüber Familien mit Kindern und anderen vulnerablen Personengruppen bei der Vergabe von staatlichen Unterkünften als nachrangig behandelt.

  3. 3.

    Im Jahr 2023 waren nur 73,2 % der Asylbewerber mit Anspruch auf die Gewährung materieller Aufnahmebedingungen kostenlos in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber oder allgemeinen Notunterkünften untergebracht.

  4. 4.

    Die Höhe der monatlich gewährten Beihilfe für Asylbewerber reicht nicht aus, um eine Wohnung auf dem privaten Markt zu finanzieren. Aufgrund des Arbeitsverbots sind Asylbewerber inerhalb der ersten sechs Monate ihres Asylverfahren auch nicht in der Lage, eigene Einkünfte zu erzielen.

  5. 5.

    Die französische Regierung ist bemüht, die materiellen Aufnahmebedingungen für nicht vulnerable Asylbewerber weiter einzuschränken, insb. durch den Entzug des Leistungsanspruchs bei Verstoß der Antragsteller gegen gesetzliche Obliegenheiten.

Tenor:

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05.09.2024 wird aufgehoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die vorläufige Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und die Anordnung seiner Abschiebung nach Frankreich.

Er ist ivorischer Staatsangehöriger, zugehörig zum Volk der Malinke und muslimischen Glaubens aus E..

Der Kläger verließ sein Heimatland am 29.01.2024 und reiste von Abidjan aus mit einem Visum der französischen Botschaft, ausgestellt am selben Tag und gültig bis zum 14.03.2024, nach Paris. Am 03.04.2024 reiste der Kläger weiter nach Deutschland, wo er am 19.04.2024 einen Asylantrag stellte.

In seiner persönlichen Anhörung am 13.05.2024 berichtete der Kläger, dass er in Côte d'Ivoire Abitur gemacht und dann zwei Jahre lang eine Technische Hochschule besucht habe. Zuletzt habe er für die F. als Chauffeur gearbeitet. Seine Ehefrau sei verstorben; seine drei minderjährigen Kinder lebten noch in Côte d'Ivoire bei seiner Schwester. Er habe sein Herkunftsland verlassen müssen, weil er von Drogenbanden bedroht worden sei.

In seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am selben Tag berichtete der Kläger, dass er sich in Frankreich nicht sicher gefühlt habe, weil er dort immer wieder Leute getroffen habe, die er aus Abidjan kannte.

Am 24.05.2024 stellte die Beklagte ein Wiederaufnahmegesuch, basierend auf Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO, an Frankreich. Die französischen Behörden erklärten sich mit Schreiben vom 23.07.2024 zur Wiederaufnahme des Klägers bereit.

Mit Bescheid vom 05.09.2024, zugestellt am 16.09.2024, lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Frankreich an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf zehn Monate (Ziffer 4). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass Frankreich aufgrund des ausgestellten Visums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Zwar bestünden Schwierigkeiten bei der Versorgung von Schutzsuchenden mit Unterkünften, doch auf diese reagiere der französische Staat nicht mit Gleichgültigkeit, sondern mit entsprechenden Maßnahmen, etwa durch die Asyl- und Migrationsgesetzreform im Jahr 2018 und die Einführung eines neuen Unterkunftsverteilungssystems nach deutschem Vorbild für die Jahre 2021 bis 2023.

Der Kläger hat am 19.09.2024 Klage erhoben.

Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und argumentiert, ihm drohe in Frankreich eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Er habe dort menschenunwürdige Zustände erlebt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 05.09.2024 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt ihren Bescheid und bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Die Kammer hat die Entscheidung des Rechtsstreits auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) entscheidet ohne mündliche Verhandlung über die Klage, weil die Beteiligten mit Schriftsätzen vom 24.09.2024 und vom 13.01.2025 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Weist das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - mit der Begründung als unzulässig ab, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Asylsuchenden zuständig sei, ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 - 1 C 32.14 -, juris Rn. 14 f.). Der Kläger hat auch innerhalb der Wochenfrist des §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nach der am 16.09.2024 erfolgten Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheids Klage erhoben.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 05.09.2024 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sein Asylantrag wurde zu Unrecht als unzulässig abgelehnt.

Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.

Die Zuständigkeit Frankreichs ergibt sich grundsätzlich aus Art. 12 Abs. 4 UAbs. 1 Dublin III-VO. Besitzt der Antragsteller demnach ein oder mehrere Visa, die seit weniger als sechs Monaten abgelaufen sind, aufgrund deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, so sind die Absätze 1, 2 und 3 anwendbar, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat. Besitzt der Antragsteller nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ein gültiges Visum, so ist grundsätzlich der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. In diesem Fall besitzt der Kläger ein Visum für Frankreich, das am 14.03.2024 abgelaufen ist. Er hat Frankreich gut zwei Monate nach der Einreise wieder verlassen, ohne einen Asylantrag gestellt zu haben. Frankreich hat dem am 24.05.2024 gestellten Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes am 23.07.2024 zugestimmt.

Die Zuständigkeit Frankreichs ist jedoch aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat (die Bundesrepublik) die Prüfung der in Kapitel III der Verordnung vorgesehenen Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat (hier Frankreich) zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta für Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen. Kann die Überstellung nicht an einen aufgrund der genannten Kriterien bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat (die Bundesrepublik) zuständig.

Im Zusammenhang mit der Beurteilung eines ernsthaften Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK ist stets von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten auszugehen. Dieser hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat, dass dieser, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Damit gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV steht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 81 ff.; BVerwG, Beschluss vom 07.03.2022 - 1 B 21/22 -, juris Rn. 13). Diese Vermutung ist allerdings widerlegbar. Insoweit obliegt es den nationalen Gerichten zu prüfen, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 85).

Systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO können erst angenommen werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9). Es kann sich dabei um systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen handeln. Diese fallen nur dann ins Gewicht, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 90 ff.; BVerwG, Beschluss vom 07.03.2022 - 1 B 21/22 -, juris Rn. 13). Erforderlich ist die reale Gefahr, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, dass das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet, oder, dass der Betroffene während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare menschliche Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in zumutbarer Weise befriedigen kann (Nds. OVG, Urteil vom 15.11.2016 - 8 LB 92/15 -, juris Rn. 41).

Nach der Überzeugung der Einzelrichterin weist das französische Asylsystem systemische Mängel auf im Hinblick auf die Personengruppe Asylsuchender, die keine äußeren Kennzeichen von Vulnerabilität wie etwa körperliche Behinderungen oder hohes Alter und Gebrechlichkeit aufweisen oder die - wie die Eltern minderjähriger Kinder - mit vulnerablen Personen als Einheit zu betrachten sind. Der Kläger ist als alleinstehender Mann Teil dieser Personengruppe und als solcher droht ihm im Falle einer Rückführung nach Frankreich eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Verelendung.

Alleinstehende männliche Asylbewerber machen den größten Anteil der Asylsuchenden in Frankreich aus, werden jedoch gegenüber Familien mit Kindern und anderen vulnerablen Personengruppen bei der Vergabe von staatlichen Unterkünften als nachrangig behandelt (zu Letzterem s. auch: Nds. OVG, Beschluss vom 28.10.2024 - 10 LA 120/23 -, juris Rn. 17 f.; VG Gießen, Urteil vom 03.09.2024 - 1 K 1362/21.GI.A -, juris Rn. 46). Wegen des eingeschränkten Zugangs zum Arbeitsmarkt, der begrenzten Höhe der finanziellen Asylbewerberleistungen und der verbreiteten Diskriminierung gegenüber migrantifizierten und muslimischen Menschen haben sie in Frankreich zudem regelmäßig nicht die Möglichkeit, eine Unterkunft auf dem privaten Wohnungsmarkt zu finden.

Asylbewerbern stehen im Rahmen des französischen nationalen Aufnahmesystems (dispositif national d'accueil, DNA) Aufnahmezentren (centre d'accueil pour demandeurs d'asile, CADA), Notunterkünfte (L'hébergement d'urgence pour demandeurs d'asile (HUDA), accueil temporaire - service asile (AT-SA), programme d'accueil et d'hébergement des demandeurs d'asile (PRAHDA)), Aufnahme- und Orientierungszentren (Centre d'accueil et d'orientation (CAO)) sowie Aufnahme- und Verwaltungszentren für die Prüfung der Situation (centre d'accueil et d'examen des situations (CAES)) zur Verfügung. Ende 2023 finanzierte der französische Staat 49.242 Plätze in CADA, 52.950 in HUDA und 6.622 in CAES. Die Entscheidung über die Aufnahme in Unterkünften für Asylbewerber sowie über den Auszug oder über die Änderung des Wohnorts trifft das französische Amt für Einwanderung und Integration (l'Office Français de l'Immigration et de l'Intégration (OFII)) nach Rücksprache mit dem Leiter der Unterkunft. Die Kosten für die Unterbringung von Asylbewerbern in den Aufnahmeeinrichtungen werden vom Staat getragen (Asylum Information Database (AIDA)/European Council on Refugees and Exiles (ECRE), Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 113, 117, 119). Unterbringungszentren für Asylsuchende bieten Schlaf- und Kochräume sowie Unterstützung durch Sozialarbeiter bei rechtlichen und sozialen Fragen. Die Bandbreite reicht von großen Gebäuden mit Büros und Schlafzimmern bis hin zu Wohnungen an verschiedenen Standorten (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 111).

Im Rahmen des nationalen Aufnahmeprogramms ist gemäß Artikel L.551-1 des CESEDA (Code de l'entrée et du séjour des étrangers et du droit d'asile, zu Deutsch: Gesetzbuch über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und das Asylrecht) das Innenministerium dafür zuständig, alle zwei Jahre ein nationales Schema für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Integration von Flüchtlingen (Schéma national d'accueil des demandeurs d'asile et d'intégration des réfugiés (SNADAIR)) zu erstellen, das dann von den Präfekten der Regionen in regionale Schemata umgewandelt wird. Dieses Schema legt die Verteilung der Unterbringungsplätze fest (La Cimade, Vers un nouveau schéma national d'accueil des demandeurs d'asile: cartographie des capacités d'accueil, 06.01.2025, https://www.lacimade.org/vers-un-nouveau-schema-national-daccueil-des-demandeurs-dasile20241/, aufgerufen - wie die übrigen Links - am 14.01.2025). Das nationale Schema vom 13.05.2022 ist seit dem 18.05.2024 ungültig und bisher noch nicht aktualisiert worden. Es hebt jedoch auch die frühzeitige Erkennung und verstärkte Berücksichtigung von Vulnerabilitäten im Asylverfahren hervor und verweist auf den ebenfalls vom Innenministerium entwickelten "Plan vulnérabilités" aus Mai 2021 (Ministère de l'intérieur, S.15, https://www.immigration.interieur.gouv.fr/content/download/125575/1004750/file/Snadar-17dec2020.pdf; "Plan vulnérabilités" abrufbar unter: https://www.interieur.gouv.fr/sites/minint/files/medias/documents/2021-06/Plan-vulnerabilite-28052021.pdf). Dasselbe gilt für die aktuellen regionalen Schemata, etwa das der Region Hauts-de-France für die Jahre 2024 bis 2027, welches ebenfalls eine Priorisierung vulnerabler Asylbewerber bei der Unterbringung vorsieht (Préfet de la région Hauts-de-France, Actualisation du schéma régional des demandeurs d'asile et des réfugiés (2024-2027), S. 25 f., abrufbar unter: https://www.prefectures-regions.gouv.fr/hauts-de-france/irecontenu/telechargement/116987/872419/file/SRADAR%202024.pdf). Allerdings wies die NGO Fédération des acteurs de la solidarité (FAS) in einer Bilanz des nationalen Schemas darauf hin, dass die Feststellung einer Vulnerabilität durch die Ärzte des OFII, sei sie physischer oder psychologischer Natur, keinen Unterbringungsplatz im staatlichen Aufnahmesystem garantiert (FAS, 30.01.2024, https://www.federationsolidarite.org/actualites/bilan-snadar-2021-2023-et-recommandations-snadar-2024-2027-dans-le-cadre-du-projet-de-loi-pour-controler-limmigration-et-ameliorer-lintegration/).

Asylsuchende werden nur dann in den Aufnahmeeinrichtungen untergebracht, wenn genügend Kapazitäten vorhanden sind. Im Jahr 2023 waren nach den Zahlen von OFII 98,1 % der Plätze des nationalen Aufnahmesystems belegt (OFII, Rapport d'activité 2023, 20.12.2024, S. 30 f., 36, abrufbar unter: https://www.ofii.fr/wp-content/uploads/2024/12/Rapport-annuel-OFII-2023.pdf; im Vergleich dazu Ende 2021: 97,1 % belegt, vgl. OFII, Édito, 25.07.2022, S. 26, abrufbar unter: https://www.ofii.fr/wp-content/uploads/2022/07/HR_RA_OFII_2021_21x297_p3_p114_compressed.pdf). Damit gibt es nicht genügend freie Plätze, sodass OFII die Fälle nach individuellen Umständen und Schutzbedürftigkeit priorisieren muss (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 111). Die CADA-Aufnahmezentren nehmen dabei vorrangig Asylwerber mit sofort erkennbaren Merkmalen von Vulnerabilität auf, also Familien mit Kleinkindern, Schwangere und Alte (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Frankreich, 28.03.2024, S. 11; France terre d'asile, L'hébergement des demandeurs d'asile, https://www.france-terre-asile.org/articles-ftda/que-faisons-nous/hebergement-des-demandeurs-asile). In der Praxis besteht in Frankreich eine Diskrepanz zwischen der Art der verfügbaren Plätze und den Bedürfnissen der Asylbewerber. Viele Aufnahmezentren sind so organisiert, dass sie Familien oder Paare aufnehmen, was die Unterbringung alleinstehender Männer oder Frauen erschwert. Ein parlamentarischer Bericht stellt dem gegenüber, dass, zumindest im regionalen Kontext, 61,8 % der Asylbewerber alleinstehende Männer, 11,1 % alleinstehende Frauen und nur 27,1 % Familien sind, während von den 3.000 leeren Wohneinheiten (entsprechend 5.000 Personen), die im Juli 2021 zur Verfügung standen, 71 % der Plätze für Familien vorgesehen waren (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 122). Von den im Jahr 2023 untergebrachten Personen waren 58,4 % Familien und nur 41,6 % alleinstehende Personen (OFII, Rapport d'activité 2023, 20.12.2024, S. 30 f., 36, abrufbar unter: https://www.ofii.fr/wp-content/uploads/2024/12/Rapport-annuel-OFII-2023.pdf).

Im Jahr 2024 wurden 1.000 neue Plätze (500 in CADA und 500 in CAES) für Asylsuchende eröffnet (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 121 f.). Allerdings gibt es trotz der Schaffung Tausender neuer Unterkunftsplätze in den vergangenen Jahren eine gläserne Decke von 60.000 bis 70.000 Asylbewerbern, die seit 2018 in den dafür vorgesehenen Einrichtungen untergebracht sind. Die Anzahl und der Anteil der Personen mit internationalem Schutzstatus oder abgelehnten Asylbewerbern, die in den Unterkünften verbleiben, manchmal über die vorgeschriebenen Fristen von drei bis sechs Monaten bzw. einem Monat hinaus, ist erheblich (La Cimade, Vers un nouveau schéma national d'accueil des demandeurs d'asile: cartographie des capacités d'accueil, 06.01.2025, https://www.lacimade.org/vers-un-nouveau-schema-national-daccueil-des-demandeurs-dasile20241/). Im Jahr 2023 waren nur 79 % der Plätze im DNA belegt von Asylbewerbern und anderen berechtigten Personen, während die übrigen Plätze genutzt wurden von abgelehnten Asylbewerbern und anerkannten Schutzberechtigten, die sich über die gesetzlich vorgeschriebene Frist hinaus noch in den Einrichtungen aufhielten (Ministère de l'économie, des finances et de la souveraineté industrielle et numérique, Projet annuel de performances, Annexe au projet de loi de finances pour 2025, Immigration, asile et intégration, 18.10.2024, S. 24 f., abrufbar unter: https://www.budget.gouv.fr/documentation/documents-budgetaires/exercice-2025/projet-loi-finances-les/budget-general-plf-15).

Ende des Jahres 2023 waren nur 61 % der leistungsberechtigten Asylbewerber ("demandeurs d'asile allocataires") in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen des DNA untergebracht. Seit Anfang 2024 lag die Unterbringungsquote bei durchschnittlich 64,8 %. Für das Jahr 2025 strebt die französische Regierung eine Quote von 65 % an. Zwar berücksichtigen diese Zahlen nicht die Asylbewerber, die in einer allgemeinen - nicht nur für Asylbewerbern vorgesehenen - Notunterkunft im Rahmen des Programms 177 untergebracht waren (Ministère de l'économie, des finances et de la souveraineté industrielle et numérique, Projet annuel de performances, Annexe au projet de loi de finances pour 2025, Immigration, asile et intégration, 18.10.2024, S. 24 f., abrufbar unter: https://www.budget.gouv.fr/documentation/documents-budgetaires/exercice-2025/projet-loi-finances-les/budget-general-plf-15). Das staatliche Programm 177 ("Hébergement, parcours vers le logement et insertion des personnes vulnérables") fördert den Zugang zu Wohnraum für obdachlose Personen mithilfe der Strategie des "Housing First" (Ministère de l'économie, des finances et de la souveraineté industrielle et numérique, Projet annuel de performances, Annexe au projet de loi de finances pour 2025, PROGRAMME 177, Hébergement, parcours vers le logement et insertion des personnes vulnérables, S. 4, abrufbar unter: https://www.budget.gouv.fr/documentation/file-download/27962). Doch auch unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Notunterkünfte waren im Jahr 2023 nur 73,2 % der Asylbewerber mit Anspruch auf die Gewährung materieller Aufnahmebedingungen kostenlos untergebracht. 26,8 % bekamen lediglich die monatliche Beihilfe ausgezahlt, mit der sie sich eigenständig eine Unterkunft finanzieren sollen (OFII, Rapport d'activité 2023, 20.12.2024, S. 30 f., 36, abrufbar unter: https://www.ofii.fr/wp-content/uploads/2024/12/Rapport-annuel-OFII-2023.pdf). Hinzu kommt, dass die französischen Behörden Asylbewerbern in vielen Fällen die materiellen Aufnahmebedingungen entziehen, wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstoßen, etwa die ihnen zugewiesene Unterkunft nicht beziehen oder ihren Asylantrag zu spät stellen. Unter Berücksichtigung der nicht leistungsberechtigten Asylbewerber ist anzunehmen, dass Ende 2023 84.971 Asylbewerber in Frankreich nicht in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht waren (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 120). Nach Einschätzung der NGO La Cimade (Comité inter-mouvements auprès des évacués) bräuchte Frankreich, um alle Asylsuchenden, deren Antrag anhängig ist, unterzubringen, bei der aktuellen Arbeitsweise ein Aufnahmesystem mit mehr als 100.000 zusätzlichen Plätzen, was in Zeiten der Sparmaßnahmen jedoch nicht in Betracht gezogen wird (La Cimade, Vers un nouveau schéma national d'accueil des demandeurs d'asile: cartographie des capacités d'accueil, 06.01.2025, https://www.lacimade.org/vers-un-nouveau-schema-national-daccueil-des-demandeurs-dasile20241/).

Den leistungsberechtigten Asylbewerber, die keinen Zugang zu den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen oder allgemeinen Notunterkünften erhalten, bleibt nur die Anmietung einer Unterkunft auf dem privaten Wohnungsmarkt. Eigenständig ein Einkommen zu erzielen, das es ihnen erlaubt, die durchschnittlichen Mieten zu finanzieren, ist für sie jedoch faktisch kaum möglich und im ersten halben Jahr des Asylverfahrens sogar rechtlich ausgeschlossen.

Seit März 2019 ist der Zugang zum französischen Arbeitsmarkt nur dann erlaubt, wenn das OFPRA (Office français de protection des réfugiés et apatrides, zu Deutsch: Französisches Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen) nicht innerhalb von sechs Monaten nach Einreichung des Asylantrags über den Antrag entschieden hat und wenn diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zugerechnet werden kann (Artikel L. 554-1 CESEDA). Andere Bestimmungen legen jedoch fest, dass, selbst wenn das OFPRA nach sechs Monaten noch keine Entscheidung getroffen hat, der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht automatisch gegeben ist: Der Asylbewerber unterliegt nunmehr den für ausländische Arbeitnehmer geltenden allgemeinen Rechtsregeln für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis. Er muss also bei den staatlichen Stellen im Departement seines Wohnsitzes einen Antrag stellen und insbesondere einen Arbeitsvertrag oder eine Einstellungszusage vorlegen. Bei ihrer Entscheidung prüft die Behörde insbesondere die Beschäftigungssituation in dem betreffenden Beruf und der betreffenden Arbeitsmarktregion. Der Asylbewerber hat also nach einer Frist von sechs Monaten ohne Antwort des OFPRA kein Recht auf Arbeit, sondern lediglich das Recht, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen, die innerhalb von bis zu zwei Monaten bearbeitet werden kann und in der Praxis überwiegend verweigert wird (Forum Réfugiés, 17.03.2023, https://www.forumrefugies.org/s-informer/publications/articles-d-actualites/en-france/1192-droit-au-travail-des-demandeurs-d-asile-une-effectivite-limitee-par-plusieurs-obstacles). Gemäß Artikel R. 5221-20 des Arbeitsgesetzbuches (Code du travail (Ctrav)) kann der zuständige Präfekt "die aktuelle und zukünftige Arbeitsmarktsituation in dem vom ausländischen Arbeitnehmer gewünschten Beruf und dem geografischen Gebiet, in dem er diesen Beruf ausüben möchte", berücksichtigen, um eine Arbeitserlaubnis zu erteilen oder zu verweigern. In 30 Berufsfeldern gibt es Schwierigkeiten bei der Personalbeschaffung, was es rechtfertigt, Drittstaatsangehörigen zu erlauben, in diesen Bereichen ohne Einschränkungen zu arbeiten. Diese Berufe sind nach Regionen aufgelistet - nur sechs Berufe sind im ganzen Land verbreitet. Im Jahr 2022 wurden von 4.254 von Asylbewerbern eingereichten Anträgen auf Arbeitserlaubnis nur 1.148 bewilligt. Schließlich haben Asylbewerber große Schwierigkeiten beim Zugang zu Berufsausbildungsprogrammen, da auch diese von der Erteilung einer Arbeitserlaubnis abhängig sind (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 130). Asylbewerber können auch von allgemeineren Hindernissen beim Zugang zur Arbeit betroffen sein, die alle Migranten betreffen, wie z. B. Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, fehlende Anerkennung von ausländischen Abschlüssen usw. (Vie publique, 04.10.2024, https://www.vie-publique.fr/en-bref/295567-marche-du-travail-la-situation-de-lemploi-des-personnes-refugiees).

Jedenfalls innerhalb der ersten sechs Monate des laufenden Asylverfahrens hat ein Asylbewerber in Frankreich damit keine und auch nach Ablauf dieser Frist nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, aus eigener Kraft Einkünfte zu erzielen, sondern ist auf staatliche Leistungen angewiesen, um eine private Unterkunft finanzieren zu können.

Asylbewerbern wird in Frankreich eine monatliche Beihilfe (allocation pour demandeur d'Asile (ADA)) ausgezahlt, deren Höhe abhängig ist von der Anzahl der Familienmitglieder (OFII, https://www.ofii.fr/procedure/demande-dasile/). Die Höhe der Beihilfe betrug im Dezember 2023 für alleinstehende Asylsuchende, die aufgrund mangelnder Kapazitäten nicht über das nationale Aufnahmesystem untergebracht werden konnten, 426 Euro. In vielen Fällen wird die Beihilfe verspätet ausgezahlt. Asylbewerber haben darüber hinaus keinen Anspruch auf den Sozialhilfesatz, das sogenannte Aktive Solidaritätseinkommen (Revenu de solidarité active (RSA)), das Personen über 25 Jahren gewährt wird, die über keine oder nur sehr geringe Einkünfte verfügen (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 113 f.). Die ADA wird Asylbewerbern monatlich direkt von OFII auf eine Karte ausgezahlt, die einer Debitkarte ähnelt und von Asylbewerbern verwendet werden kann. Diese Karte kann seit November 2019 nicht mehr für Bargeldabhebungen, sondern nur für Zahlungen verwendet werden, sowohl online als auch in Geschäften. Diese Entwicklung schränkt die Möglichkeiten von Asylsuchenden ein, ihr Geld zu verwenden, und wurde von NGOs stark kritisiert. Infolgedessen können Asylsuchende weder Lebensmittel auf lokalen Märkten oder in kleinen Geschäften noch Kleidung in Secondhand-Läden kaufen, noch können sie den öffentlichen Nahverkehr nutzen, wenn keine elektronischen Zahlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, oder eine Kaution für eine Miete in bar hinterlegen (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 114 f.).

Zudem ist die den leistungsberechtigten, aber nicht untergebrachten Asylbewerbern gewährte monatliche Beihilfe ist mit nur 426 Euro so niedrig, dass sie den Zugang zu Unterkünften auf dem privaten Markt nahezu unmöglich macht (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 113 f.). Nach den aktuellen Zahlen der Nationalen Agentur für Wohnungsinformation (Agence Nationale pour l'Information sur le Logement (ANIL)) liegt die durchschnittliche Miete für eine Wohnung in Frankreich aktuell bei 9,40 Euro/qm inklusive Nebenkosten. Die Mieten schwanken dabei stark zwischen den einzelnen Departements und Regionen. In Gemeinden außerhalb der Île-de-France mit weniger als 20.000 Einwohnern beträgt die monatliche Miete im Durchschnitt 338 Euro inklusive Nebenkosten. In größeren Gemeinden liegt sie bei 451 Euro inklusive Nebenkosten pro Monat (Ministères aménagement du territoire transistion écologique, https://www.ecologie.gouv.fr/politiques-publiques/carte-loyers#ancre1; Laboratoire de l'Immobilier, https://www.labo-immo.org/selection/les-valeurs-locatives-en-france-inegalites-territoriales/). Selbst wenn Asylbewerber also in entlegenen oder ländlichen Regionen Frankreichs - wo die Unterstützungsstrukturen typischerweise weniger stark ausgeprägt sind - eine Wohnung suchen, müssen sie noch immer fast ihre gesamte Beihilfe für die Miete aufwenden, sodass keine finanziellen Mittel für den Kauf von Möbeln, Lebensmitteln, Kleidung und anderen Gütern des täglichen Bedarfs übrig bleiben.

Die insbesondere gegenüber muslimischen Migranten verbreitete Diskriminierung innerhalb der französischen Gesellschaft ist ein weiteres Hindernis nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch beim Zugang zu Wohnraum. In einer staatlichen Umfrage unter 1.000 Personen muslimischen Glaubens aus dem Jahr 2019 gaben 42 % der Befragten an, mindestens einmal in ihrem Leben Diskriminierung aufgrund ihrer Religion erlebt zu haben. Von den Befragten, die bereits versucht hatten, selbst eine Wohnung zu mieten oder zu kaufen, gaben 22 % an, bei dieser Gelegenheit mit Diskriminierung konfrontiert gewesen zu sein, bei der Suche nach einer Arbeitsstelle berichteten 24 % derjenigen, die bereits Erfahrungen mit einer solchen Situation hatten, von Diskriminierung (Délégation interministérielle à la lutte contre le racisme, l'antisémitisme et la haine anti-LGBT (DILCRAH), État des lieux des discriminations et des agressions envers les musulmans de France, 06.11.2019, S. 7, 17, abrufbar unter: https://www.dilcrah.gouv.fr/files/2024-01/116663_presentation_ifop_dilcrah_2019.11.06.pdf). Im Rahmen einer im März 2023 veröffentlichten Studie zweier statistischer Institute gaben ebenfalls 24 % der befragten Zuwanderer bzw. 25 % der befragten Nachkommen von Zuwanderern an, in den letzten fünf Jahren ungleicher Behandlung oder Diskriminierung ausgesetzt gewesen zu sein. 80 % dieser Personen führten die erlittene Diskriminierung auf ihre Herkunft, ihre Nationalität oder ihre Hautfarbe zurück (Institut National de la Statistique et Etudes Economiques (INSEE)/Institut national d'études démographiques (INED), Discriminations, 30.03.2023, abrufbar unter: https://www.insee.fr/fr/statistiques/fichier/6793302/IMMFRA23-F40.pdf).

Es ist somit davon auszugehen, dass die meisten der knapp 27 % leistungsberechtigten Asylbewerber, die nicht auf Staatskosten untergebracht werden können, obdachlos werden und auf der Straße schlafen müssen. Obdachlosigkeit ist in Frankreich ein strukturelles Problem, das auch französische Staatsbürger betrifft, Asylsuchende jedoch in besonders schwerwiegender Art und Weise.

Laut dem Bericht der Fondation Abbé Pierre über die Wohnungsnot von 2023 sind in Frankreich rund 330.000 Menschen - unabhängig von der Nationalität - wohnungslos, d. h. entweder obdachlos oder in Notunterkünften, Sammelunterkünften, Hotels, CADA oder in einer gemeinnützigen Unterkunft untergebracht. Bei der letzten öffentlichen Zählung im Jahr 2012 lag ihre Anzahl noch bei nur 141.500 Personen, sodass sich die Zahl der Wohnungslosen in Frankreich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. Mehr als 200.000 Menschen ohne Wohnung befinden sich in allgemeinen Unterkünften und etwa 100.000 fallen unter das nationale Aufnahmesystem für Asylbewerber. Zwischen 20.000 und 40.000 Personen leben in Autos, Zelten oder Slums. Die steigende Zahl der Obdachlosen ist sowohl ein Produkt der Wohnungskrise - die durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die Inflation verschärft wurde - als auch der zunehmenden Migrationsströme. Laut Nathalie Latour, der Leiterin der Fédération des acteurs de la solidarité (FAS) und Sprecherin des Collectif des associations unies contre le mal-logement (Kollektiv der Vereinigungen gegen Wohnungsnot) sind die von der Regierung bereitgestellten Notunterkünfte ein Auffangbecken für gescheiterte öffentliche Politiken, neben der Migrationspolitik auch die Wohnungspolitik, die Politik zur Verhinderung von Zwangsräumungen oder auch die Politik, die die Entlassung aus dem Gefängnis, das Ende der Betreuung durch die Kinderfürsorge oder auch durch psychiatrische Versorgungsstrukturen betrifft (Julia Pascual, 10.01.2024, https://www.lemonde.fr/societe/article/2024/01/10/les-sans-domicile-une-population-qui-a-plus-que-double-ces-dix-dernieres-annees_6210052_3224.html).

In Calais gibt es informelle Camps von Migranten, die immer wieder aufgelöst werden. Aber auch in anderen Städten ist Obdachlosigkeit unter Migranten ein Problem (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Frankreich, 28.03.2024, S. 14). Insbesondere Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen (Antragsteller oder Rückkehrer), leben häufig auf der Straße oder in besetzten Häusern, da es insgesamt an Unterkünften mangelt (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 122). Im Oktober 2019 schätzte die NGO France Terre d'asile die Zahl der allein auf den Straßen von Paris lebenden Migranten auf 2.500 Personen. Die NGO Utopia 56 berichtete, dass die Menschen bis zu sechs Monate lang auf der Straße blieben (Rémi Brancato, Radio France, 28.10.2019, https://www.radiofrance.fr/franceinter/paris-les-associations-pointent-un-nombre-jamais-vu-de-migrants-a-la-rue-5829966). Im Jahr 2024 zählte die Pariser Stadtverwaltung bereits 3.492 Personen ohne Unterbringungsmöglichkeit in der Hauptstadt, ein Anstieg von 16 % im Vergleich zur letzten Zählung. Hinzu kamen 500 Personen, die an verschiedenen städtischen Orten (Turnhallen, ehemaliges Gymnasium, ehemaliges Sportgeschäft) betreut wurden. Im Jahr vor der Ausrichtung der olympischen Spiele in Paris verschärfte sich die Situation in der Region Île-de-France, weil die Behörden deutlich mehr Räumungen informeller Camps vornahmen als in den Vorjahren (Jean-Luc Mounier, France 24, 13.06.2024, https://www.france24.com/fr/sports/20240613-ile-de-france-avant-jo-paris-2024-%C3%A9vacuation-sans-abri-amplifi%C3%A9e-jeux-olympiques).

In der nicht vulnerablen Asylantragstellern drohenden Obdachlosigkeit liegt auch eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC. Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Hinblick auf drohende Obdachlosigkeit anerkannter Schutzberechtigter in Italien vertreten, "eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit [sei] für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not" (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG -, juris Rn. 59; BayVGH, Urteil vom 25.05.2023 - 24 B 22.30954 -, juris Rn. 30, ebenso VG München, Beschluss vom 10.08.2023 - M 10 S 23.50817 -, juris Rn. 17), so entbehrt diese Wertung jeder sachlichen Grundlage und widerspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz bezieht sich zur Rechtfertigung seiner Position zudem fälschlicherweise auf ein Urteil des Eufach0000000005s vom 20.05.2020 (1 C 34/19, juris, s. Bezugnahme in OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG -, juris Rn. 47), in welchem das Gericht aber tatsächlich nicht behauptet, Obdachlosigkeit stelle grundsätzlich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar. Stattdessen hebt das Bundesverwaltungsgericht das Bedürfnis, eine Unterkunft zu finden, als elementar und damit das Fehlen einer Unterkunft als typische Situation extremer materieller Not hervor (BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 34/19 -, juris Rn. 19, ebenso: EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris Rn. 90; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 92). Im Übrigen legen beide Senate ihrer Entscheidung jeweils eine unzutreffende Definition von Obdachlosigkeit zugrunde. Wer obdachlos ist, hat keinen festen Wohnsitz bzw. keine Unterkunft. Obdachlose Menschen übernachten im öffentlichen Raum, z.B. in Parks, auf der Straße oder unter Brücken. Obdachlos ist auch, wer in einer Notschlafstelle oder einer Wärmestube schläft. Wer (nur) wohnungslos ist, hat keinen Mietvertrag. Wohnungslose Menschen leben z.B. bei Freunden, bei Bekannten oder in Übergangsheimen und zeitlich befristeten Unterkünften (Diakonie Österreich, https://www.diakonie.at/unsere-themen/armut- und-soziale-krisen/obdachlos- und-wohnungslos-notschlafstellen). Es ist im Übrigen auch aus den aktuellen Erkenntnismitteln nicht ersichtlich, dass die französische Zivilgesellschaft Asylbewerbern außerhalb der staatlichen Strukturen kostenfreie, private Unterbringungsmöglichkeiten - in ausreichender Zahl und mit der notwendigen Verlässlichkeit - zur Verfügung stellen kann oder will.

Es fehlt im Hinblick auf nicht vulnerable Asylbewerber an stichhaltigen Anhaltspunkten dafür, dass der französische Staat das Problem der verbreiteten Obdachlosigkeit ernst nimmt und ausreichende Bemühungen unternimmt, die Zustände zu verbessern (a. A.: VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.01.2024 - 12 L 2848/23.A -, juris S. 7; VG München, Beschluss vom 10.08.2023 - M 10 S 23.50817 -, juris Rn. 17). Die Schaffung von 1.000 neuen Plätzen in staatlichen Unterkünften für Asylsuchende ist erkennbar keine auch nur ansatzweise hinlängliche Maßnahme, wenn der französischen Regierung bekannt ist, dass etwa 39 % der Asylbewerber mit Anspruch auf Unterkunft, d.h. um die 40.000 Personen (Stand Ende 2023), nicht in solchen Unterkünften untergebracht sind. Es ist auch keine nennenswerte Verbesserung dieser Problematik im Vergleich zum Vorjahr feststellbar, als noch 42 % der leistungsberechtigten Asylbewerber nicht im nationalen Aufnahmesystem (DNA) untergebracht waren (AIDA/ECRE, Country Report: France. Update 2023, 24.05.2024, S. 21). Solange der französische Staat weder die Asylbewerberleistungen so weit erhöht, dass sie ausreichen, um eine Unterkunft auf dem freien Markt zu finanzieren, noch zumindest das Arbeitsverbot für die ersten sechs Monate des Asylverfahrens aufhebt, ist nicht glaubhaft, dass er ein ernsthaftes Interesse daran hat, obdachlosen Asylbewerbern Zugang zu sicheren Unterkünften zu ermöglichen.

Zudem lassen legislative Maßnahmen in jüngerer Zeit den Schluss zu, dass die französische Regierung bemüht ist, die materiellen Aufnahmebedingungen für nicht vulnerable Schutzsuchende weiter einzuschränken und zu verkürzen. Mit dem Gesetz vom 26.01.2024 wurden mehrere Rechtsverschärfungen eingeführt, etwa die Bestimmung in Artikel L. 551-15 4° CESEDA (abrufbar unter: https://www.legifrance.gouv.fr/codes/article_lc/LEGIARTI000049051289), der festlegt, dass Asylantragstellern die materiellen Aufnahmebedingungen ganz oder teilweise zu verweigern sind, wenn diese sich nicht in der für sie vorgesehenen Orientierungsregion niederlassen, das ihnen unterbreitete Unterbringungsangebot ablehnen, einen Folgeantrag stellen oder nicht fristgemäß einen Asylantrag stellen. Der Entzug der materiellen Aufnahmebedingungen war in diesen Fällen schon vor der Gesetzesänderung möglich, stand aber im Ermessen des OFII. Zwar sieht die Regelung vor, dass die Entscheidung unter Beachtung von Art. 20 der Aufnahmerichtlinie 2023/33/EU zu treffen ist. Art. 20 der Aufnahmerichtlinie erlaubt eine Einschränkung bzw. einen Entzug der materiellen Aufnahmebedingungen nur in "begründeten Aufnahmefällen" und als Ermessensentscheidung, sodass die Neuregelung in sich widersprüchlich ist (La Cimade, Décryptage de la loi asile et immigration du 26 janvier 2024, 12.02.2024, S. 57, abrufbar unter: https://www.lacimade.org/wp-content/uploads/2024/02/Decryptage-Cimade-Loi-asile-et-immigration-du-26-janvier-2024-Document-definitif.pdf). Weil Artikel L. 551-15 CESEDA jedoch die Vulnerabilität des Antragstellers in Satz 3 als einzigen vom OFII zu berücksichtigenden Gesichtspunkt benennt, ist naheliegend, dass der Entzug für nicht vulnerable Antragsteller, wie vom französischen Gesetzgeber vorgesehen, in der Praxis obligatorisch erfolgt. Dafür spricht auch, dass bereits in den vergangenen drei Jahren 40 % der Antragsteller (36.000 Personen) die materiellen Aufnahmebedingungen entzogen wurden, nachdem diese das ihnen unterbreitete Orientierungsangebot nicht wahrgenommen hatten (La Cimade, Vers un nouveau schéma national d'accueil: orientations directives et refus des conditions matérielles d'accueil, 11.12.2024, https://www.lacimade.org/vers-un-nouveau-schema-national-daccueil-orientations-directives-et-refus-des-conditions-materielles-daccueil/).

Diese systemischen Schwachstellen drohen sich auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf den Kläger auszuwirken. Zwar spricht dieser die französische Landessprache, hat mit dem Abitur und seinem Studium eine überdurchschnittlich gute Ausbildung und Berufserfahrung als Chauffeur. Seine Qualifikationen sind für den Kläger jedoch jedenfalls im Zeitraum der ersten sechs Monate nach Asylantragstellung irrelevant, weil er währenddessen ohnehin nicht arbeiten darf. Nach Ablauf der Frist spielen sie ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle, weil er eine Arbeitserlaubnis voraussichtlich nur für ein Beschäftigungsfeld bekommen kann, in dem es Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung gibt.

Die Wahrscheinlichkeit von Obdachlosigkeit und Verelendung im Falle einer Rückführung nach Frankreich ist für den Kläger zudem deswegen erhöht, weil er nicht innerhalb von 90 Tagen nach seiner Einreise am 29.01.2024 einen Asylantrag gestellt hat. Personen, die ihren Antrag zu spät einbringen (mehr als 90 Tage nach Einreise ohne legitimen Grund, franz. "sans motif légitime"), wird, wie ausgeführt unter Berücksichtigung von Art. 20 der Aufnahmerichtlinie, der Zugang zu Versorgung, also zu einer Unterbringung in einer staatlichen Aufnahmeeinrichtung und zur Gewährung der ADA, verwehrt (Artikel L. 551-15 4° CESEDA i.V.m. L. 531-27 3° CESEDA, abrufbar unter: https://www.legifrance.gouv.fr/codes/article_lc/LEGIARTI000042776013). Es ist unklar, wie weit die Verweisung der Regelung in Artikel L. 551-15 4° CESEDA auf Artikel L. 531-27 3° CESEDA reicht, ob der Entzug der materiellen Aufnahmebedingungen gem. Artikel L. 551-15 4° CESEDA also wie die Entscheidung im beschleunigten Verfahren nach Artikel L. 531-27 3° CESEDA auch eine illegale Einreise nach Frankreich bzw. einen illegalen Aufenthalt in Frankreich oder nur den Ablauf einer Frist von 90 Tagen nach Einreise ohne das Stellen eines Asylantrags voraussetzt. Im Fall des Klägers kann dies aber offenbleiben, weil er sich auch nach Ablauf der Gültigkeit seines Visums am 14.03.2024 noch bis zum 03.04.2024 illegal in Paris aufgehalten hat. Nach Artikel L. 551-15 Satz 3 CESEDA hat das OFII bei seiner Entscheidung zwar die Vulnerabilität des Antragstellers zu berücksichtigen. Eine Vulnerabilität liegt bei dem Kläger aber gerade nicht vor und nach aktuellen Erkenntnismitteln verwehrt OFII in der Praxis die Versorgung, wenn dies rechtlich möglich ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Frankreich, 28.03.2024, S. 14).

Dementsprechend sind die Feststellung, dass Abschiebungsverbote in Bezug auf Frankreich nicht vorliegen, die Abschiebungsanordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ebenso rechtwidrig und waren aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.