Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 28.08.2025, Az.: L 10 SB 89/23
Anspruch eines unter Diabetis mellitus Leidenden auf Neufeststellung seines Grades der Behinderung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 28.08.2025
- Aktenzeichen
- L 10 SB 89/23
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2025, 22527
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2025:0828.10SB89.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 20.06.2023 - AZ: S 61 SB 446/20
Rechtsgrundlage
- § 152 Abs. 1 SGB IX
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Soweit Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 der "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (VMG) für die Feststellung des GdB drei Beurteilungskriterien enthält, nämlich täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte, sind allein die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte nicht geeignet, eine zusätzliche gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Berücksichtigungsfähig ist vielmehr nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender, besonderer Therapieaufwand. Daneben kann ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Schließlich sind auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten.
- 2.
Soweit der Therapieerfolg in der Stoffwechsellage zum Ausdruckkommt, ist insbesondere die Frage bedeutsam, ob es schon zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen mit erforderlicher Fremdhilfe gekommen ist.
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. Juni 2023 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Neufeststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX).
Mit Bescheid vom 3. April 2009 stellte der Beklagte bei dem H. geborenen Kläger einen GdB von 40 wegen der Funktionsbeeinträchtigung "Diabetes mellitus Typ I" fest. Am 25. Februar 2020 beantragte der Kläger die Feststellung eines höheren GdB rückwirkend ab dem 1. Januar 2020 mit der Begründung, zusätzlich zum Diabetes mellitus an einer Funktionsbeeinträchtigung des linken Knies, an Vitiligo sowie an einer Hashimoto-Thyreoiditis zu leiden. Dem Antrag beigefügt war ein im Auftrag der Unfallversicherung erstelltes orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. I. vom 30. August 2019. Der Beklagte zog einen Befundbericht des behandelnden Hausarztes des Klägers bei und lehnte den Antrag sodann mit Bescheid vom 6. April 2020 mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten sei. Die Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks bedinge lediglich einen Einzel-GdB von 10, der sich nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB auswirke. Die Schilddrüsenbeschwerden sowie die Gesundheitsstörung Vitiligo würden jeweils keinen Einzel-GdB erreichen. In seinem gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch wies der Kläger u.a. auf eine zwischenzeitlich bei ihm festgestellte Zöliakie hin. Nach Beiziehung weiterer Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2020 als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger am 17. Juli 2020 Klage beim Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben, mit der er die Feststellung eines GdB von 50 rückwirkend seit dem 1. Januar 2020 begehrt hat. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen sowie Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin Dr. J. vom 3. Januar 2022. Dieser gelangte in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis, bei dem Kläger liege ein Diabetes mellitus mit Insulintherapie bei instabiler Stoffwechselsituation vor, der einen Einzel-GdB von 50 rechtfertige. Daneben bestehe eine Zöliakie, die einen Einzel-GdB von 20 bedinge sowie ein entzündliches Darmleiden und eine Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks mit jeweils einem Einzel-GdB von 10. Den Gesamt-GdB empfahl er mit 50 seit dem 1. Januar 2020 festzustellen.
Mit Urteil vom 20. Juni 2023 hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 6. April 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2020 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger ab dem 1. Januar 2020 einen GdB i.H.v. 50 festzustellen. Zur Begründung hat sich das SG im Wesentlichen auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. J. gestützt.
Gegen das ihm am 27. Juli 2023 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner am 21. August 2023 eingelegten Berufung, mit der er die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils sowie die Abweisung der Klage begehrt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, Unterzuckerungszustände mit Fremdhilfebedarf seien bei dem Kläger bisher nicht eingetreten. Vor diesem Hintergrund könne nicht von krankheitsbedingten gravierenden Beeinträchtigungen in der Lebensführung ausgegangen werden. Die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertende Zöliakie wirke sich in Übereinstimmung mit der Einschätzung des erstinstanzlichen Sachverständigen nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht der den Kläger behandelnden Fachärztin für Innere Medizin Dr. K. beigezogen sowie Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin Dr. L. vom 12. März 2025. Dieser ist in seinem Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt, der Diabetes mellitus Typ I rechtfertige einen Einzel-GdB von 40. Daneben liege eine potentielle Zöliakie vor, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei, sowie eine Funktionsbehinderung des linken Kniegelenkes und eine Funktionseinschränkung des linken oberen Sprunggelenkes, die jeweils einen Einzel-GdB von 10 bedingten. Die weiterhin vorliegenden Gesundheitsstörungen Schilddrüsenerkrankung und Vitiligo würden jeweils keinen Einzel-GdB rechtfertigen. Der Gesamt-GdB sei mit 40 seit dem 1. Januar 2020 zu bewerten.
Der Kläger hält die Einschätzung des Sachverständigen Dr. L. für falsch. Seine von dem Sachverständigen festgestellte sehr gute Leistungsfähigkeit und sein athletischer Habitus stünden der von ihm begehrten Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nicht entgegen. Entscheidend sei vielmehr das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung. Diese sei bei ihm überaus erheblich. Insbesondere die Zubereitung von Mahlzeiten gestalte sich aufgrund der ungünstigen Kombination von Diabetes mellitus und Zöliakie sehr schwierig und aufwendig. Die Planung des Tagesablaufs und die Gestaltung der Freizeit müssten ständig an die Insulindosierung angepasst werden. Er sei dadurch in sämtlichen Bereichen seiner Lebensführung erheblich beeinträchtigt. Bei ihm lägen nachgewiesenermaßen erhebliche Schwankungen des Blutzuckers und damit eine unbefriedigende Stoffwechsellage vor, weshalb ihm zwischenzeitlich vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen eine Insulinpumpe bewilligt worden sei. Die Vitiligo beschränke sich nicht allein auf den Genitalbereich. Inzwischen hätten sich die Flecken auch auf die rechte Achselhöhle ausgebreitet. Mit einer weiteren Ausbreitung der Flecken sei zu rechnen. Im Vergleich zu 2009 hätte sich seine gesundheitliche Situation wesentlich verschlechtert. Es seien neue Erkrankungen hinzugetreten und die Stoffwechsellage in Bezug auf den Diabetes habe sich verschlechtert.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. Juni 2023 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. Juni 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig und begründet.
Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der Bescheid des Beklagten vom 6. April 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger demzufolge nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht gemäß § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. § 152 Abs. 1 SGB IX kein Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40 seit dem 1. Januar 2020 zu.
Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen i.S. des § 48 Abs. 1 SGB X ist nur gegeben, wenn der Verwaltungsakt von der Behörde nach den nunmehr liegenden Verhältnissen so nicht mehr erlassen werden dürfte (vgl. Brandenburg, in: jurisPK - SGB X, § 48, RdNr. 66 m.w.N. zur Rechtsprechung des BSG). Auch wenn seit Erlass des Erstfeststellungsbescheides am 3. April 2009 weitere Gesundheitsstörungen bei dem Kläger hinzugetreten sind und sich nach seinen Angaben auch die Einstellungsqualität des Diabetes mellitus verschlechtert habe, ist diese Änderung nicht wesentlich im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X, da auch unter Berücksichtigung dieser Veränderungen für den hier streitigen Zeitraum seit dem 1. Januar 2020 nicht die Feststellung eines höheren als des bereits zuerkannten GdB von 40 gerechtfertigt ist.
Die Bewertung des GdB richtet sich nach der auf Grundlage des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (im Folgenden: VMG).
Die Behinderung des Klägers im Funktionssystem "Stoffwechsel, innere Sekretion" im Sinne von Teil A Nr. 2 e) der VMG in Form der Diabetes-Erkrankung bedingt keinen höheren Einzel-GdB als 40 gemäß Teil B Nr. 15.1 Abs. 3 der VMG. Für die hier streitige Feststellung eines GdB von 50 enthält Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 der VMG drei Beurteilungskriterien: täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 SB 2/13 R, juris, RdNr. 16). Der Kläger führt zwar, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist, täglich mindestens vier Insulininjektionen, nach eigenen Angaben sogar fünf bis acht Injektionen, täglich durch und muss die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variieren.
Jedoch ist der Kläger nicht durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt. Nach der Rechtsprechung des BSG lässt sich bei der anzustellenden Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung nur unter strengen Voraussetzungen bejahen. Aus dem Zusammenspiel der drei oben genannten Beurteilungskriterien lässt sich ableiten, dass die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte nicht geeignet sind, eine zusätzliche gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Berücksichtigungsfähig ist daher nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender, besonderer Therapieaufwand. Daneben kann ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Schließlich sind auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten (vgl. zum Vorstehenden: BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, a.a.O, juris, RdNr. 21).
Ein das bereits hohe Maß übersteigender besonderer Therapieaufwand ist weder aus den eigenen Schilderungen des Klägers noch aus den aktenkundigen medizinischen Unterlagen erkennbar. Im Gegenteil hat der Sachverständige Dr. L. zu Recht festgestellt, dass die kontinuierliche Blutzuckermessung mittels eines am Oberarm getragenen Sensors und die elektronische Dokumentation der Ergebnisse eine deutliche Erleichterung gegenüber einer mehrmals täglichen Blutentnahme aus dem Finger und der anschließenden selbständigen Dokumentation der Ergebnisse darstellt.
Eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung liegt bei dem Kläger auch nicht aufgrund eines unzureichenden Therapieerfolgs vor. Der Therapieerfolg kommt in der Stoffwechsellage zum Ausdruck. Insoweit ist insbesondere die Frage bedeutsam, ob es schon zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen mit erforderlicher Fremdhilfe gekommen ist (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2012, B 9 SB 2/12 R, juris, RdNr. 37; Urteil vom 17. April 2013, B 9 SB 3/12 R, juris, RdNr. 43 sowie Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 SB 2/13 R, RdNr. 22). Ausweislich der Angaben der den Kläger behandelnden Fachärztin für Innere Medizin Dr. K. in ihrem Befundbericht vom 11. Januar 2024 wie auch den eigenen Angaben des Klägers gegenüber dem Sachverständigen Dr. L., ist es bisher zu keinen schweren Hypoglykämien mit notwendiger Fremdhilfe gekommen. Nach Mitteilung von Dr. K. träten leichte Hypoglykämien auf, wobei der Kläger diese gut und selbständig zeitnah regulieren könne. Nächtliche Insulininjektionen sind nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht regelmäßig erforderlich. Dr. K. bescheinigte dem Kläger mit den von ihr gemessenen HbAc1-Werten um die 8 % (+/- 0,3 bis 0,4) - vgl. Befundbericht von Dr. A. vom 2. März 2021 - ebenso wie der Sachverständige Dr. L. eine ausreichende Stoffwechsellage. Der von dem Sachverständigen Dr. L. laboranalytisch bestimmte HbAc1-Wert lag bei 7,6 %. In Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen kann somit ein unzulänglicher Therapieerfolg nicht festgestellt werden. Hinweise auf die Entwicklung diabetischer Folgeschäden bestehen bei dem Kläger nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. und den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht.
Bei dem Kläger liegen auch keine anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung vor. So kann dieser seiner Vollzeitbeschäftigung als Bereichsleiter im Jobcenter der Region M. nachgehen einschließlich der Wahrnehmung repräsentativer Außentermine mit entsprechender Reisetätigkeit. Zu Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund des Diabetes ist es nach Mitteilung der behandelnden Ärztin Dr. K. in ihrem Bericht vom 11. Januar 2024 bisher nicht gekommen. Der Kläger ist verheiratet, hat zwei Kinder und hält sich einen Hund. Darüber hinaus trainiert er nach eigenen Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. L. an zwei Abenden in der Woche eine Handballmannschaft bzw. hat - in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum seit Januar 2020 - auch selbst aktiv Handball gespielt. Nach den Feststellungen sowohl des Sachverständigen Dr. J., als auch des Sachverständigen Dr. L. verfügt der Kläger über eine sehr gute körperliche Leistungsfähigkeit. Er erreichte in der Fahrradergometrie bei dem Sachverständigen Dr. J. 210 Watt, bei dem Sachverständigen Dr. L. 225 Watt ohne pathologische Auffälligkeiten. Nach eigenen Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. J. treibt der Kläger regelmäßig Sport in Form von Joggen, Radfahren und Klettern. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger dem Senat von seinen Mountainbiketouren ab seinem Heimatort im Harz sowie in seinen Urlauben in Österreich (2022) und der Schweiz (2024) berichtet. Im Juni 2024 ist der Kläger außerdem bei sog. "Nds. Behördenmarathon" mitgelaufen. Die von dem Sachverständigen Dr. L. festgestellten Schwielen an den Händen des Klägers rühren nach dessen Angaben von der Gartenarbeit und dem Training mit Kurzhanteln her. Der Umstand, dass der Kläger stets die Menge und Zusammensetzung seiner Mahlzeiten überwachen, einen Sensor zur kontinuierlichen Glukosemessung am Körper tragen sowie mehrfach am Tag in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung Insulin injizieren muss, stellt zwar unzweifelhaft eine Beeinträchtigung in der Lebensführung und der Teilhabe dar. Diese Einschränkungen sind indes zwangsläufig mit der in Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 der VMG vorausgesetzten intensivierten Insulintherapie verbunden und nicht geeignet, zusätzliche und gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung hervorzurufen. Gleiches gilt für die vom Kläger dargelegte fehlende Spontanität in der Freizeit bzw. den erhöhten Planungsaufwand bei Freizeitaktivitäten (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. März 2025, L 3 SB 382/24, juris, RdNrn. 49 und 53).
Vor diesem Hintergrund kann in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen Dr. L. für die Erkrankung an Diabetes bei dem Kläger kein höherer Einzel-GdB als 40 festgestellt werden.
Darüber hinaus leidet der Kläger nach den schlüssigen und übereinstimmenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. J. und Dr. L. im Funktionssystem "Verdauung" im Sinne von Teil A Nr. 2 e) der VMG an einer Zöliakie, die gemäß Teil B Ziff. 10.2.2 der VMG einen Einzel-GdB von 20 bedingt. Wesentliche Folgeerscheinungen der Zöliakie bestehen nach den übereinstimmenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. J. und Dr. L. unter diätetischer Therapie bei dem Kläger nicht.
Des Weiteren besteht bei dem Kläger nach den schlüssigen Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. eine Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks, die gemäß Teil B Nr. 18.14 der VMG einen Einzel-GdB von 10 rechtfertigt. Nach den Röntgenbefunden dieses Sachverständigen bestehen bei dem Kläger beginnende degenerative Veränderungen des linken Kniegelenks. Das linke Knie war in der Beugung endgradig eingeschränkt, die Streckung war vollständig möglich. Dabei war das Knie nicht überwärmt, bei regelrechten Gelenkkonturen sowie ohne Anhalt für einen Kniegelenkserguss. Das Gangbild zeigte sich unauffällig. Die Muskulatur war an den Beinen, vor allem an den Oberschenkeln, sehr kräftig ausgeprägt. Der Kläger berichtete dem Sachverständigen, er sei am letzten Sonntag 5,4 km in 36 Minuten mit seinem Hund gejoggt. Auch die fahrradergometrische Belastbarkeit des Klägers war sehr gut. Vor diesem Hintergrund ist in Übereinstimmung mit den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. kein höherer Einzel-GdB als 10 für die Funktionsbeeinträchtigung am linken Kniegelenk des Klägers gerechtfertigt.
Auch die Funktionsbeeinträchtigung am linken Sprunggelenk rechtfertigt vor diesem Hintergrund gemäß Teil B Ziff. 18.14 der VMG nach den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. keinen höheren Einzel-GdB als 10. Im September 2022 hatte der Kläger nach eigenen Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. L. beim Radfahren in Österreich eine Sprunggelenksfraktur erlitten, die noch vor Ort operiert worden sei. Der Verlauf dieser Operation sei komplikationslos gewesen, er habe jedoch eine Bewegungseinschränkung und Schwellung im linken Sprunggelenk zurückbehalten. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung zeigte sich die Gelenkkontur des linken Sprunggelenks etwas verstrichen. Die Sprunggelenksbeugung war links endgradig eingeschränkt. Der Knöchelumfang des Sprunggelenks war links gegenüber rechts um einen Zentimeter vermehrt. Die bei dem Sachverständigen Dr. L. durchgeführte röntgenologische Untersuchung des linken Sprunggelenks zeigte beginnende sekundäre degenerative Veränderungen bei verheilter distaler Tibiafraktur. Das Gangbild war wie oben beschrieben unauffällig und hinkfrei. Die Muskulatur an den Beinen war sehr kräftig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund lässt sich gemäß Teil B Nr. 18.14 der VMG für die Funktionsbeeinträchtigung des linken Sprunggelenks nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. kein höherer Einzel-GdB als 10 feststellen.
Des Weiteren leidet der Kläger nach den schlüssigen Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. an einer Hashimoto-Thyreoiditis, die gemäß Teil B Nr. 15.6 der VMG keinen Einzel-GdB rechtfertigt. Die Schilddrüsenerkrankung ist bisher nicht medikamentös behandlungsbedürftig und die Schilddrüsenstoffwechsellage nach den laboranalytischen Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. normal.
Ferner wurde bei dem Kläger eine Pigmentstörung in Form von Vitiligo diagnostiziert, die sich jedoch bisher auf den Genitalbereich sowie - nach den Angaben des Klägers - auf die rechte Achselhöhle beschränkt. Damit rechtfertigt diese Erkrankung gemäß Teil B Nr. 17.12 der VMG in Übereinstimmung mit der überzeugenden Einschätzung des Sachverständigen Dr. L. keinen Einzel-GdB.
Ein entzündliches Darmleiden liegt bei dem Kläger nach dem medizinischen Akteninhalt nicht vor. Soweit der versorgungsmedizinische Dienst des Beklagten seit seiner Stellungnahme vom 9. April 2021 insoweit einen Einzel-GdB von 10 annimmt, beruht dies auf einem Befundbericht des Gastroenterologen Dr. N. vom 1. März 2021, der sich jedoch versehentlich auf einen anderen Patienten bezog. Ausweislich des berichtigten Berichts von Dr. N. vom 28. Juli 2021 sowie den Befundberichten der den Kläger behandelnden Fachärztin für Innere Medizin Dr. K. und den Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. liegt bei dem Kläger kein entzündliches Darmleiden vor. Ein solches Leiden wurde auch von dem Sachverständigen Dr. J. ausweislich seines Gutachtens vom 3. Januar 2022 nicht festgestellt, sondern lediglich an späterer Stelle seines Gutachtens ohne jegliche Begründung insoweit ein Einzel-GdB von 10 behauptet. Auf ein entzündliches Darmleiden hindeutende Befunde wurden von dem Sachverständigen Dr. J. indes nicht erhoben, wie auch von keinem anderen den Kläger behandelnden Arzt. Ferner liefert die gesamte aktenkundige Beschwerdeschilderung des Klägers keine Hinweise auf das Vorliegen eines entzündlichen Darmleidens.
Insgesamt sind die bei dem Kläger vorhandenen Funktionseinschränkungen im streitgegenständlichen Zeitraum mit einem GdB von 40 zu bewerten.
In Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen Dr. L. und auch der des Sachverständigen Dr. J. rechtfertigt die bei dem Kläger vorliegende und mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertende Zöliakie gemäß Teil A Nr. 3(d)(ee) der VMG keine Erhöhung des Gesamt-GdB. Dafür spricht zum einen, dass der Kläger nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. lediglich an einer leichten Form der Zöliakie leidet, da er nach eigenen Angaben geringe Mengen an Gluten (bis zu zwei Gläser Pils) ohne das Auftreten von Verdauungsstörungen zu sich nehmen kann. Zudem war bei der gutachterlichen Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. L. der Zöliakie typische Autoantikörper Gewebstransglutaminase IgA nicht mehr nachweisbar. Die Zöliakie des Klägers befindet sich daher nach den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. unter - nicht einmal absolut strenger - Diät in Remission ohne wesentliche Folgeerscheinungen.
Ferner steigert die Notwendigkeit der Einhaltung glutenfreier Kost den durch die intensivierte Insulintherapie bedingten Aufwand für den Kläger nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. nicht in einem Ausmaß erheblich weiter, der die Anhebung des Gesamt-GdB auf 50 rechtfertigen würde. Wie der Sachverständige Dr. L. schlüssig darlegt, ist eine bestimmte Diät für intensiviert eingestellte Menschen mit Typ I Diabetes nicht vorgeschrieben. Bei einer Ernährung mit hohem oder unkontrolliertem Kohlenhydratanteil seien jedoch Nachteile zu erwarten (Risiko der Gewichtszunahme, erhöhte Zeit unterhalb des Zielbereiches, erhöhte Insulindosen). Viele glutenfreie kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel (vor allem glutenfreie Fertigprodukte) seien ärmer an Ballaststoffen und würden rascher resorbiert als ihre glutenhaltigen Vergleichsprodukte. Hierdurch könne der Blutzucker schneller ansteigen. Dies müsse ein Mensch mit Typ I Diabetes und dem zusätzlichen Erfordernis einer glutenfreien Diät vor allem bei der Berechnung seiner Bolusinsulin-Injektionen und der Planung des Umfangs der Kohlenhydratzufuhr berücksichtigen. Eine solche Berechnung müsse er allerdings ohnehin anstellen, wenn er die Glukosewirksamkeit seiner Nahrung einschätze. Es liege somit nur ein gradueller und kein gravierend vermehrter Aufwand vor. Die Abschätzung der Kohlenhydratlast und ihrer Kinetik bei der Nahrungsaufnahme gelinge dem Kläger ganz überwiegend erfolgreich, wie die HbA1c-Werte sowie das Fehlen schwerer Hypoglykämien und von Ketoazidosen zeige.
Zu seinen Ernährungsgewohnheiten befragt, gab der Kläger gegenüber dem Sachverständigen Dr. L. an, er meide diätetisch rasch resorbierbare Kohlenhydrate und glutenhaltige Nahrungsmittel. Er backe sich selbst glutenfreies Brot mit entsprechenden Backmischungen und nehme für die Mittagszeit in der Arbeit dieses selbstgebackene Brot mit Käse und Salat belegt mit. Zusätzlich esse er Obst und Gemüse. Nach Dienstschluss nehme er montags mit den Kindern ein warmes Essen bei den Eltern ein. Einmal in der Woche esse er eine glutenfreie Pizza, öfter mache er sich Bratkartoffeln oder ein glutenfreies Brot mit Spiegelei. Manchmal bereite er sich eine Pfanne mit Gehacktem und Reis zu. Wie der Kläger in seinem Schriftsatz vom 12. April 2025 ergänzend mitteilte, sei es für ihn, wenn er gezwungen sei, auswärts zu essen (beispielsweise auf Seminaren), schwierig, bei einem unbekannten Speisenangebot die richtige Blutzuckereinstellung zu treffen. Im Übrigen beeinträchtige es ihn, seine Erkrankungen gegenüber Dritten offenlegen zu müssen oder sich für seine medizinisch notwendigen Ernährungsgewohnheiten rechtfertigen zu müssen.
Der Senat erachtet die dargelegten Einschränkungen, die sich aus der diätetischen Vermeidung rasch resorbierbarer Kohlenhydrate und glutenhaltiger Nahrungsmittel ergeben, ebenso wie der Sachverständige Dr. L. als nicht so schwerwiegend, dass sie die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft rechtfertigen würden.
Auch der gemäß Teil A Nr. 3 b) der VMG bei der Gesamtwürdigung anzustellende Vergleich mit Gesundheitsschäden, für die in den VMG ein Wert von 50 fest vorgegeben ist, lässt die Feststellung eines höheren Gesamt-GdB als 40 bei dem Kläger nicht zu. Die funktionellen Beeinträchtigungen des Klägers sind nicht mit Schäden, wie etwa dem vollständigen Verlust der Nase (Teil B Nr. 6.1 der VMG), der ganzen Hand (Teil B Nr. 18.13 der VMG), eines Armes im Unterarm (Teil B Nr. 18.13 der VMG) oder eines Beines im Unterschenkel (Teil B Nr. 18.14 der VMG), für die jeweils ein GdB von 50 vorgesehen ist, vergleichbar.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.