Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.04.2025, Az.: 12 MS 14/25

Verfahren einer Umweltvereinigung gegen die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Windenergieanlage

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.04.2025
Aktenzeichen
12 MS 14/25
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2025, 13651
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2025:0410.12MS14.25.00

Amtlicher Leitsatz

§ 6 Abs. 1 WindBG ist auf einen Zweitgenehmigungsantrag für ein bereits bestandskräftig genehmigtes Vorhaben unanwendbar

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 23. Januar 2025 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Dezember 2024 wird angeordnet.

Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten des Verfahrens und die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers je zur Hälfte; im Übrigen werden Kosten nicht erstattet.

Der Streitwert wird für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller, eine i. S. d. § 3 UmwRG anerkannte Umweltvereinigung, wendet sich gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Dezember 2024, mit dem er, der Antragsgegner, der Beigeladenen (erneut) die Errichtung und den Betrieb von drei Windenergieanlagen (WEA) des Typs Vestas V 126 mit einer Gesamthöhe von 200 m genehmigte.

Die WEA sollen (als sog. Windpark H. -Stadt) in einem - 2019 vom Antragsgegner als Träger der Regionalplanung beschlossenen - Vorranggebiet Windenergie sowie einem darauf beruhenden Sondergebiet Windenergie der Standortgemeinde I. -Stadt verwirklicht werden. Westlich grenzt das Gebiet des Landkreises J. -Stadt an, in dem als Teil des sog. Windparks K. bereits WEA betrieben werden. Im Umfeld der von der Beigeladenen geplanten WEA befinden sich auf dem Gebiet des Antragsgegners zwei Hühnerfarmen mit Freilandhaltung. Wegen ihrer Lage im Einzelnen wird auf die folgende Karte verwiesen; die vorgesehenen Standorte der WEA sind darin blau schraffiert:

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Der Antragsgegner erteilte bereits am 2. August 2021 für ein im Wesentlichen identisches Vorhaben eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung. Da der genehmigte Anlagentyp nicht mehr verfügbar war, wurde für geringfügig geänderte WEA-Typen am 20. Juli 2022 eine Änderungsgenehmigung erteilt. Sie sieht wegen der angenommenen Anziehungswirkung der Freiflächen der Hühnerfarmen auf Greifvögel, insbesondere den Rotmilan, aber auch den Seeadler, ganzjährig eine Abschaltung der WEA von Sonnenauf- bis -untergang vor, von der nur bestimmte Schlechtwetterbedingen ausgenommen sind. Die Ausgangsgenehmigung i. d. F. der Änderungsgenehmigung ist Gegenstand des unter dem Aktenzeichen 12 KS 103/22 vor dem Senat geführten Klageverfahrens; es ist wegen des zwischen den Beteiligten umstrittenen Verhältnis der vorgenannten "Altgenehmigung" zu der hier streitigen "Neugenehmigung" vom 18. Dezember 2024 noch nicht abgeschlossen worden. Zudem wendet sich auch die Beigeladene gegen Nebenbestimmungen dieser "Altgenehmigung."

Die Beigeladene nimmt an, dass ihr Vorhaben in den Anwendungsbereich des WindBG falle und nach dessen § 6 nur - im Verhältnis zu § 44 BNatSchG - sehr eingeschränkte artenschutzrechtlichen Beschränkungen gelten würden. Mit dem Ziel, für das gleiche Vorhaben nunmehr in Anwendung des § 6 WindBG eine weitere Genehmigung mit weit weniger artenschutzrechtlich begründeten Betriebseinschränkungen zu erhalten, beantragte sie deshalb im Januar 2024 erneut eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung, die ihr der Antragsgegner - ohne vorherige abschließende Klärung des Verhältnisses zu der Altgenehmigung - am 18. Dezember 2024 erteilte. Darin (Nebenbestimmungen unter III. 5, S. 11 ff. des Bescheides) sind nunmehr nur noch Abschaltzeiten zum Schutz von Fledermäusen, nicht aber mehr zum Schutz von Greifvögeln vorgesehen.

Der Antragsgegner teilt zwar nicht die Ansicht der Beigeladenen, dass sich die Anziehungswirkung der Hühnerfarmen aufgrund einer zwischenzeitlichen Bepflanzung der Freiflächen wesentlich gemindert habe. Vielmehr komme es wegen der unverändert bestehenden Anziehungswirkung der Hühnerfarmen weiterhin zu Ansammlungen von Greifvögeln; für sie bestehe deshalb ein unverändert auch an § 44 BNatSchG zu messendes signifikant erhöhtes Tötungsrisiko (S. 37 des Bescheides). Dieser Gefahr könne sachgerecht nur durch ein automatisches Abschaltsystem begegnet werden. Ein solches sei jedoch für die hier betroffenen "diversen" Greifvogelarten noch nicht hinreichend erprobt und würde im Übrigen zu unverhältnismäßig hohen Kosten i. S. d. § 6 WindBG führen. Deshalb wurden "keine Schutzmaßnahmen für Vögel zur Abregelung der WEA beauflagt", sondern "nur" eine Zahlung in das nationale Artenhilfsprogramm angeordnet (S. 38 des Bescheides).

Der Antragsteller legte gegen den ihm am 3. Januar 2025 zugestellten Genehmigungsbescheid vom 18. Dezember 2024 mit Schreiben vom 23. Januar 2025 Widerspruch ein.

Am 30. Januar 2025 hat er den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Die Genehmigung widerspreche dem Artenschutzrecht, weil § 6 WindBG schon nicht anwendbar sei und selbst dessen Voraussetzungen nicht erfüllt worden seien.

§ 6 WindBG sei aus zwei Gründen unanwendbar: Erstens stehe dem bereits die Erteilung der Altgenehmigung als "endgültige Entscheidung" entgegen. Zweitens dürften die "Umwelt- und erst recht die Artenschutzprüfung auf der Genehmigungsebene nur dann entfallen ..., wenn eine entsprechend vollständige und gründliche Prüfung auf der Planungsebene bereits stattgefunden" habe - das sei hier weder auf der Ebene der Regional- noch der Bauleitplanung der Fall gewesen, wie näher ausgeführt wird.

§ 6 WindBG lasse im Übrigen die Notwendigkeit der Öffentlichkeitsbeteiligung nicht entfallen; eine solche sei bereits aus der Entscheidung des Bundesgesetzgebers nach Nr. 1.6.3 des Anhangs I zum UVPG abzuleiten, und zwar unabhängig davon, ob es danach einer UVP für das Vorhaben bedürfe.

Anders als für die Fledermausarten setze der Antragsgegner im Genehmigungsbescheid für die Greifvogelarten keine geeigneten und verhältnismäßigen Minderungsmaßnahmen in Gestalt von temporären Abschaltzeiten fest, sondern "springe" gleich auf die Geldzahlungen. Da der tatsächliche Schutz vor Ort vom Gesetzgeber als vorrangig angesehen werde, sei ein solches sofortiges Ausweichen auf Zahlungen offensichtlich rechtswidrig. Stattdessen hätten zunächst für die Greifvögel - wie bei den Fledermäusen geschehen - Abschaltzeiten festgesetzt werden müssen, weil das signifikant gesteigerte Tötungsrisiko hierdurch zwar nicht bewältigt, aber doch zumindest für die konkret vor Ort betroffenen Greifvogelindividuen reduziert werden könne. "Tools", die für die Festlegung der Abschaltzeiten und Kontingente unter Abstimmung auf die örtlichen Gegebenheiten diejenigen Zeiten ermittelten, zu denen eine Abschaltung mit einer besonders hohen Wirkung verbunden sei, stünden zur Verfügung. Soweit auch danach noch ein signifikant gesteigertes Tötungsrisiko verbleibe, wäre unionsrechtlich zusätzlich die Erteilung einer hier fehlenden Ausnahmegenehmigung erforderlich gewesen.

Schließlich setze die Rechtmäßigkeit der Geldzahlungen voraus, dass ihre bestimmungsgemäße Verwendung sichergestellt sei, woran es gesetzlich mangele.

Der Antragsgegner tritt dem Vorbringen entgegen. § 6 WindBG sei auch auf jeden "eigenständigen" Genehmigungsantrag anzuwenden, der - wie hier - im Januar 2024 gestellt worden sei. Die Norm fordere unionsrechtskonform im Übrigen nur, dass auf der Planungsebene überhaupt eine SUP durchgeführt worden sei, ohne weitergehende Anforderungen an die ("artenschutzrechtliche") Ermittlungsdichte dieser Prüfung zu stellen. Eine solche SUP sei hier sowohl im Rahmen der Regionalplanung als auch bei der Aufstellung des Flächennutzungsplans erfolgt. Ohne Verstoß gegen höherrangiges Recht entfalle nach § 6 WindBG in solchen Gebieten die Pflicht sowohl zu einer (weiteren) Prüfung nach dem UVPG auf der Genehmigungsebene als auch zu einer Öffentlichkeitsbeteiligung. Zum Schutz der "angelockten" Greifvögel hätten keine verhältnismäßigen Minderungsmaßnahmen zur Verfügung gestanden. Das allein zielführende Antikollisionssystem sei zu teuer. Vorgegebene notwendige Abschaltzeiten seien der Beigeladenen ebenfalls nicht zumutbar. Deshalb sei zu Recht eine Ersatzzahlung angeordnet worden, deren konkrete Verwendung nicht sichergestellt sein müsse. Eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung sei dann nicht mehr erforderlich.

Die Beigeladene beantragt, den Antrag abzulehnen (vgl. Bl. 86 der elektronischen Gerichtsakte). Auf die gerichtliche Verfügung vom 25. Februar 2025 hat sie mit Schriftsatz vom 20. März 2025 im Verfahren 12 KS 103/22 Vorschläge für ein begrenztes "Abschaltkonzept" vorgelegt.

Der Antragsgegner zieht nach seinem Schriftsatz vom 9. April 2025 die Festsetzung entsprechender Minderungsmaßnahmen in Erwägung.

II.

Der Antrag nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5, 80c VwGO, § 63 Abs. 2 BImSchG, über den der Senat nach § 48 Abs. 1 Nr. 3a VwGO erstinstanzlich entscheidet, ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist innerhalb eines Monats nach der am 3. Januar 2025 erfolgten Zustellung des Bescheides vom 18. Dezember 2024 gestellt und begründet worden. Es muss deshalb nicht geklärt werden, ob die Monatsfrist des § 63 Abs. 2 Satz 1 BImSchG tatsächlich bereits am 3. Januar 2025 zu Laufen begann; Bedenken hiergegen ergeben sich daraus, dass der Bescheid zwar eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, diese aber lückenhaft ist. Denn sie lautet wie folgt:

"Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ... nach § 80 Absatz 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung kann innerhalb eines Monats nach der Zustellung dieses Bescheides beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg gestellt und begründet werden."

Damit fehlt der gesetzlich in § 63 Abs. 2 Satz 1 BImSchG vorgesehene entscheidende Zusatz, dass ein solcher gerade Antrag "nur" in der bezeichneten Monatsfrist gestellt und begründet werden kann.

Der Antragsteller ist zumindest nach § 2 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG antragsbefugt. Mit dem angegriffenen Bescheid erfolgt nämlich jedenfalls eine Zulassungsentscheidung i. S. d. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG. Die weiterhin erforderlichen allgemeinen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 UmwRG sind ebenso gegeben wie die zusätzliche des § 2 Abs. 1 Satz 2 UmwRG. Danach muss die Vereinigung die Verletzung umweltbezogener Rechtsvorschriften (§ 1 Abs. 4 UmwRG) geltend machen. Das ist hier der Fall, weil der Antragsteller eine unzureichende Berücksichtigung des Artenschutzrechts als "umweltbezogene Rechtsvorschriften" i. S. d. § 1 Abs. 4 Nr. 1 UmwRG rügt.

Der Antrag ist auch begründet.

Nach § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht, wenn ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt einlegt, auf Antrag des Dritten die gesetzlich - hier durch § 63 Abs. 1 Satz 1 BImSchG - ausgeschlossene aufschiebende Wirkung anordnen. Dazu (vgl. zum Folgenden bereits Senatsbeschl. v. 24.7.2024 - 12 MS 65/24 -, sowie ergänzend Sächs. OVG, Beschl. v. 28.8.2023 - 1 B 47/23 -, juris, Rn. 19 f., jeweils m. w. N.) ist eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse des Antragsgegners und dem Interesse des Anlagenbetreibers an der sofortigen Vollziehung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung auf der einen Seite und dem Interesse des Antragstellers an deren Aussetzung auf der anderen Seite anzustellen. Maßgebend für diese Abwägung sind zunächst die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs. Verstößt die angefochtene Genehmigung nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht gegen Regelungen, auf deren Verletzung sich der jeweilige Antragsteller nach § 113 Abs. 1 VwGO, §§ 2 Abs. 4, 4 oder 7 UmwRG erfolgreich berufen kann, kann ein schutzwürdiges Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs in der Regel nicht anerkannt werden, weil das öffentliche Interesse an der Ausnutzung der Genehmigung in einem solchen Fall Vorrang hat. Verstößt andererseits die Genehmigung gegen solche Vorschriften, so ist dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung - hier vorbehaltlich der Sonderregelungen in § 80c Abs. 2 VwGO - stattzugeben, weil an der Ausnutzung rechtswidriger Verwaltungsakte kein öffentliches Interesse besteht. Sofern die Rechtmäßigkeit der Genehmigung bei überschlägiger Prüfung nicht zu beurteilen ist, sind die hier betroffenen Interessen nach Maßgabe des - gegenüber § 80 Abs. 5 VwGO spezielleren - § 80c Abs. 3 VwGO gegeneinander abzuwägen.

Hieran gemessen ist der Antrag begründet, weil der angegriffene Bescheid aller Voraussicht nach aus vom Antragsteller fristgerecht gerügten Gründen rechtswidrig ist (a), sich der Antragsteller als anerkannte Vereinigung hierauf nach § 2 Abs. 4 Satz 1 UmwRG erfolgreich berufen kann (b) und dieser Fehler auch nicht nach § 80c Abs. 2 Satz 1 VwGO unbeachtlich ist (c).

a) aa) Überwiegendes spricht dafür, dass § 6 Abs. 1 WindBG auf den vorliegenden "Zweitantrag" schon nicht anwendbar ist.

Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 WindBG ist "Absatz 1 ... auf Genehmigungsverfahren anzuwenden, bei denen der Antragsteller den Antrag bis zum Ablauf des 30. Juni 2025 stellt." Durch Satz 3 wird der zeitliche Anwendungsbereich dahingehend erweitert, dass "Absatz 1 ... auch auf bereits laufende Genehmigungsverfahren anzuwenden [ist], bei denen der Antragsteller den Antrag vor dem 29. März 2023 gestellt hat und bei denen noch keine endgültige Entscheidung ergangen ist, wenn der Antragsteller dies gegenüber der zuständigen Behörde verlangt." Nach Absatz 4 sind "die Sätze 1 bis 3 ... für das gesamte Genehmigungsverfahren anzuwenden, ungeachtet dessen, ob es bis zum Ablauf des 30. Juni 2025 abgeschlossen wird."

Anders als der Antragsgegner vorträgt, ist insoweit schon der Wortlaut des § 6 WindBG nicht eindeutig. Der Wortlaut knüpft an die Terminologie im BImSchG an; danach soll die Sonderregelung nicht "nur bei der Neugenehmigung, sondern auch bei der Änderungsgenehmigung von WEA in einem zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung ausgewiesenen Windenergiegebiet ... Anwendung" finden (vgl. Nr. 2.1 der Vollzugsempfehlungen zu § 6 WindBG). Ob der so angesprochene, in § 6 Abs. 1 Satz 1 WindBG angeführte Antrag bezogen auf "die Errichtung und ... Betrieb oder die Änderung der Lage, der Beschaffenheit oder des Betriebs einer Windenergieanlage" damit auch einen Zweitantrag umfassen soll, lässt sich dem Wortlaut allein also nicht eindeutig entnehmen. Dagegen kann aber schon angeführt werden, dass zweifelhaft ist, ob ein Antrag, ein bereits genehmigtes Vorhaben noch einmal zu genehmigen, überhaupt zu bescheiden ist; in der Regel fehlt dann das ungeschriebene notwendige (vgl. nur Rixen, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Juli 2024, VwVfG, § 22, Rn. 24) Sachbescheidungsinteresse. Hiervon ausgehend hätte der Normgeber von vornherein keinen Anlass gehabt, diese Fallgruppe in § 6 Abs. 1 WindBG näher zu regeln. Hinzu tritt die Überlegung, dass diese nationale Vorschrift unionsrechtskonform auszulegen ist, also die ihr - durch die zugrundeliegende EU-Notfallverordnung 2022/2577 - gesetzten Grenzen nicht überschreiten darf (vgl. dazu etwa Ruge, NVwZ 2023, 870 ff. 873). Es ist aber sehr zweifelhaft und kann in diesem Verfahren nicht geklärt werden, wie in den anderen Mitgliedsstaaten der Union mit entsprechenden Zweitanträgen verfahren wird; sind sie dort (überwiegend) ausgeschlossen, so spräche bereits dieser Gesichtspunkt gegen die Anwendbarkeit. Hinzu tritt ferner die weitere Überlegung, dass es einem Vorhabenträger, wie der Beigeladenen, in der vorliegenden Fallgestaltung nicht um die Genehmigung von Neuinvestitionen in die Windenergiegewinnung geht, sondern nur um eine Lockerung der artenschutzrechtlichen Restriktionen des Betriebs von Bestandsanlagen; in diesem Fall bedarf es nach deutschen Recht nicht einmal zwingend einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zur Anpassung (nur) der einschlägigen Nebenbestimmungen. Auch wenn dieses Begehren auf eine "Änderung", nämlich eine zeitliche Ausweitung, des Betriebs einer WEA führt, dürfte es als "Anlassfall" dem Normgeber nicht vor Augen gestanden haben. Andernfalls wäre im Übrigen die zeitliche Übergangsregelung in § 6 Abs. 2 WindBG überflüssig. Denn dann wäre die Norm für alle WEA, unabhängig von dem Zeitpunkt ihrer Genehmigung und ihrer etwaigen Errichtung, anzuwenden, wenn der Betreiber nur in dem Zeitraum ab ihrem Inkrafttreten bis zum 30. Juni 2025 die Änderung ihn belastender, den Betrieb einschränkender Nebenbestimmungen begehrte (und natürlich die übrigen Voraussetzungen gegeben wären) - entsprechende Begehren sind dem Senat bekannt. Dadurch würde aber der sachliche Anwendungsbereich der Norm erheblich ausgeweitet und der zahlenmäßige Schwerpunkt der Anwendungsfälle gar von den Neu- auf Bestandsanlagen verlagert. Wenn gesetzliche Änderungen auch für bereits bestandskräftig genehmigte Windenergieanlagen gelten sollen, hat der Gesetzgeber dies zudem ausdrücklich geregelt (vgl. etwa in § 31k BImSchG a. F.). Ferner ist nicht ersichtlich, dass § 6 Abs. 1 WindBG für alle, also auch bereits genehmigte und betriebene, WEA zu einer dauerhaften Absenkung des artenschutzrechtlichen Schutzniveaus führen soll. Dass der Gesetzgeber die Herabsetzung artenschutzrechtlicher Standards auch für bestehende genehmigte Anlagen gerade nicht für selbstverständlich hält, wird durch die in § 74 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 BNatSchG getroffene (gegenteilige) Regelung unterstrichen; "§ 45b Absatz 1 bis 6 sind [danach nämlich] nicht anzuwenden auf bereits genehmigte Vorhaben zur Errichtung und zum Betrieb von Windenergieanlagen an Land." Mit der Anwendung des § 6 WindBG auf die Änderung von artenschutzrechtlichen Nebenbestimmungen in bestandskräftigen Genehmigungen würde schließlich der Sinn und Zweck dieser Regelung verfehlt. Sie dient für einen gesetzgeberisch angenommenen "Notfall" der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, die eine Ausweitung der Windenergiegewinnung, und zwar zumindest in der Regel durch einen Ausbau (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein ROGÄndG, Begründung, unter A. I. sowie unter B., zu Art. 13 [Änd. d. WindBG], zu Nr. 1 [§ 6-E Abs. 1], BT-Drucks. 20/4823, S. 17 bzw. S. 32), zum Gegenstand haben. Sie dient aber nicht dazu, (artenschutzrechtliche) Nebenbestimmungen in bestandskräftigen Genehmigungen zu lockern, damit der Sache nach abgeschlossene Genehmigungsverfahren teilweise zu wiederholen und dafür Verwaltungskraft zu binden oder sogar von der Bearbeitung "echter" Neu- oder Änderungsvorhaben abzuziehen. Das veranschaulicht gerade der vorliegende Fall. Statt nämlich ein älteres oder aktuelles Genehmigungsverfahren nach den jeweiligen Regelungen möglichst schnell abzuschließen, wird nunmehr um die Rechtmäßigkeit zweier Genehmigungen für das identische Vorhaben gestritten.

bb) Im Übrigen wäre die angegriffene Genehmigung auch bei Anwendbarkeit des § 6 Abs. 1 WindBG rechtswidrig, weil der Antragsgegner, der zu Recht grundsätzlich weiterhin "Minderungsmaßnahmen" zum Schutz der angelockten Greifvögel für erforderlich erachtet, dann jedenfalls zu Unrecht davon abgesehen hätte, solche Maßnahmen zumindest bis zu der - in Anwendung von § 45b Abs. 6 BNatSchG bestimmten - Grenze der Zumutbarkeit anzuordnen.

Zwar ist unter den in § 6 Abs. 1 Satz 1 WindBG genannten Voraussetzungen "abweichend von den Vorschriften des § 44 Absatz 1 des Bundesnaturschutzgesetzes eine artenschutzrechtliche Prüfung nicht durchzuführen". Stattdessen hat die zuständige Behörde (für Vögel) nach § 6 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 WindBG "auf Grundlage vorhandener Daten geeignete und verhältnismäßige Minderungsmaßnahmen in den Windenergiegebieten anzuordnen, um die Einhaltung der Vorschriften des § 44 Absatz 1 des Bundesnaturschutzgesetzes zu gewährleisten." Nur "soweit geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen nicht verfügbar oder Daten nicht vorhanden sind", hat der Betreiber nach § 6 Abs. 1 Satz 5 WindBG "eine Zahlung in Geld zu leisten." Das "soweit" ist dabei bewusst gewählt. Überschreiten also die an sich artenschutzrechtlich nach dem o. a. Maßstab erforderlichen Minderungsmaßnahmen die Zumutbarkeitsschwelle, hat die zuständige Behörde zu entscheiden, welche Minderungsmaßen bis zur Grenze der Zumutbarkeitsschwelle angeordnet werden. Nur anstatt der weiteren Minderungsmaßnahmen ist eine Zahlung in die Artenhilfsprogramme anzuordnen (vgl. etwa Nr. 3.2.2 der Vollzugsempfehlungen zu § 6 WindBG). Auf diesen Aspekt ist bereits auf Seite 13 Mitte in der Antragsschrift hingewiesen worden.

Die fachliche Beurteilung, ob für (Greif-)Vögel, die sich - wie hier aufgrund des für sie besonders attraktiven Nahrungsangebot um die beiden Hühnerfarmen mit Freilandflächen - "ansammeln", das Tötungsrisiko durch im Umfeld der Ansammlungsorte betriebene Anlagen (hier WEA) signifikant erhöht ist, richtet sich dabei weiterhin nach der allgemeinen Regelung in § 44 BNatSchG (vgl. Rieger, NVwZ 2023, 1042, 1044). Die gesetzliche, allein an Brutplätze anknüpfende Konkretisierung in § 45b BNatSchG beansprucht für diesen Fall keine Geltung (vgl. etwa OVG NRW, Urt. v. 29.11.2022 - 22 A 1184/18 -, juris, Rn. 194; Hendrischke, NVwZ 2023, 965, 969). Das ergibt sich hinreichend deutlich schon aus der Entstehungsgeschichte dieser Norm (vgl. BT-Drs. 20/2354, S. 25) und wird durch die geplante künftige Rechtsentwicklung unterstrichen. So werden in dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2023/2413 in den Bereichen Windenergie an Land und Solarenergie sowie für Energiespeicheranlagen am selben Standort (BT-Drs. 20/12785, S. 20) das zukünftige Prüfprogramm in Beschleunigungsgebieten für die Windenergie an Land und in der Anlage 3 im Einzelnen die "Regeln für Minderungsmaßnahmen" für die Planungsebene näher umschrieben, und zwar in "II.3.2 In Beschleunigungsgebieten für die Windenergie an Land" wie folgt:

"a) betriebsbedingte Tötung oder Verletzung von Vorkommen kollisionsgefährdeter europäischer Vogelarten und Arten, die im Anhang IV der Richtlinie 92/43/EWG aufgeführt sind, insbesondere von

aa) kollisionsgefährdeten Brutvogelarten (Einzelbrutpaare) nach der Anlage 1 Abschnitt 1 des Bundesnaturschutzgesetzes (§ 44 Absatz 1 Nummer 1 des Bundesnaturschutzgesetzes),

bb) kollisionsgefährdeten Brutvogelarten in Kolonien, Schlafplatzgemeinschaften oder sonstigen Ansammlungen (§ 44 Absatz 1 Nummer 1 des Bundesnaturschutzgesetzes)".

Dass "kollisionsgefährdete Brutvogelarten" wie der Rotmilan oder der Seeadler weiterhin von den beiden Hühnerfarmen mit Freilandhaltung zu (sonstigen) Ansammlungen angelockt werden, hat der Antragsgegner nachvollziehbar seiner angegriffenen Genehmigung zugrunde gelegt. U. a. bei Google maps im Internet zugängliche Luftaufnahmen zeigen zwar, dass das Gelände abweichend von dem oben eingefügten offenbar älteren Foto teilweise bepflanzt worden ist. Nachweise dafür, dass dadurch die Anziehungswirkung für Greifvögel wesentlich nachgelassen habe und für sie nunmehr kein signifikant erhöhtes Risiko mehr bestehe, deshalb durch sich drehende Rotoren der WEA der Beigeladenen geschlagen zu werden, fehlen aber.

Demnach wäre der Antragsgegner auch bei Anwendbarkeit des § 6 Abs. 1 WindBG weiterhin verpflichtet, Maßnahmen anzuordnen, mit denen diese Gefahr jedenfalls bis zur Grenze der Zumutbarkeit gemindert würde. Wie der Antragsteller schon in der Antragsschrift aufgezeigt hat und von den Vorschlägen, die die Beigeladene unterbreitet hat, unterstrichen wird, stehen Modelle zur Verfügung, anhand derer die Zeiten, in denen der Schutz durch Abschaltung am effektivsten ist, von der Genehmigungsbehörde ausgewählt werden können.

b) Das Artenschutzrecht, das der Antragsgegner somit bei der angegriffenen Genehmigung jedenfalls fehlerhaft angewandt hat, gehört zu den "umweltbezogenen Rechtsvorschriften" i. S. d. §§ 1 Abs. 4 Nr. 1, 2 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UmwRG.

Damit berührt der Verstoß auch Belange, die zu den Zielen gehören, die der Antragsteller nach seiner Satzung fördert (§ 2 Abs. 4 Satz 1 a. E. UmwRG). Im Übrigen bedarf es nach der unionskonformen "Auslegung" des § 2 Abs. 4 Satz 1 UmwRG durch das Bundesverwaltungsgericht ohnehin keines "spezifischen und unmittelbaren Bezugs des jeweiligen Rechtsverstoßes zu Umweltbelangen" (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.7.2018 - 7 B 15/17 -, juris, Rn. 19 a. E.; Senatsbeschl. v. 11.5.2020 - 12 LA 150/19 -, juris, Rn. 36, m. w. N.).

c) Nach § 80c Abs. 2 Satz 1 VwGO kann das Gericht einen Mangel des angefochtenen Verwaltungsakts außer Betracht lassen, wenn offensichtlich ist, dass dieser in absehbarer Zeit behoben sein wird. Diese Voraussetzungen für das "Ausblenden" der unter a) aufgezeigten "Mängel" sind hier nicht gegeben. Denn nach den Ausführungen unter a) aa) ist schon zweifelhaft, ob die angegriffene Neugenehmigung neben der Altgenehmigung überhaupt Bestand haben kann. Deshalb war es auch nicht angezeigt, mit einer Entscheidung in diesem Verfahren länger abzuwarten.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich im Einzelnen an den Nrn. 7 Buchst. g), 17 Buchst. b) der Streitwertannahmen der mit Bau- und Immissionsschutzsachen befassten Senate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).